Es fällt ihnen schwer abzuschalten, sich frei zu nehmen und sie arbeiten länger, als im Arbeitsvertrag geregelt ist: Arbeitssüchtige. Was bisher nur vermutet wurde, hat eine Studie nun bestätigt. Jeder zehnte Erwerbstätige ist betroffen. Menschen in speziellen Positionen sind besonders gefährdet …
Das Auto verbindet sich automatisch mit dem Diensthandy, beim Pendeln mit Zug und Bus werden die ersten Mails beantwortet oder per Teams mit den Kollegen der Tag organisiert und während der Laufrunde am Abend gibt es einen Wirtschaftspodcast auf die Ohren. Und wenn das Büro eh ein Teil der eigenen Wohnung ist – warum nicht noch schnell diese eine Anfrage nach Feierabend beantworten?
Es ist einfach, Beispiele zu finden, an welchen Stellen sich unser Arbeits- und Privatleben vermischen. Auf der einen Seite eröffnen die voranschreitende Entwicklung von Technologien und flexible Arbeitszeitmodelle neue Möglichkeiten für das, was wir als unsere Jobs verstehen. Gleichzeitig entstehen Risiken.
Beatrice van Berk und Dr. Daniela Rohrbach-Schmidt vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBb) sowie Professor Dr. Christian Ebner von der Technische Universität Braunschweig sind der Frage nachgegangen, wer überhaupt vom Phänomen Arbeitssucht betroffen ist. Dafür haben sie die Daten einer Erwerbstätigenumfrage des BiBb und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BaAuA) samt Zusatzbefragung ausgewertet. 8010 Erwerbstätige nahmen daran teil.
Workaholics gibt es seit Jahrzehnten
Das Arbeit süchtig machen kann, ist keine neue Erkenntnis. Bereits 1971 erschien das Buch „Confessions of a Workaholic“ des US-Psychologen Wayne E. Oates, der als einer der ersten exzessives Arbeitsverhalten mit dem Verhalten von Alkoholsüchtigen verglich. In Deutschland kam der Begriff einige Jahre später auf, als der Chefarzt einer Suchtklinik, Gerhard Mentzel, in einem Fragebogen einfach das Wort Alkohol durch Arbeit ersetzte.
Die Studie von Ebner, van Berk und Rohrbach-Schmidt ist die jüngste Datenanalyse für Deutschland. Das Ergebnis: Fast jeder zehnte Erwerbstätige arbeitet suchthaft. Damit liege Deutschland laut den Autoren im Durchschnitt internationaler Studien. Allerdings fand die Befragung zwischen Oktober 2017 und Mai 2018 statt – neue Entwicklungen wie das Pandemie-Homeoffice und räumlich verstreute Teams, die parallel noch Kinderbetreuung und Homeschooling erledigen müssen, sind noch gar nicht eingeflossen.
Krankheit oder Lebensstil?
Die Studie unterscheidet bewusst zwischen zwanghaftem, suchthaftem und exzessivem Arbeiten. Denn wer besonders hart und viel arbeitet, muss nicht im Sinne einer Erkrankung süchtig sein. Ein hohes Engagement kann auch Spaß machen und zufrieden stimmen. Abhängige und Süchtige sind dagegen eher unzufrieden mit ihrer Arbeit und ihrem Leben; es kann zu weiteren gesundheitlichen Problemen kommen.
Wer im Sinne der Studie exzessiv arbeitet, hat besonders lange Arbeitszeiten, ist besonders schnell und hat mehrere Aufgaben gleichzeitig in Bearbeitung. Zwanghaft wird es dann, wenn die Freude fehlt: die Betroffenen arbeiten, weil sie müssen. Ihre Aufgaben sind mit negativen Gefühlen verknüpft. Es fällt ihnen schwer, in der Freizeit abzuschalten und wenn sie sich mal eine Auszeit gönnen, nagt an ihnen das schlechte Gewissen. Treffen sowohl exzessive als auch zwanghaftes Merkmale zusammen, geht die Studie von einem Suchtverhalten aus.
Wer lenkt, leidet eher
In der Hinsicht spielt Führungsverantwortung eine besondere Rolle: Wer in seinem Job Verantwortung für andere trägt, neige eher zu exzessivem, zwanghaften und süchtigen Arbeitseinstellungen. Nur 44,1 Prozent der Befragten mit Führungsverantwortung sehen ihren Job gelassen. Und umso höher die Führungsebene, umso höher ist der Anteil derjenigen, die Abhängig von ihrer Arbeit sind. Von den 352 Befragten, die nach Definition der Studie in der oberen Führungsebene sind, zeigen fast 60 Personen Merkmale von süchtigen Verhalten.
Selbst und ständig grüßen Beamt:innen
Das selbstständige und Einzelunternehmer:innen seltener die Möglichkeit zum Abschalten und Delegieren haben, ist weder ein Geheimnis, noch eine Überraschung. In der Erhebung des suchthaften Arbeiten nach Beschäftigungsmerkmalen gaben 13,9 Prozent aller Selbstständigen Antworten, die auf ein suchthaftes Verhalten schließen lassen. Dagegen sind nur 9,5 Prozent der Angestellten betroffen. Und mittendrin, gegen alle alten Klischees, tauchen Beamte und Beamtinnen auf: Mehr als zehn Prozent von ihnen sind im Bereich des suchthaften Arbeitens.
Betriebsräte wirken schützend
In der Studie zeichnete sich kein (deutlicher) Unterschied zwischen Angestellten mit einem befristeten (10,3 %) und einem unbefristeten (9,4 %) Arbeitsverhältnis ab. Prägnanter scheinen dagegen die Betriebsmerkmale das Arbeitsverhalten und -empfinden zu beeinflussen: Die Studienautoren fanden signifikante Unterschiede zwischen kleinen Betrieben mit weniger als zehn Mitarbeitenden und solchen, in denen über 250 Angestellte beschäftigt sind. In den kleinen Betrieben arbeiten überdurchschnittlich viele Personen suchthaft (12,3 %). Für die großen Betriebe ermittelten sie einen Unterschied zwischen jenen, in denen es einen Betriebsrat gibt, und solchen, in denen die Mitarbeiter:innen wenig Möglichkeiten zur Mitbestimmung haben. Ihre Vermutung: Betriebs- und Dienstvereinbarungen können regulierend auf exzessives und zwanghaftes Arbeiten wirken und Mitarbeitende davor schützen, an ihrer Arbeit zu erkranken.
Grüne Berufe sind besonders betroffen
Nur ein kleiner Teil der Befragungsteilnehmer war in der Land- oder Forstwirtschaft oder im Gartenbau tätig. Die gegebene Antworten aber haben dazu geführt, dass ihr Berufsbereich besonders hervorsticht: Nur 38 Prozent der sogenannten „grünen Berufe“ erleben ihre Erwerbstätigkeit gelassen. Die übrigen arbeiten exzessiv, zwanghaft und 19 Prozent sogar suchthaft. In keiner anderen Branche ist die Zahl der Arbeitssüchtigen so hoch.