18. Oktober 2016
Aus der Region

„Frauen-Netzwerke sind belastbarer“

Christine Sehle aus dem Vorstand der Wirtschaftsfrauen Region Braunschweig über das Zusammenspiel von Geschlecht und Karriere, das Paretoprinzip und die mächtigste Bank der Welt

Christine Sehle (Marketing & Kommunikation – Auf den Punkt). Foto: Taylor-Photography

Frau Sehle, welche Rolle spielt das Geschlecht heute bei der Frage, ob jemand Karriere macht oder nicht?

Immer noch eine bedeutende; die Akzeptanz von Frauen als Führungskräften ist größer geworden, aber noch nicht in jeder Branche angekommen, zum Beispiel in technischen Berufen. Was mir aber wichtig ist: Nicht jede Frau muss Mutter werden. Und nicht jede Frau muss, weil sie keine Mutter ist, Karriere machen. Das ist eine individuelle Lebensentscheidung. Auch Männer sind nicht zwangsläufig prädestiniert, Führungskraft zu werden oder Karriere zu machen.

Frauen sind in Führungspositionen auch hier in der Region noch immer unterrepräsentiert …

Das liegt vielleicht auch daran, weil die Generation von Frauen, die mit einem anderen Selbstverständnis als ihre Mütter die Ausbildung absolviert haben, erst in den kommenden Jahren auf höheren Positionen zu finden sein wird. Niemand kommt von der Uni und wird Abteilungsleiterin. Berufliche Qualifikationen muss man sich genauso erarbeiten, wie menschliche.

Welchen Gefühlszustand löst die geringe Frauenquote in Führungspositionen bei Ihnen aus?

Das muss sich ändern, natürlich. Es ärgert mich, aber spornt auch an: Ich kann nichts kritisieren und selbst zurückschrecken, wenn man mich fragt. Frauen müssen lernen, auch dann „Ja“ zu sagen, wenn sie denken, für den Job/das Projekt nicht hundertprozentig qualifiziert zu sein. Frei nach dem Paretoprinzip, der 80-zu-20-Regel, die besagt, dass 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20 benötigen mit 80 Prozent die meiste Arbeit. Bei Frauen verhält sich das oft umgekehrt …

Sind Ihnen die politischen Anstrengungen beim Thema Gleichstellung groß genug?

Jein. Wenn man bedenkt, dass noch bis in die 70er Jahre Frauen ihre Ehemänner um Erlaubnis fragen mussten, ob sie arbeiten gehen dürfen, hat sich viel getan …

… aber?

Denkt man an die Frauenquote, die in Deutschland rund 100 Unternehmen verpflichten soll, 30 Prozent mehr Frauen einzustellen, so sind das gerade einmal 33 Frauen, um deren Karriere politisch debattiert wird. Das wirkt lächerlich und bewirkt das Gegenteil. Was wirklich Not tut, ist die gleiche Bezahlung für die gleiche Leistung! Da ist sehr großer Nachholbedarf!

Kann unsere Volkswirtschaft es sich eigentlich leisten, dauerhaft einen Großteil ihrer Fach- und Führungskräfte zu benachteiligen?

Nein.

Wie ist Ihre persönliche Perspektive auf die gegenwärtige Gender-Debatte?

Aussteigen aus dem Geschlechterrollenspiel: Professx statt Professorin – im Machtgefüge nicht mehr als Frau gesehen zu werden, sondern als neutrales und qualifiziertes „X“. Nonsens!

Auch bin ich kein „Elter“, weil ich 50 Prozent einer Erziehungseinheit bin. Kein Wunder, dass „man“ dann denkt, „die ollen Feministinnen, die Frauen nerven mal wieder“.

Und aus Textersicht?

Das Verfassen eines Textes, entweder mit dem X-Faktor oder den beliebten „-innen“ in mannigfaltiger Schreibweise, ist nicht lesefreundlich …

Bei jungen Frauen scheint das Thema immer weniger zu verfangen. Verliert die ehemals ideologisch aufgeladene Debatte zu früh an Schwung oder ist es an der Zeit für mehr Gelassenheit?  

Manche junge Frauen vergessen, dass sie heute nicht so frei leben könnten, wären ihre Vorfahrinnen nicht auf die Barrikaden gegangen. Ich kenne auch Abiturientinnen, die sich tatsächlich nach einem Mann mit Heim sehnen und gar keine Ausbildung absolvieren möchten – fatal.

Welche Bedeutung haben Frauennetzwerke wie Ihres als Gegenpol zur Dominanz der Männer in Führungsetagen?

Eine große. Wir fördern uns gegenseitig, öffnen Türen, nutzen unsere Beziehungen für andere. Und: Wir zeigen uns gegenseitig auf, wo unsere Selbstboykotts liegen und machen uns Mut, öfter „Ja“ zu Herausforderungen zu sagen.

Was können Frauen in Sachen Networking von Männern lernen?

Frauen von den Männern: Offen Wünsche formulieren, eindeutige Ziele nennen, konkret fragen, bewusst wichtige Personen ansprechen, das eigene Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.

Und umgekehrt?

Frauen-Netzwerke sind belastbarer. Frauen geben mehr Input an ihr Gegenüber als Männer, ganz im Sinne der sog. „Gefälligkeitsbank“: Das ist die mächtigste Bank der Welt; sie ist allgegenwärtig. Eine Investition bei der Gefälligkeitsbank ist eine Risikoinvestition …

… weil unklar ist, ob sie Rendite erwirtschaftet?

Hier würde ich gern Paulo Coelhos „Der Zahir“ zitieren: „Ich mache ein paar Einzahlungen auf Ihr Konto –  Einzahlungen, die nicht aus Geld bestehen, sondern aus Kontakten […] Sie wissen, dass Sie mir etwas schulden, obwohl ich nie etwas verlange. Ein Risiko, das es sich einzugehen lohnt.“


Wer sind Ihre Mitglieder?

Unsere Vereinsfrauen, hoppla, wieder so ein Wort – Mitglieder – kommen aus diversen Branchen und Betriebsgrößen: Die meisten sind Unternehmerinnen und Freiberuflerinnen, die allein arbeiten oder bis zu zwei Angestellte haben. Die Branchen reichen von Fach-Rechtsanwältinnen, Coaches für Führungskräfte, Unternehmensberaterinnen, Heilpraktikerinnen diverser Fachrichtungen bis in den Kreativbereich.

Was macht Ihr Vereinsleben aus?

Uns gibt es seit über fünf Jahren – und das macht uns stolz! Wir gehören keinem Cluster an, sind kein Chapter oder führen unsere Beiträge an einen Mutterverein ab. Alles das, was wir geschafft haben, haben wir selbst aufgebaut. Wir haben rund 400 Leserinnen, die unseren monatlichen Newsletter beziehen. Alle zwei Jahre organisieren wir einen Fachkongress …

… zu dem Sie dieses Jahr Marion Knaths eingeladen haben. Warum ist Sie das richtige prominente Gesicht?

Weil sie die Tücken und Fallstricke einer Karriere als Frau in einem großen Konzern durchlebt hat – und mit einer sehr unterhaltenden Art typisch weibliche Fehler anprangert, doch dabei auch aufzeigt, wie „Frau“ auf typisch männliche Verhaltensmuster gut reagieren und diese aushebeln kann. Außerdem ist sie eine Koryphäe auf ihrem Gebiet und deshalb auch ein „Vorbild“ – und zugleich ist sie nicht verbittert, sondern provoziert Frauen eher mit einem „Machen, nicht jammern“. Sehr sympathisch!

Was können die Besucher auf Ihrem 3. Kongress sonst noch erwarten?

Motivation! Alltagstaugliche Tipps und Praktiken, das ist uns sehr wichtig. Fazit aller bisherigen Veranstaltungen war, dass das Erfahrene am nächsten Tag umgesetzt werden konnte. Außerdem: Fachlicher und zwischenmenschlicher Austausch in gelockerter Atmosphäre bei köstlichem Catering in schönem Ambiente.

 

Mehr Informationen zu den Wirtschaftsfrauen der Region Braunschweig und ihrem 3. Fachkongress am 12. November in der Welfenakademie finden Sie unter:
www.wirtschaftsfrauen-region-braunschweig.de

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