15. November 2019
Entscheider

„Die Chancen stehen bei 1 zu 12.000“

Der Vorstand Prof. Christel Müller-Goymann und Prof. Heike Bunjes und Außerplanmäßiger Professor Stephan Reichl am Institut für Pharmazeutische Technologie der TU Braunschweig über die Entwicklung von Arzneimitteln, Versorgungsengpässe und Tierversuchs­ersatzmethoden ...

Foto: Stephanie Joedicke

Frau Bunjes, Frau Müller-Goymann, Herr Reichl, seit wann gibt es das Institut für Pharmazeutische Technologie?

Müller-Goymann:  Das Institut für Pharmazeutische Technologie an der TU Braunschweig gibt es seit 1959 durch Umbenennung des seit 1938 bestehenden Instituts für Angewandte Pharmazie.

Woran hat das Institut in der Vergangenheit geforscht und woran forschen Sie heute?

Reichl: Wir bringen den Wirkstoff, der zum Arzneistoff wird, in eine anwendungsfähige Form. Wir nennen das Formulierung und beschreiben damit, wie ein Stoff in diese Form kommt und darin stabil bleibt. Die klassischen Formen kennt jeder: halbfeste Zubereitungen, sterile Injektionen und Tabletten.

Müller-Goymann: Seit den 70er Jahren wurde auf dem Gebiet der Tablettierung intensiv durch Claus Führer geforscht. Maßgebliche Erkenntnisse wurden erarbeitet, die heute noch in der industriellen Fertigung von Arzneimitteln von Bedeutung sind. In den 80er und 90er Jahren war die Strukturaufklärung halbfester Formulierungen zur Anwendung auf Haut und Schleimhaut im Fokus. Um die Jahrtausendwende begann in unserem Institut die Forschung zu Tierversuchsersatzmethoden für die Testung von Formulierungen. Heute sind nanopartikuläre Arzneistoffträgersysteme im Fokus – insbesondere für die Verarbeitung von neuen Wirkstoffen mit herausfordernden Eigenschaften.

Welche sind das?

Bunjes: Viele sind schwer wasserlöslich. Da wir Menschen aber zu großen Teilen aus Wasser bestehen, ist es wichtig, dass man die Wirkstoffe in eine wasserverträgliche Form bringt, damit sie überhaupt zur Wirkung kommen können. Eine zweite herausfordernde Klasse sind Biomakromoleküle, zu denen auch Proteine zählen. Diese sind zwar gut wasserlöslich, aber sehr empfindlich.

Sie sind also Teil einer Kette in der Entwicklung von Arzneimitteln …

Reichl: Genau. Ein Wirkstoff kann noch so gut sein, wenn man dafür keine Formulierung findet, kann dieser nie im Körper zur Anwendung kommen und daraus nie ein Arzneimittel werden.

Wer sind Ihre Auftraggeber? Kooperieren Sie mit der Industrie?

Müller-Goymann: An der Universität ist die Forschung grundsätzlich frei und selbstbestimmt. Insofern haben wir keine Auftraggeber. Es kommt aber durchaus vor, dass Industrieunternehmen an uns herantreten und sich daraus Projekte entwickeln, die über mehrere Jahre laufen.

Wie sehen diese Kooperationen aus?

Bunjes: Für die Entwicklung eines Medikaments hat man an der Universität in der Regel nicht die Ressourcen, das sind wahnsinnige Anstrengungen, die die Industrie unternehmen muss. Oftmals stehen die Kollegen dort vor Problemen und kommen auf uns zu. Wir entwickeln dann Tools, die es der Industrie ermöglichen, auf Basis gesicherter wissenschaftlicher Kenntnisse zu arbeiten.

Können wir Namen nennen? Mit wem haben Sie bereits zusammengearbeitet?

Müller-Goymann: Es ist alles dabei, große wie kleine Pharmaunternehmen.

Reichl: Es kommen aber auch Kollegen aus der Wissenschaft auf uns zu, beispielsweise, wenn Pharmazeutische Chemiker Testformulierungen suchen.

Bunjes: Das kommt häufiger mal vor. Und ist für uns auch interessant, weil das die Themen, die auch in der Industrie aufkommen könnten, sehr gut widerspiegelt.

Die Preise für Arzneimittel sind in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern relativ hoch. Ist das gerechtfertigt?

Müller-Goymann: Der Aufwand in der Entwicklung ist enorm und man braucht dazu hochqualifizierte Mitarbeiter, die diese Entwicklung in der Industrie leisten – das kostet Geld. Sie können die Kosten natürlich reduzieren, wenn Sie die Produktion in Niedriglohnländer transferieren. Das ist auch schon gemacht worden, und reumütig kehren viele Firmen wieder zurück nach Deutschland.

Bunjes: Eine Folge davon kann man ja aktuell in vielen Apotheken feststellen …

Meinen Sie die Versorgungsengpässe?

Bunjes: Ja, genau. Das muss man ganz klar sagen. Die entstehen auch aufgrund von Problemen in ausgelagerten Produktionen. Es gibt einen unglaublichen Preisdruck bei den generischen Arzneimitteln, die den Patentschutz verloren haben, der zu diesen schwierigen Entwicklungen führt. Wir können das nicht fundiert bewerten, aber es wäre sicherlich wünschenswert, mehr Arzneimittel in Europa zu produzieren. Außerdem rechtfertigt das Risiko einen Teil des Preises.

Inwiefern?

Bunjes: Die Arzneimittelentwicklung ist mit einem enormen Risiko behaftet. Das ist anders, als ein Auto zu konstruieren. Wenn ich ein Automodell konstruiere, weiß ich, dass daraus irgendwann ein Auto entstehen kann. Wenn ich ein Arzneimittel entwickle, weiß ich, dass der größte Teil der angefangenen Entwicklungen keine Arzneimittel werden.

Wie oft kommt es vor, dass ein Wirkstoff nicht weiterverarbeitet werden kann?

Reichl: Die Frage ist immer, wie viel von dem Arzneistoff im Körper ankommen muss, damit die gewünschte Wirkung erzielt wird und keine Nebenwirkungen auftreten. Das ist der limitierende Faktor. Ein Großteil der Wirkstoffkandidaten, die wegfallen, fallen nicht wegen der Formulierung weg. Das sind eher Gründe wie: doch nicht so wirksam, zu giftig …

Bunjes: … bringt keinen so großen therapeutischen Fortschritt, dass es von den Krankenkassen erstattet wird. Dann ist es nicht mehr marktfähig.

Müller-Goymann: Oder die Entwicklung dauert zu lange oder ist zu teuer. Der Ausschuss neuentwickelter chemischer Substanzen ist enorm hoch. Man sagt, die Chancen stehen bei 1 zu 12.000, dass aus einem Wirkstoff ein Arzneimittel entsteht. Und am Markt bereits etablierte Medikamente in optimierte Formulierungen weiterzuentwickeln ist nur wirtschaftlich, wenn sich der Aufwand der Optimierung finanziell lohnt.

Wie lange dauert die Entwicklung eines neuen Arzneimittels und was kostet diese im Schnitt?

Reichl: Die Entwicklung dauert etwa acht bis zehn Jahre und kostet etwas über eine Milliarde Euro.

Ein Punkt, an dem Sie mit Ihrer In-vitro-Forschung ansetzen, Herr Reichl. Im August dieses Jahres erhielten Sie zusammen mit dem Gründerteam von „minds“ dafür den Innovationspreis Niedersachsen in der Kategorie Vision. Ziel der Forschung ist es, mit neuen Testmöglichkeiten schneller und kostengünstiger Arzneimittel zu entwickeln. Wie funktioniert das?

Reichl: Dafür muss man sich die Phasen der Arzneimittelentwicklung anschauen. In der präklinischen Phase werden Stoffe ersten Tests unterzogen, in der Regel Laboruntersuchungen und Tierversuchen, in denen die Wirksamkeit und Verträglichkeit erforscht wird. Tierversuche stellen ein Problem dar, zum einen aus ethischen Gründen und zum anderen, weil die Aussagen nicht immer verlässlich auf den Menschen übertragbar sind. Deshalb versucht man diese jetzt durch Zellkulturmodelle humaner Zellen zu ersetzen und sie in unserem Testsystem DynaMiTES (Dynamic Micro Tissue Engineering System) möglichst „realen“ Bedingungen auszusetzen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Reichl: Um zu testen, wie Augentropfen durch die Hornhaut aufgenommen werden, wird diese häufig einem Versuchstier entnommen, in ein Gerät eingespannt und dann untersucht man, wie der Arzneistoff die Hornhaut durchdringt. Real würde das so nie passieren, denn man zwinkert, das Auge tränt und der Wirkstoff verdünnt sich. Im DynaMiTES können wir diese Bedingungen nachstellen.

Was hat Sie zu der Forschung veranlasst?

Reichl: In meiner Doktorarbeit habe ich künstliche Hornhäute erforscht. Diese Zellkulturen können gut konstruiert, aber natürliche Versuchsbedingungen nur schlecht abgebildet werden. Das war die Ausgangssituation. Für das Cornea-Modell habe ich 2013 den Felix-Wankel-Tierschutz-Forschungspreis erhalten. Danach hat meine Arbeitsgruppe das In-vitro-Modell auf ein dynamisches Modell übertragen.

Bunjes: Vier Jahre hat das insgesamt gedauert und wäre ohne die Kooperation mit dem Institut für Mikrotechnik im Rahmen des Zentrums für Pharmaverfahrenstechnik (PVZ) gar nicht möglich gewesen.

Wie geht es mit DynaMiTES weiter?

Reichl: Es sind bereits andere Institutionen auf uns aufmerksam geworden und wollen das Modell nutzen. Wir müssen den Behörden jetzt Daten liefern, die die Aussagekraft dieser Tierversuchsersatzmethode belegen.

Und dann wird das System kommerzialisiert?

Reichl: Genau. Dafür wurde das Start-up „minds“ ausgegründet. Das Testsystem, aber auch unsere Expertise, sollen kommerzialisiert werden. Herr Kollege Dietzel aus dem Institut für Mikrotechnik und ich begleiten das Projekt dann als Seniorpartner.

Welche Projekte planen Sie in den nächsten Jahren?

Bunjes: Wir planen im Rahmen des PVZ einige größere kooperative Projekte, die sich mit der Formulierung schwerwasserlöslicher Substanzen beschäftigen und auf die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern fokussieren.

Prof. Dr. Christel Müller-Goymann
Leitet das Institut für Pharmazeutische Technologie seit 1991 und steht kurz vor ihrer Pensionierung. In ihrer Forschung befasst sie sich mit den Schwerpunkten kolloide Drug Delivery Systeme und dem Einfluss von Drug Delivery Systemen auf die Hornschicht der menschlichen Epidermis.

Prof. Dr. Stephan Reichl
Der Professor für Biopharmazie forscht vornehmlich in der Entwicklung, Charakterisierung und Validierung von 3D-Zellkulturmodellen als Tierversuchsersatz. Für die Entwicklung des Testsystems DynaMiTES erhielt er den Innovationspreis Niedersachsen in der Kategorie „Vision“.

Prof. Dr. Heike Bunjes
Ist seit 2007 Professorin für Pharmazeutische Formulierungstechnik und wird zukünftig das Amt der geschäftsführenden Institutsleitung bekleiden. In ihrer Forschung befasst sie sich unter anderem mit der Entwicklung von Strategien für die Verabreichung schwer löslicher Arzneistoffe.

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