und
2. Februar 2023
Entscheider

Dagmar Schlingmann: „Wir zeigen, die Welt ist veränderbar“

Die Generalintendantin des Staatstheater Braunschweig im Interview

Generalintendantin Dagmar Schlingmann leitet seit 2017 das Staatstheater Braunschweig. Foto: Holger Isermann

Welche Bedeutung hat Kultur in der Gesellschaft? Darüber wurde in den vergangenen Pandemie-Jahren häufig debattiert. Kulturschaffende saßen gemeinsam mit Politiker:innen und Wirtschaftenden in den Talkshows von Lanz, Will und Co. und diskutierten über gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die Kraft der ästhetischen Ausdeutung von Zuständen und allen voran über Einschränkungen im alltäglichen Betrieb. Kultur ist mehr als Unterhaltung und Freizeitgestaltung. Sie ist das Bindeglied der Gesellschaft, das Diskurse durchbrechen und maßgeblich gestalten kann.

Davon ist auch Dagmar Schlingmann überzeugt. Seit 2017 ist sie Generalintendantin am Staatstheater Braunschweig – einem Ort voller Geschichte. Es gilt als erstes öffentliches Mehrspartenhaus Deutschlands. Hier wurden 1772 Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ und 1829 Johann Wolfgang von Goethes „Faust – der Tragödie erster Teil“ uraufgeführt. Der ursprüngliche Betrieb ist heute längst professionalisiert. Rund 35 Premieren und zehn Sinfoniekonzerte finden hier in einer Spielzeit statt. Neben dem Großen Haus gehören auch das Kleine Haus sowie das Aquarium im Oberen Foyer des Kleinen Hauses zu den Spielstätten. In den Sommermonaten findet zudem das traditionelle Open Air vor der Kulisse des Burgplatzes statt. „Für meinen Geschmack produzieren wir derzeit beinahe zu viel“, sagt Schlingmann. Denn das Theater muss mit dem Zeitgeschehen gehen – auch wenn es um die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen geht.

Als wir das imposante Gebäude im Steinweg an diesem Montagnachmittag durch den Bühneneingang betreten, herrscht hinter den Kulissen emsiges Treiben. Bühnenbilder und -technik werden abgebaut, die Vorbereitungen für die nächste Aufführung getroffen. Im Treppenaufgang lehnt ein Pappschild an der Wand. „Lützi bleibt“ steht darauf in blauen Druckbuchstaben geschrieben. Damit sind wir sogleich im Thema. Wie politisch müssen ein Theater und seine Belegschaft sein? Mit welchen Generationenfragen sieht sich der Kulturbetrieb konfrontiert? Und welche Bedeutung wird das Theater in Zukunft haben?

Wie schrieb Goethe noch einst? „Die Kunst ist lang! Und kurz ist unser Leben.“ Also, Bühne frei …

Dagmar Schlingmann wusste schon früh, dass ihr Weg sie ans Theater führt. Foto: Holger Isermann

Frau Schlingmann, in einem früheren Interview haben Sie uns verraten, dass Sie schon mit drei Jahren wussten, dass Sie ans Theater gehören. Wie kam es dazu?
Mir wurde dieser Wunsch in die Wiege gelegt. Meine Eltern waren Theatergänger, besuchten leidenschaftlich gerne Musiktheater und hatten ein Abo, wie es sich für bürgerliche Familien gehörte. Meine beiden Schwestern und mich haben sie hin und wieder mitgenommen. Dort traf ich auf eine eigene Welt, in die ich mich hineinversetzen konnte. Deshalb wollte ich mit drei Jahren unbedingt Opernsängerin werden.

Wie hat sich dieser Wunsch bemerkbar gemacht?
Meine Schwestern und ich haben uns häufig verkleidet und gespielt. Unser Wohnzimmer wurde zur Bühne und der umgedrehte Tisch zum Schiff – Kinder haben eine tolle Phantasie. Später hat mich der Tanz fasziniert und mit sieben Jahren stand für mich fest, dass ich Tänzerin werde.

Können Sie sich noch an ein Stück erinnern, das Sie besonders geprägt hat?
Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal Tosca gesehen und fürchterlich geweint habe, weil es so bewegend war. Lange beschäftigt hat mich außerdem Don Carlos. Wir besuchten das Stück mit der Schulklasse und ich verstand überhaupt nichts. Das hat mich damals sehr geärgert, weil ich ein ehrgeiziges Kind war. Anschließend habe ich mir die Texte besorgt und bin sie Wort für Wort durchgegangen. Das war die Initialzündung für die Liebe zum Schauspiel und auch zu Friedrich Schiller.

Was hat Sie daran fasziniert?
Was Sprache auszudrücken vermag, ihre Gestalt und die Inhalte.

Den Weg auf die Bühne haben Sie über viele Jahre verfolgt. Mit 18 Jahren besuchten Sie sogar eine Tanzakademie in Köln …
Diesen Weg musste ich verlassen, als meine Knie nicht mehr mitgemacht haben. Heute bin ich ganz froh darüber, weil ich die körperlichen Voraussetzungen für den Beruf nicht habe. Mein Weg sollte hinter die Kulissen führen.

Was war das für ein Gefühl, als Sie feststellten, dass Sie Ihren Lebenstraum nicht verfolgen können?
Das war eine echte Krise, denn von einem Tag auf den anderen war Schluss. Rückblickend betrachte ich diese Zeit auch als wahnsinnig interessant. Ich war gerade einmal 18 Jahre alt, mit der Schule fertig, raus aus dem Elternhaus und hing in einem luftleeren Raum. Dem Theater wollte ich dennoch treu bleiben und habe schließlich Theaterwissenschaften studiert, um Regisseurin zu werden. Das war damals eine gewagte Entscheidung, denn es gab in Westdeutschland kaum Frauen in diesem Beruf.

Mitte des 19. Jahrhunderts entstand der Theaterbau, heute Großes Haus, am Steinweg. Foto: B. Hickmann

Gab es Augenblicke, in denen Sie daran zweifelten, ob die männerdominierte Theaterwelt der richtige Ort für Sie ist?
Darüber habe ich viel in meinem Leben nachgedacht und Sie sind nicht die Ersten, die mich danach fragen. Tatsächlich war ich damals einfach naiv und habe diese Strukturen bis zu einem gewissen Grad ignoriert. Als Frau musste man wirklich kämpfen, durfte sich keine Schlappe erlauben. Deshalb bin ich zielstrebig meinen Weg gegangen, alles andere habe ich ausgeblendet.

Wie ist Ihnen das gelungen?
Es gab Augenblicke, in denen ich mich selbst infrage gestellt habe. Das gehört zum künstlerischen Wesen dazu. Aber ich konnte immer gut zwischen konstruktiver und dekonstruktiver Kritik unterscheiden und habe mir bewusst ausgesucht, von wem ich lernen möchte. Es gab damals keine Regieschulen in West-Deutschland. Nach Ostberlin kam man nicht, nach Salzburg wollte ich nicht. Im Grunde waren wir alle Autodidakten; wir mussten durch Regieassistenzen den Beruf erlernen.

Was war Ihnen dabei wichtiger: der Inhalt oder der Weg dahin?
Immer der Inhalt.

Am Braunschweiger Staatstheater sind Sie die erste Frau im Amt der Generalintendantin. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Ich war immer die erste Frau – an jedem Theater. Daran habe ich mich mit den Jahren gewöhnt. Ich war acht Jahre lang Regisseurin und zuletzt Schauspieldirektorin in Linz, als ich die Stelle der Intendantin in Konstanz annahm. Das war eigentlich nicht mein berufliches Ziel, aber aus Spaß habe ich mich damals beworben. Erst als in der Endrunde jemand im Publikum kommentierte, ich sei die Quotenfrau, hat mich der sportliche Ehrgeiz gepackt. Und ich war wohl überzeugend (lacht).

Erinnern Sie sich an eine besondere Feuerprobe in den ersten Jahren?
Einer meiner Lehrer riet mir damals, lieber Kostümbildnerin zu werden. Das sei doch ein schöner Beruf für eine Frau (lacht). Das hat mich aber nicht beeinflusst. An jeder meiner beruflichen Stationen gab es anfangs Menschen, für die es ungewohnt war, dass eine Frau an der Spitze des Theaters steht. Mein Anspruch ist es, mich über meine Arbeit zu beweisen. Ich bin keine, die in den Raum kommt und alle in Staunen versetzt. Ich brauche Zeit, um meine Ziele zu erklären, zu zeigen, wie ich mit den Menschen arbeite und zu überzeugen.

Glauben Sie, dass Sie in diese damals männerdominierte Theaterwelt klassisch weibliche Attribute eingebracht haben? Oder spielt das Geschlecht gar keine Rolle?
Vielleicht spielt es irgendwann keine Rolle mehr, aber meine Generation ist stark durch die Rollenmodelle, in die man hineingewachsen ist, geprägt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen stark nach innen wirken, integrativer sind und einen großen Wert auf Teamarbeit und eine gute Arbeitsatmosphäre legen. Das männerdominierte Theater war lange Zeit autoritär geprägt und man wollte dort vornehmlich nach außen wirken. Für mich hat es oberste Priorität, zunächst das Haus in Ordnung zu bringen. Dann strahlen wir auch nach außen.

Blick von der Bühne des Staatstheaters. Foto: Peter Eberts

In welchem Zustand haben Sie das Staatstheater Braunschweig damals vorgefunden?
Wir hatten große Probleme, die sich nicht nur über die Zeit meines Vorgängers, sondern weit zurückliegend angehäuft hatten. Der Sanierungsstau ist enorm. Die Technik ist veraltet, die Werkstatt entspricht nicht den aktuellen Standards und müsste dringend größer werden. Wir haben keine Montagehalle, die Bühnentechnik ist in die Jahre gekommen und wir müssen vieles noch per Hand machen. Das hätte ich damals nicht erwartet und es liegt viel Last auf meinen Schultern. Außerdem müsste das Theater für meinen Geschmack noch stärker in der Stadtgesellschaft verwurzelt sein, sodass eine Premiere automatisch zum gesellschaftlichen Treffpunkt wird. Wir sind zwar eine Landesinstitution, machen aber Theater für die Braunschweiger:innen.

Was zeichnet das Braunschweiger Publikum demnach aus?
Unser Publikum ist großartig und unglaublich begeisterungsfähig. Es braucht eine gewisse Gewöhnungszeit, bis Vertrauen gefasst wird, aber das ist in vielen Städten der Fall. Vor Corona waren wir auf einem wirklich guten Weg, mit den Menschen in den Austausch zu kommen und uns stärker in der Stadt zu vernetzen. Damit müssen wir jetzt teilweise von vorne anfangen.

War die Corona-Pandemie die bislang größte Bewährungsprobe in Ihrem Job?
Es war eine wahnsinnig belastende Zeit. Wir haben permanent versucht, neue Angebote zu schaffen und den Laden im wahrsten Sinne des Wortes zusammenzuhalten. Alles war ungewiss und unvorhersehbar. Normalerweise haben wir einen Planungsvorlauf von ein bis zwei Jahren. Doch in den Pandemie-Jahren hieß es von heute auf morgen: Ihr könnt öffnen. Mich hat diese Zeit extrem viel Energie gekostet. Man könnte meinen, dass nichts zu tun sei, wenn nicht gespielt wird, aber ich war jeden Tag hier vor Ort.

Wie würden Sie Ihre Rolle am Staatstheater beschreiben?
Ich führe das Theater gemeinsam mit dem Verwaltungsdirektor Stefan Mehrens. Mir ist das künstlerische Personal zugeordnet und ich bin für die inhaltliche Ausrichtung verantwortlich. Damit entwickle ich maßgeblich die Strahlkraft des Theaters mit. Natürlich bin ich auch Repräsentantin, eine Schnittstelle zwischen Innen und Außen. Das nimmt viel Zeit in Anspruch.

Wie viel kreative Leistung steckt in Ihrem Job? Und wie oft müssen Sie auf harte Zahlen und Fakten schauen?
Die Regie ist nach wie vor meine Leidenschaft – dafür erarbeite ich mir kreative Freiräume. Aber das wird zunehmend schwerer, denn der Management-Anteil ist stark gestiegen. Meine Generation hat diesen Beruf immer sehr idealistisch ausgeübt, nicht so sehr auf Arbeitszeiten geachtet. In den jüngeren Generationen ist das nicht mehr unbedingt der Fall – die Ansprüche an eine gesunde Work-Life-Balance verschieben sich und wir müssen dafür neue Konzepte erarbeiten. Das ist auch gut so.

„Ich möchte Perspektiven eröffnen, Aussichten geben
und auch mal eine schöne Geschichte erzählen, die gut ausgeht. Weil Zuversicht wichtig ist.“ Foto: Holger Isermann

Ist das eine politische Aussage oder ernst gemeint?
Die Debatten um die Machtstrukturen am Theater sind elementar. Früher fragte niemand, ob man noch ein Kind zuhause zu versorgen hat, die Leitung hatte schließlich das Sagen. Das war auch damals nicht in Ordnung. Ich selbst habe ein Kind mit Behinderung und stand schon an dem Punkt, dass ich mich fragte, ob ich meinen Job an den Nagel hängen muss. Die Antwort war eindeutig: Nein, das wäre fatal – davon hätte das Kind nichts und ich auch nicht. Ich habe letztlich einen Weg gefunden. Und was für mich möglich ist, muss ich meinen Mitarbeiter:innen auch ermöglichen.

Wozu führt das neue Verständnis von einer gesunden Work-Life-Balance auf der Bühne? Fehlt Ihnen Zeit für die Vorbereitung der Stücke?
Im Gegenteil, die Qualität wird besser, weil die Mitarbeiter:innen zufriedener und nicht zerrissen zwischen Kind und Beruf sind. Für meinen Geschmack produzieren wir derzeit sogar beinahe zu viel. Aus diesem Hamsterrad müssen wir ausbrechen. Aktuell prüfen wir deshalb, ob wir durch die Reduktion von Produktionen gezielter auf einzelne Stücke eingehen und differenziertere Arbeitszeiträume festlegen können.

Die Arbeitsbedingungen an Theatern sorgen immer wieder für Kritik. Insbesondere die einjährige Laufzeit des „Normalvertrag Bühne“ wird bemängelt, denn die künstlerische Flexibilität könne in Personalfragen schnell in Machtmissbrauch umschlagen, so der Vorwurf. Was entgegnen Sie?
Ich kann nur aus meiner Perspektive sagen, dass ich ein wahnsinnig treuer Mensch bin. Es gibt nur wenige Nicht-Verlängerungen hier im Haus, der Normalvertrag Bühne kann auch über zwei oder drei Jahre laufen und wird nicht gegen vermeintlich unliebsame Mitarbeiter:innen eingesetzt. Und grundsätzlich ist dieser Vertrag nicht ganz unwichtig …

Wie meinen Sie das?
Man muss immer beide Seiten der Medaille betrachten. Ein Ensemble soll die Gesellschaft abbilden. Wenn ich daran aber nichts ändern kann, komme ich in eine starre Situation. Außerdem ist es doch so: Künstlerische Berufe bedürfen einer gewissen Bereitschaft, ein anderes Leben zu führen. Wir werden immer abends und an Wochenenden spielen müssen. Und als Künstler:in entwickelt man sich nur weiter, wenn man Erfahrungen sammelt, an unterschiedlichen Häusern, in unterschiedlichen Ensembles. Mein Vertrag ist auch befristet.

Eine klassische Lebensplanung über einen längeren Zeitraum ist so nicht möglich …
Das stimmt. Und ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die mehr Struktur in ihrem Leben brauchen.

Schwächt das Ihre Attraktivität als Arbeitgeber?
Auch wir haben unter dem Fachkräftemangel zu leiden, allerdings mehr in Berufen wie Bühnenmeister:in oder -techniker:in, Schneider:in oder Maskenbildner:in. In den künstlerischen Berufen erhalten wir irre viele Bewerbungen. Wir werden sehen, wie sich die Nachwuchsgeneration dahingehend aufstellt.

Angst vor der Generation Z haben Sie nicht?
Die Forderungen an uns sind andere. Meine Generation war so begeistert, überhaupt am Theater zu arbeiten, dass wir erstmal alles in Kauf genommen haben. Die neuen Generationen sind selbstbewusster, taff und sprechen Dinge an. Am Ende muss sich eine Balance finden. Dieser Beruf ist aus meiner Sicht immer noch ein Geschenk und ich empfinde es als Privileg, künstlerisch rumspinnen ausprobieren zu können, auch mal die Zeit zu vergessen. Ich kann dabei nicht immer nach einer Stoppuhr leben, dafür ist unsere Arbeit zu wertvoll.

Kann man Schauspieler:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen klassisch führen, so wie Buchhalter:innen und Ingenieur:innen, oder gibt es im Spielbetrieb besonders viele schwierige Charaktere?
Die Menschen sind sehr unterschiedlich, aber in bestimmten Dingen eben auch nicht. Alle wollen an ihrem Arbeitsplatz zufrieden sein. Natürlich gibt es ein gewisses Maß an Extrovertiertheit und die Interessen sind sehr unterschiedlich, aber das macht die Arbeit umso spannender. Wir sind eine kleine Welt für sich; mit allen möglichen Facetten. Man hockt hier definitiv nicht in seiner kleinen Blase.

Gibt es nach all den Jahren eigentlich noch Situationen, in denen Sie Lampenfieber haben?
Schrecklich! Ich bin ein wahnsinnig aufgeregter Mensch (lacht). Und das nicht nur bei meinen eigenen Premieren. Ich trete gerne vor den Vorhang und spreche mit den Menschen, aber das Lampenfieber hört nie auf. Ehrlich gesagt habe ich eine wahnsinnige Bewunderung für die Darsteller:innen, die jeden Tag auf die Bühne und vor das Publikum treten können.

Wie gehen Sie mit schlechten Kritiken um?
Grundsätzlich halte ich Feedback für extrem wichtig. Es braucht eine Stimme von außen. Natürlich ist negative Kritik auch ein Ärgernis, man hat schließlich sechs, sieben Wochen intensiv gearbeitet und sein Herzblut in ein Stück gesteckt. Aber nicht jede Kritik trifft ins Mark. Kritiken sind höchst subjektiv und von manchen kann man etwas lernen, weil man merkt, dass sich Inhalte nicht so erzählen, wie ich man das vorstellet. Was mir missfällt, sind schlechte Recherchen oder wenn es gegenüber den Darsteller:innen beleidigend wird.

Braunschweig gilt als Theaterstadt – hier wurden unter anderem Faust und Emilia Galotti uraufgeführt. Außerdem gilt das Staatstheater Braunschweig als ältestes öffentliches Mehrspartentheater Deutschlands. Ist das über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt und was ist von dieser großen Historie noch übrig?
Von den vergleichbaren Häusern wie Darmstadt Kassel, Mainz oder Saarbrücken sind wir schon eines der größten..

Sie spielen also in der ersten Liga?
Dort würde ich eher die Bayerische Staatsoper, die Deutsche Oper Berlin oder das Berliner Ensemble einordnen. Allerdings sind das Einspartenhäuser. Unter den Mehrspartenhäusern spielen wir definitiv eine wichtige Rolle. Das spricht sich auch in der Theaterlandschaft rum.

Nach Corona-bedingter Pause fand vergangenes Jahr erneut das Burgplatz Open Air statt. Aufgeführt wurde Giuseppe Verdis Oper „Aida”. Foto: Martin Walz

Sind die Sparten demnach eine Chance oder eine Hypothek?
Das ist eine Chance, eindeutig! Aus der Mehrspartigkeit machen wir eine Qualität. Während der Corona-Pandemie haben wir intern einen Strategieprozess gestartet und wollen zukünftig verstärkt Projekte über alle fünf Spartengrenzen hinweg produzieren, also gemeinsam mit dem Musiktheater, Schauspiel, Tanztheater, JUNGES! Staatstheater und dem Staatsorchester. So ist auch das aktuelle Ringprojekt entstanden. Bei der noch ausstehenden „Götterdämmerung“ arbeiten wir in einem großen Kollektiv – das ist eine ganz neue Form der Arbeit und sehr bereichernd.

In der Region gibt es noch etliche weitere Spielstätten, beispielsweise die Altstadtkomödie oder das Lessingtheater in Wolfenbüttel. Wie sieht das Zusammenspiel zwischen Ihnen aus?
Wir kennen uns und es gab bereits gemeinsame Projekte und Kooperationen. Ansonsten ergänzen wir uns. Die Altstadtkomödie etwa deckt ein Genre ab, das wir nicht bedienen.

Es herrscht also kein konkurrierendes Verhältnis?
Ich mache die Erfahrung, dass unser Publikum wenig reist. Am Theater in Wolfsburg gibt es beispielsweise eine Konzertreihe mit unserem Orchester. Das könnte man für Quatsch halten, aber der Plan geht auf. Nur die Weihnachtszeit kann kritisch sein.

Inwiefern?
Die Schulen schauen ganz genau, welches Theater welches Weihnachtsstück anbietet. Und wenn ihnen etwas nicht passt, fahren sie schnell auch mal woanders hin.

Können Sie die Diskussion um die durch den Staat geförderte (Hoch-)Kultur eigentlich noch hören?
Über die Bedeutung von Kultur wurde gerade in den vergangenen Corona-Jahren viel diskutiert. Als Institution sind wir ein Kitt der Gesellschaft, können Menschen zusammenbringen, die ein kollektives Erlebnis herbeisehnen. Auf der anderen Seite erfüllen wir eine inhaltliche Funktion. Wir zeigen: Die Welt ist veränderbar. Wir blicken über den Tellerrand, stellen Fragen, wechseln Perspektiven. Wir möchten die Zuschauer:innen werden in Bewegung bringen, dass sie ihre eigene Haltung hinterfragen oder einfach Spaß haben. Für mich ist eine Aufführung gelungen, wenn ich merke, dass die Leute wacher raus- als reingegangen sind. Bei der Frage zur Finanzierung über Steuergelder gibt es keinen Dissens. Auch in unseren Umfragen hat sich gezeigt, dass die Braunschweiger:innen, selbst wenn sie es nicht selbst besuchen, toll finden, dass es das Theater in ihrer Stadt gibt. Ganz ähnlich geht es mir mit dem Fußball. Kultur jeglicher Art belebt die Stadt.

Wobei der Fußball nicht von Steuergeldern finanziert wird. Glauben Sie denn, dass Sie damit auch den Querschnitt der Gesellschaft erreichen oder vielmehr eine Bildungselite?
Wir versuchen für alle da zu sein, was nicht einfach ist, da gebe ich Ihnen recht. Über das JUNGE! Staatstheater erreichen wir die breiteste Zielgruppe. Wir haben außerdem eine Theaterflat für Schulen eingerichtet, dank der die Schüler:innen auch jenseits des schulischen Verbundes ins Theater gehen können. Auch für die Studierenden gibt es eine Flat. Mit solchen Instrumenten werden wir dauerhaft ein gemischtes Publikum erreichen.

Wer ist derzeit Ihr Stammpublikum?
Das ist eher ein älteres, bürgerliches Publikum. Uns ist durchaus bewusst, dass wir uns wandeln müssen, denn unsere weiße Mehrheitsgesellschaft gibt es bald nicht mehr. Wir haben in den letzten Jahren einige Initiativen gestartet, um unterschiedliche Bürgerschichten zu erreichen. Es gab beispielsweise ein Projekt mit dem Laut Klub, oder die Reihe „tanzwärts!“, in der Braunschweiger:innen zwischen acht und 80 Jahren Choreographien aufführen. Der HBK haben wir zudem eine Plattform für ihre Performances gegeben.

In der Region diskutiert man gern eine angebliche Benachteiligung gegenüber der Landeshauptstadt. Das dortige Staatstheater wird komplett aus Landesmitteln finanziert, Ihr Haus nur zu zwei Dritteln, ein Drittel trägt die Stadt. Ist das gerecht?
Ich weiß schon, dass das für Braunschweig ein hoher Betrag ist. Für das Gebäude liegt die Verantwortung allerdings beim Land, und in punkto baulicher Sanierungsstau, der wirklich groß ist, ist Braunschweig jetzt schon mal „dran“. Das ist der Politik auch klar, sowohl auf Landesebene als auch in der städtischen Politik.

Die Welt hat es derzeit mit zahlreichen Krisen gleichzeitig zu tun – was ist Ihr Anspruch als Intendantin? Müssen diese Krisen auf den Bühnen Braunschweigs verarbeitet werden?
Momentan macht mich das Weltgeschehen fertig. Das merke ich auch bei den Zuschauer:innen, insbesondere der Ukraine-Krieg hat alle ziemlich umgehauen. Wenn ich mir anschaue, wer über Krieg und Frieden entscheidet, gruselt es mich manchmal. Das sind autoritäre Strukturen und nach Demokratie können wir dort lange suchen. Auch die Sprache vermittelt das: „Wehrhaft“, „Helden“, „Wir werden siegen“ – ich fühle mich in eine andere Zeit zurückversetzt. Wir haben doch gelernt, dass das Heldentum blöd ist. Wenn ich an Frauenrechte in Afghanistan oder im Iran denke, an den Rechtsruck in Polen und Ungarn oder anderen Ländern – auch das sind Riesenthemen. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere demokratische Lebensweise nicht verlieren.

Wie politisch muss Theater also sein?
Es ist wichtig, dass wir diese Themen auf die Bühne bringen. Auch das Thema Nachhaltigkeit ist uns wichtig. Wir haben ein Stück über die Zukunft der Mobilität gemacht und unser Orchester ist Gründungsmitglied des Orchesters des Wandels, das Klimakonzerte macht. Wir starten jetzt die erste klimaneutrale Produktion, für die wir eine Förderung von der Kulturstiftung des Bundes erhalten haben. Dabei habe ich keine Lust, jeden Abend nur die Betroffenheitskiste aufzumachen. Ich möchte Perspektiven eröffnen, Aussichten geben und auch mal eine schöne Geschichte erzählen, die gut ausgeht. Weil Zuversicht wichtig ist.

Müssen Sie als Theater aufpassen, dass Ihnen die guten Geschichten nicht ausgehen, wenn man einen Gegenwarts- und Wirklichkeitsbezug haben möchte?
Es gibt ja noch die Poesie. Das ist eine Möglichkeit, etwas herunterzubrechen auf ganz einfache Dinge, wie menschliches Zusammenwirken. Wir wollen nicht die Hoffnung verlieren.

Schlingmanns aktuellste Inszenierung: Der ideale Mann von Oscar Wilde. Foto: Joseph Ruben Heicks

Würden Sie sich selbst als politisch informiert bezeichnen?
Ich bin sehr interessiert, schaue Nachrichten aber vielleicht anders, als Sie das tun würden. Nämlich aus der Sicht einer Regisseurin.

Sie blicken auf die politische Inszenierung?
Total. Es gibt da Situationen, da fällt mir die Kinnlade runter.

Haben Sie ein Beispiel für uns?
Nehmen Sie die Situation, als Wladimir Putin mit seinem Sicherheitsrat medial inszeniert im Halbkreis saß und seinen Chef des Geheimdienstes nach Strich und Faden zusammengefaltet hat. Das war wirklich Machiavelli! Und alle anderen blickten zu Boden – ein Puppentheater. Diese Bilder prägen sich mir ein.

Gibt es eigentlich noch einen Platz jenseits der Kultur in Ihrem Leben?
Es dreht sich schon viel um das Theater, weil auch mein Mann hier arbeitet. Diese Arbeit prägt mein ganzes Leben – auch die Art, wie ich Bücher lese oder Filme anschaue. Aber natürlich gibt es trotzdem Dinge, die ich abseits davon gerne mache. Ich bin beispielsweise gerne in der Natur unterwegs, um einfach mal etwas abseits der Kultur aufzusaugen. Dort lebe ich richtig auf. Und ich begleite meinen Sohn, der jetzt mit der Schule fertig ist und in die nächste Lebensphase startet.

Gehen Sie privat noch ins Theater?
Ja, allerdings eher in Berlin, denn das ist die Messlatte. Aber viel Zeit bleibt dafür nicht.

Ihr Vertrag läuft noch einige Jahre. Was kommt danach?
Nichts (lacht). Dann höre ich auf.

Können Sie gut loslassen?
Total (lacht). Das ist ein Stressjob, denn man ist immer zu einhundert Prozent gefragt. Im Alter werden manche Dinge leichter, weil man weniger aufgeregt ist und Erfahrungen gesammelt hat. Aber meine Arbeit frisst ungemein viel Zeit. Und es gibt doch noch andere Dinge im Leben, oder?

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