In der Flüchtlingskrise wünscht sich Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) eine klare Haltung des Bundes. Die Kommunen gäben alles, das Land auch. „Wir können sagen, ja wir schaffen das im Jahr 2015“, sagt Weil im Interview mit Armin Maus, Michael Ahlers und Andre Dolle.
Herr Ministerpräsident, es sind ja ungewöhnliche Zeiten für einen Ministerpräsidenten gerade in Niedersachsen. Wie kommen Sie mit der Belastung klar?
Ich kann nicht über Langeweile klagen, aber persönlich geht es mir gut. Ich schlafe gut. Aber das letzte Vierteljahr war schon speziell. In der Politik gibt es ja immer mal Krisen, die Weltfinanzkrise 2008/2009 beispielsweise. Aber dass wir mit den Flüchtlingen und VW zwei Riesen-Herausforderungen gleichzeitig haben, das habe ich noch nicht erlebt. Und das muss sich auch nicht so schnell wiederholen.
Beim Thema Flüchtlingskrise haben Sie ja auch noch Ärger mit Ihrem Koalitionspartner, den Grünen. Niedersachsen konnte im Bundesrat dem Asylkompromiss nicht zustimmen, weil die Niedersachsen-Grünen dagegen sind. Da waren Sie doch sicher sehr unzufrieden, die Regelungen hatten Sie und Ihr Innenminister doch maßgeblich mitverhandelt?
Mit dem Binnenklima in der Landesregierung bin ich sehr zufrieden. Wir hatten in der Tat eine Kontroverse, fast alle anderen rot-grünen Länder haben dem Asylkompromiss zugestimmt. Ich gehe aber fest davon aus, dass das eine Ausnahme bleibt. Wir arbeiten gut zusammen.
Wie zufrieden ist denn der niedersächsische Ministerpräsident überhaupt mit der Situation? Die niedersächsischen Kommunen müssen mit einer hohen Einwanderung zurechtkommen, das Land mit seinen Erstaufnahme-Einrichtungen ja nicht minder.
Auf der Bundesebene fehlt mir nach wie vor ein Konzept in Sachen Flüchtlinge. Die Kommunen geben alles, das Land auch. Wir können sagen, ja wir schaffen das im Jahr 2015. Wir schaffen das aber ehrlich gesagt nur mit Ach und Krach. Ich kann mir schwer vorstellen, dass es mit diesem Druck auf unabsehbare Zeit so weitergehen kann. Als ich in den Sommerurlaub ging, war die offizielle Prognose 400 000 Flüchtlinge für Deutschland, als ich wiederkam, lautete sie 800 000. Heute wissen wir, auch das war eine Untertreibung.
Was erwarten Sie denn vom Bund?
Wir brauchen zunächst mal eine klare Haltung. Der Bundespräsident hat gesagt, wir wollen helfen, unsere Herzen sind weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Das ist der richtige Maßstab und mir persönlich sehr viel sympathischer als der Satz „wir schaffen das“. Deutschland wird das europäische Problem nicht alleine lösen können.
Die erste Ebene, auf der etwas passieren muss, ist die Weltinnenpolitik, sozusagen der erste Kreis. Wenn in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens die Lebensmittelrationen halbiert werden, dann machen sich Leute auf den Weg und landen unter anderem auch in der norddeutschen Tiefebene. Das muss rückgängig gemacht werden und darf nie wieder passieren.
Dann kommt Europa, der nächste Kreis. Als die Griechen und Italiener seinerzeit sagten, wir können die Flüchtlinge nicht mehr aufnehmen, ist ihnen von Deutschland auch nicht besonders nachhaltig geholfen worden. Wir lernen also: Man muss sich gegenseitig helfen.
Wir müssen in allen europäischen Staaten zu großzügigen Kontingenten für Bürgerkriegsflüchtlinge gelangen. Dazukommen müssen eine Sicherung der EU-Außengrenzen und eine Kette von gut ausgestatteten Auffanglagern entlang der Flüchtlingsrouten unter internationaler Regie. Das Grundrecht auf Asyl für individuell verfolgte Menschen ist übrigens nicht verhandelbar.
Und was muss Deutschland noch tun?
Wir müssen bei den Verwaltungsverfahren wesentlich besser werden. Der Bundesinnenminister sollte nicht jede Woche mit einem neuen Vorschlag aufwarten, sondern in seinem eigenen Geschäftsbereich die Hausaufgaben erledigen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist mit seinem nach wie vor enormen Personalmangel eher ein Strohhalm als der vielzitierte Flaschenhals. Und dann wird uns natürlich die gewaltige Aufgabe Integration auf viele Jahre massiv fordern. Hierfür brauchen wir eine große gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden.
Wie soll das in Niedersachsen finanziert werden? Das Geld aus Berlin reicht ja nicht.
Dazu nur ein paar Zahlen: 2014 haben wir als Land 170 Millionen Euro für Flüchtlinge ausgegeben, in diesem Jahr rund 620 Millionen, im nächsten geschätzt rund 1,3 Milliarden. Würde es so weitergehen, wird das Einhalten der Schuldenbremse sehr schwierig (ab 2020 gilt ein Neuverschuldungsverbot für die Bundesländer, die Red.). Wir geben uns alle Mühe, die Kommunen zu entlasten, mit 10 000 Euro pro Flüchtling und Jahr. Das ist ein Riesenschritt. Vom Bund erhalten wir im kommenden Jahr 354 Millionen. Das ist weniger als ein Drittel der Gesamtkosten. Im Moment bekommen wir das noch gut hin. Aber dass wir die erste Landesregierung sein werden, die vorzeitig einen Landeshaushalt ohne Kreditaufnahme vorlegen wird, diese Sicherheit kann ich derzeit nicht vermitteln. Da hat sich fundamental etwas verändert. Die Schuldenbremse ist aber aus guten Gründen geltendes Verfassungsrecht.
Der Eindruck, dass es durch zu viele Flüchtlinge zu einer Überlastung kommt, ist in Braunschweig Tagesgespräch. Kralenriede ist eine Landeseinrichtung. Wie nehmen Sie das wahr?
Ich war ja dort, und ich habe jedes Verständnis für die Anwohner, die den Eindruck haben, es sei keine gute Entwicklung. Ich muss dafür um Verständnis bitten. Wir mussten Krisenmanagement unter Hochdruck leisten. In den zentralen Brennpunkten wie Kralenriede, aber auch Friedland und Bramsche haben wir inzwischen eine gewisse Entlastung erreicht und ich möchte, dass das so weitergeht. Was die Sicherheit angeht, wissen wir durch die Aktivitäten der Braunschweiger Polizei ja ziemlich gut Bescheid. Natürlich leidet das subjektive Sicherheitsgefühl.
Es gab Einbrüche und Diebstähle …
Das ist auch nicht wegzureden. Insgesamt sagt uns die Polizei aber, die Lage ist unauffällig.
Wie geht es weiter?
Ich glaube, der Staat muss im nächsten Jahr Vertrauen zurückgewinnen, was seine Handlungsfähigkeit angeht. Und zeigen, dass auch viel getan wird für die sozial schwächeren Menschen, die bislang in Deutschland leben. Wir brauchen zum Beispiel einen deutlichen Ausbau der Förderung von Wohnraum, nicht nur für Flüchtlinge.
Der Ausbau der A39 befindet sich nicht im „vordringlichen Bedarf plus“. Heißt das, dass die Region noch ewig darauf warten wird?
Meine Erwartung ist, dass es mit der A 39 weitergehen wird, Bauabschnitt für Bauabschnitt. Ob schon jetzt der gesamte Lückenschluss fix gemacht werden kann, weiß ich nicht. Da muss man auch noch die Ergebnisse der Kosten-Nutzen-Analysen abwarten. Ich bin aber zuversichtlich, dass die A 39 Fortschritte im nächsten Bundesverkehrswegeplan machen wird. Wir kämpfen sehr dafür.
Wie geht es mit der Kommunalreform weiter?
Wir brauchen dafür Einigkeit in der Region. Würde Hannover jetzt einen Masterplan auf den Tisch legen, wäre sich das Braunschweiger Land in 24 Stunden einig, dass es so gerade nicht geht. Ich setze darauf, dass die Region Schritt für Schritt zusammenwachsen wird.
Im nächsten Jahr werden wir den Zweckverband Großraum Braunschweig stärken, das ist ein Meilenstein. Dass nun ausgerechnet aus Hannover der Plan für das Braunschweiger Land vorgelegt wird und alle dem folgen würden, das sehe ich nicht.
Es muss doch aber mal was kommen, der Landkreis Helmstedt wird doch nicht über Nacht gesunden.
Bei Helmstedt besteht in der Tat Handlungsbedarf, da sind wir noch nicht weitergekommen. Die Erwartungen an eine gemeinsame Gebietskörperschaft aber sind übertrieben. In der Region Hannover hat der Prozess 30 Jahre gedauert. Auch da ging es über den Zweckverband. Und im Braunschweiger Land ist es deutlich schwieriger, da gibt es mehrere große Städte.
Drei Oberbürgermeister der Region kämpfen beim Land für mehr Geld für den Nahverkehr. Da passiert nicht viel, oder?
Das ist ein falscher Eindruck. Wir wollen bei der Neuverteilung der Mittel für den ÖPNV seitens des Bundes als westdeutsche Länder nach 25 Jahren Einheit auch die bei uns herrschende strukturelle Unterfinanzierung in den Blick nehmen.
Da wird es Verbesserungen geben. Und dann steht insbesondere auch die Verbesserung des ÖPNV-Angebots in der Region Braunschweig an.
Das heißt, die Region bekommt anteilig mehr?
Es geht uns darum, das Angebot hier zu verbessern. Das ist klar. Wenn man mehr Geld verteilen kann, ist das leichter.
Dieser Artikel ist am 03.12.2015 in der Braunschweiger Zeitung erschienen. Weitere Nachrichten und alles Wissenswerte aus Braunschweig, Wolfsburg und der Region38 finden Sie auf
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