Frau Amann, was genau bedeutet Resilienz?
In der Lage zu sein, mit Herausforderungen und potentiellen Krisen umzugehen. Das heißt, nach den Belastungen wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzufallen – im besten Fall ist damit noch ein Reifungs- und Wachstumsprozess verbunden.
Warum müssen Unternehmen heute resilient sein?
Seit gut 20 Jahren haben wir mit der Digitalisierung zu tun – gerade jetzt spüren wir, wie das Thema Fahrt aufnimmt und die Geschwindigkeit ansteigt. Wir haben immer mehr nichtlineare Prozesse zu steuern und dadurch steigen die Anforderungen.
Geht die moderne Arbeitswelt generell mit einem höheren Stresslevel einher?
Das kommt drauf an. Es gibt Anteile in uns, die sich gerne neuen Herausforderungen stellen und die es lieben, wenn etwas nicht vorhersehbar ist. Diese sind aber nicht bei jedem gleich ausgeprägt. Stark vertreten sind diese bei Menschen, die Gefahr laufen, in klassischen linearen Unternehmen unter einem Boreout zu leiden, weil sie gelangweilt und in ihrer Kreativität und Potentialentfaltung nicht genügend gefragt sind.
Aber nicht jeder stellt sich gerne neuen Herausforderungen?
Genau. Für viele bedeuten die Flexibilisierung und die vielen Change-Prozesse und hohen Adaptionsprozesse auch eine totale Überforderung und im schlimmsten Fall ein Burnout – sie brauchen von ihrer Persönlichkeitsstruktur Stabilität und Struktur.
Wie wirken Stresssoren im Unternehmen?
Es lassen sich sechs verschiedene Stressmuster unterscheiden, die bei Mitarbeitern unterschiedlich ausgeprägt sind. Drei davon sind kognitiv – diese Menschen haben hohe analytische, werteorientierte oder ruhige Anteile und sind in ihrer Leistungsfähigkeit stark davon abhängig, dass sie kognitiv gut funktionieren. Das sind eher traditionelle Anteile, die wir natürlich als Land der Ingenieure bislang gut gepflegt haben – darauf basiert unsere ganze Wirtschaft. Schon in der Schule und der Uni werden diese Anteile trainiert – das sind dann Experten, die mit klar kalkulierbaren Arbeitskontexten super klarkommen, mit Unberechenbarkeit und Flexibilität aber weniger. Vor allem in meiner Babyboomer-Generation sind diese Anteile stark vertreten.
Wie steht es um die weiteren drei Stressmuster?
In der Generation Y erleben wir immer mehr die anderen drei Anteile: den aktiven, den kreativen und den emotionalen. Die mögen Arbeiten in Gruppen, Großraumbüros und suchen sich immer wieder neue Inspirationsquellen – junge Leute kommen in ein Unternehmen, um neue Dinge zu lernen und nicht, um diese abzuarbeiten. Resilienzarbeit im Unternehmen bedeutet dann, zwischen den Bedürfnissen im System nach Stabilisierung oder Agilität einen Spannungsausgleich zu schaffen.
Reagieren Menschen also unterschiedlich auf Belastungen?
Genau. Bei stark ausgeprägten kognitiven Anteilen wird mehr Zeit gebraucht, um Arbeit zu erledigen – der Maßstab ist häufig Perfektionismus. Für die neue Generation, die eher handlungs- und veränderungsaktiv ist, reicht Prototyping – dann wird erstmal Feedback vom Kunden eingeholt. Fest steht, dass wir beide Arbeitskulturen brauchen. Oft sind das Doppelspitzen – ein Firmengründer hat beispielsweise kreative und aktive Anteile und bringt die Ideen und dahinter sitzt jemand, der auf die Zahlen und die wirtschaftliche Situation schaut.
Welche Probleme sind damit verbunden, wenn verschiedene Arbeitskulturen aufeinandertreffen?
Vor allem Überforderung – weil die Stressmuster eben unterschiedlich reagieren. Wenn jemand, der Ruhe, Ordnung und Struktur braucht, zum Beispiel permanent in unvorhersehbare Situationen gestoßen wird, hat er oft nicht die Tools dafür. Das sind Lernprozesse, die von den Mitarbeitern häufig aber nicht so schnell umgesetzt werden können, wie es die Industrie gerade einfordert. Solche Mindset-Veränderungen haben viel mit dem Körper zu tun und brauchen Zeit …
Inwiefern?
Wenn das Stresssystem des Körpers angespannt ist, weil jeder Fehler als Stress bewertet wird und keine ordentliche Fehlerkultur vorgelebt wird, braucht ein System wesentlich länger, um sich daran zu gewöhnen. Es ist viel Aufklärung nötig, damit ein Perfektionist lernt, dass in der neuen Arbeitswelt 80 Prozent reichen. Diese Zeit haben Firmen aber oft nicht und dann brechen die Mitarbeiter zusammen, weil sie immer mehr leisten wollen und ihre psychologischen Bedürfnisse nicht mehr abdecken können.
Das heißt, nicht nur äußere Einflüsse, sondern auch die Differenzen zwischen den Arbeitskulturen können in einem Unternehmen Stress auslösen?
Genau. Dabei geht es um die Art und Weise, wie wir miteinander arbeiten. Oft empfinden wir das, was andere gut finden, als Störung, weil es uns in unserem energetischen Ablauf stört. Resilienz ist dann die Toleranz gegenüber diesen Störungen.
Mit welchen Maßstäben kann Resilienz gemessen werden?
Ein resilienter Mensch ist auch in kritischen Situationen entscheidungsfähig. Er behält seine Gestaltungskraft und ist nicht gleich überfordert – und genau das braucht die Wirtschaft. Jemand, der resilient ist, läuft nicht vor Problemen weg, sondern versucht sie durch achtsame Kommunikation mit anderen zu klären – dabei schaut er aber nicht zu lange nicht auf das Problem, sondern sucht schnell nach Lösungen.
Wo können und müssen Unternehmen für eine organisationale Resilienz ansetzen?
Das Unternehmen braucht eine gewisse Toleranz. Das geht einher mit der Schaffung von sozialer Sicherheit. Unternehmen haben einen enormen Vorteil, wenn sie eine gute Balance zwischen modernen und agilen Dynamiken schaffen und gleichzeitig genug Stabilität und Sicherheit bieten. So schaffen sie Diversität und geben den verschiedenen Qualitäten der Mitarbeiter Raum.
Das heißt, die organisationale Resilienz hängt von der individuellen ab?
Im Prinzip stimmt das. Wenn die Idee der Resilienz beispielsweise in der Geschäftsführung gut verankert ist, bricht es sich von oben nach unten leichter herunter. Bei einer Führungskraft, die resilient ist, können sich Mitarbeiter mehr abgucken, als wenn es nur auf einer Nice-to-have-Tafel steht. Wenn der Chef aber trotzdem immer bis abends um zehn Überstunden macht, kann das System daraus nicht lernen …
Das klingt nicht ganz einfach …
Das stimmt. Wenn es um Resilienz geht, geht es nicht nur um Diversität, sondern auch um Ressourcen und Backup-Systeme. Die wurden in der Wirtschaft in den letzten Jahren aber eher abgekappt. Möchte ein Unternehmen resilient sein, muss es sich zunächst wieder breiter aufstellen.
Sie sind Beraterin, Coach, Speakerin, Autorin und gleichzeitig noch Geschäftsführerin der Stiftung ResilienzForum und waren Vorstandsmitglied des Internationalen Verbandes für organisationale Resilienz. Das klingt nach viel Stress. Sind Sie resilient?
Über die Jahre ist meine Resilienz gewachsen. Das geht aber nur, weil ich mich auch wirklich darum kümmere und weiß: Ich kann immer nur eine der von Ihnen aufgezählten Sachen machen. Multitasking ist eine Illusion – Resilienz bedeutet auch, dass man sich manchmal von etwas trennen muss. Das ist eine dynamische Entwicklung.