Angela Ittel ist seit einem knappen Jahr Präsidentin der TU Braunschweig – „the next hot thing, next to the Oberbürgermeister“, wie ihr ein Mitglied der Findungskommission versicherte. Wir sprachen mit der promovierten Psychologin über die aktuelle Gemütslage ihrer Universität, den Wunsch nach Entwicklung zu ganzheitlicher Exzellenz und darüber, wie schwierig es ist, traditionelle Strukturen aufzubrechen …
Flache Hierarchien, kurze Entscheidungswege, der direkte Draht ganz nach oben – so skizzieren Vordenker die Arbeitsorganisation der (nahen) Zukunft. Das Versprechen: Geschwindigkeit. Denn wenn jeder jeden direkt kontaktieren kann, bleibt weniger auf den Schreibtischen dazwischen liegen. LinkedIn ist der digitale Ausdruck dieser Entwicklung – zahlreiche Top-Entscheider:innen aus der Region sind dort aktiv und scheinbar greifbar, von Volkswagen-Chef Herbert Diess bis Angela Ittel – seit einem knappen Jahr Präsidentin der TU Braunschweig.
Wir haben den neuen Kommunikationsdraht in ihrem Fall auf die Probe gestellt. Es ist Montag, der 2. Mai um 22:04 Uhr als die Interviewanfrage raus geht. Um 23.15 Uhr ist die Antwort da, sie freue sich und bittet, den Termin über ihr Büro abzustimmen. Vier Tage später stehe ich ganz real vor der Tür zu eben jenem. Chapeau! Das ist schnell – gerade für eine öffentliche Institution. Eine gut gelaunte Präsidentin im blauen Sommerkleid bittet mich herein und winkt ab, als ich auf die Interviewanfrage zu sprechen kommen: „Das stört mich gar nicht.“ Und weiter: „Mein Leben ist meine Arbeit, beziehungsweise ich möchte nicht arbeiten und denken, mein Leben ist woanders.“
Nach acht Jahren als Vizepräsidentin in der Hauptstadt ist Ittel mit dem Ziel der Internationalisierung und der ganzheitlichen Entwicklung zur Exzellenz an die Oker gekommen – um zu bleiben. „Das Einzige, was mir wirklich fehlt, sind die guten Restaurants.“ Und die TU selbst? Die sei eine Top-Universität. Das Mantra, dass die Region besser sei als ihr Ruf? „Ich bin jetzt seit neun Monaten hier und dieser Satz langweilt mich schon fast.“ Ob es am jahrzehntelangen Dämmerschlaf im Zonenrandgebiet liegt oder daran, dass man nun mal nicht Landeshauptstadt ist – das alles habe sie gehört und erwidert: „Ich habe von Anfang an gesagt, dass es unsere Aufgabe ist, für Sichtbarkeit zu sorgen. Um gehört zu werden, muss man auch sprechen.“
Das sieht Ittel als ihre Aufgabe an. Sie reist als Botschafterin ihrer Universität durch die Republik, war auf regionalen und internationalen Netzwerktreffen in den vergangenen Monaten extrem sichtbar und hat eine einladende Botschaft in Richtung der regionalen KMUs im Gepäck, bei denen sie noch eine gewisse Scheu wahrnimmt: „Ich sehe wirklich die Chance, dass wir gemeinsam wachsen. Dafür sind wir eine spannende Partnerin.“
Frau Ittel, in der Magazin-Serie „Spotlight“ geben Sie digital einen Einblick in Ihre Arbeit und Themen, die Sie derzeit beschäftigen. Damit haben Sie einen neuen Kommunikationspfad eröffnet, den keiner Ihrer Vorgänger:innen ging. Warum?
Nach meinem Amtsantritt haben wir einen umfangreichen Hochschulentwicklungsprozess gestartet. Da kommt also eine neue Entscheiderin und hat einiges vor – beides kann verunsichern. Dagegen hilft nur Transparenz.
Also raus aus dem Hinterzimmer?
Genau. Ich führe gerade drei Kommunikationsformate ein – eine offene Sprechstunde, zu der sich jeder anmelden kann. Dann wird es ein Themenformat geben, das wahrscheinlich digital stattfindet, und zudem einen sogenannten Resonanzraum. Ich stelle mir vor, dass ich auf die Terrasse vor dem Audimax zwei Bierbänke stelle und Menschen einlade, um zu diskutieren. Das hat alles zum Ziel Führung transparent zu gestalten.
Kritiker:innen könnten ins Feld führen, dass diese Transparenz vor allem eine Inszenierung ist und die Entscheidungen weiter in Gremien getroffen werden …
Wenn es mir nur ums Image gehen würde, wäre mir der Zeitaufwand ehrlich gesagt zu groß (lacht). Aber natürlich muss sich erst Vertrauen bilden und die Menschen müssen beobachten, wie ich Feedback und Impulse aus der Hochschule in Entscheidungen einfließen lasse. Genau das wird passieren.

Manchmal erforderten die Aushandlungen darum einen Kulturwandel, manchmal sogar ein wenig Mut, schrieben Sie dazu. Gibt es Widerstände gegen diesen Kurs?
Wir sind eine große Institution und in einer solchen gibt es immer Personen, die unterschiedliche Ziele verfolgen und Veränderungen kritisch sehen. Universität an sich war mal – und ist es in Teilen immer noch – schon durch das Professorenamt eine hierarchische Institution. Das wandelt sich gerade, aber dem sind längst nicht alle Kolleg:innen gewogen, denn es geht um jahrhundertealte Traditionen. Und ganz ehrlich: Als Führungskraft ist es mein Anspruch, möglichst viele Personen mitzunehmen, man wird nie alle überzeugen. Das zu glauben, wäre naiv.
Spüren Sie mehr Zu- als Widerspruch?
Ich bin davon überzeugt, dass die Universität sich entwickeln wird und sich diese Strukturen verändern werden. Das kann ich authentisch kommunizieren. Und gerade in der Generation, die ich berufe und benenne, sind viele Leute dabei, die diesen Wandel ganz fantastisch finden.
Sie sind wie andere Top-Entscheider:innen auf LinkedIn aktiv. Dort kann man ziemlich aktuell beobachten, wo Sie gerade sind und was Sie tun. Schreiben Sie selbst oder wird Ihr Kanal betreut?
Das mache ich mit der Pressestelle zusammen.
War das eine strategische Entscheidung?
Ja. Das Spotlight wird meines Erachtens wesentlich von Uni-Mitgliedern gelesen. Und mir liegt viel daran, in Braunschweig und der Region sichtbar zu sein und auch gesellschaftliche Akteure zu involvieren. Außerdem möchte ich nicht nur einmal im Jahr beim Neujahrsempfang kommunizieren.
Unsere Interviewanfrage kam auch direkt über LinkedIn. Wünschen Sie sich in solchen Momenten manchmal doch das Vorzimmer zurück?
Naja, ich habe Sie ja für die Terminfindung direkt an mein Vorzimmer verwiesen (lacht). Es war eine strategische Entscheidung in sozialen Medien aktiv zu sein, um Einblicke in meine Alltag zu geben aber – noch viel wichtiger – unsere Universität im rechten Licht zu präsentieren mit all ihren unterschiedlichen Facetten. Manchmal werde ich natürlich auch von Personen angeschrieben, die mir etwas verkaufen wollen.
Kommt das oft vor?
Ja, schon. Aber nicht von Leuten aus der Region, das sind meist internationale Akteure. Da reagiere ich gar nicht drauf. Bei Twitter ebenso. Wir haben am Anfang überlegt, welche Kanäle wir bedienen sollen und haben uns für Twitter und LinkedIn entschieden. Beides führe ich konsequent auf Englisch, um die internationale Community zu erreichen.

Die Sprache als Botschaft?
Genau, das ist mir wichtig. Netzwerke sind entscheidend. Wir müssen als TU Braunschweig wahrgenommen werden, auch international. Das sehe ich als einer meiner wichtigsten Aufgaben an.
Konnte man Sie deshalb zuletzt auf relativ vielen regionalen Netzwerkveranstaltungen sehen?
Natürlich. Ich möchte gerne, dass unsere Expertise in der Region genutzt wird. Dafür muss ich diese Zeit investieren.
Wenn man eine inoffizielle Hackordnung in der Region aufstellen würde, wo steht die TU-Präsidentin?
Als ich noch überlegt habe, ob ich mich wirklich zur Wahl stellen soll, hat mir jemand aus der Findungskommission gesagt: „You are the next hot thing, next to the Oberbürgermeister.“ Ob das so stimmt, weiß ich nicht genau (lacht). Aber ich merke im Vergleich zu Berlin schon, dass eine Universitätspräsidentin sehr wahrgenommen wird.
Hilft Ihnen dabei die Tatsache, dass Sie in vielen Runden die einzige Frau unter Männern sind? Auf Fotos stechen Sie mit oft farbenfrohen Outfits aus der Riege der dunklen Anzugträger hervor …
Das mache ich durchaus bewusst. Natürlich gefällt mir die Kleidung und ich ziehe sie nicht nur aus strategischen Gründen an. Aber man muss damit auch vorsichtig umgehen, denn ich möchte nicht auf mein Outfit reduziert werden.
Viele Ihrer Amtsvorgänger:innen kamen ursprünglich aus dem Maschinenbau und hatten eine Hausmacht hinter sich. Sie sind Psychologin. Inwieweit beeinflusst das Ihre Arbeit?
Bei einer guten Universitätsleitung ist der fachliche Hintergrund meines Erachtens nicht der entscheidende Faktor. In meinem Fall ist es ja so, dass ich schon acht Jahre lang als Vizepräsidentin einer Technischen Universität tätig war. Wenn ich diese Erfahrung nicht hätte, würden bestimmte Netzwerke fehlen. Die sind in der Tat entscheidend. Aber: Die Hochschulleitung muss zum Beispiel aktuelle Forschungsschwerpunkte identifizieren und dann mit den richtigen Leuten vernetzen. Die fachliche Expertise kommt von den Wissenschaftler:innen.
Um gehört zu werden, muss man auch sprechen.
Andererseits geht es auch darum, die Sprache der Menschen zu verstehen. Zugegeben – ist ein wenig Stereotypenbildung, aber eine Ingenieurin könnte anders ticken als ein Geisteswissenschaftler, oder?
Auch als Nicht-Ingenieurin habe mich an der Technischen Universität in Berlin immer sehr wohl gefühlt, weil ich die Sprache gut verstehe und mich in der Art der Diskussion und dem Pragmatismus wohler fühle als in vielen anderen Kontexten.
Wie würden Sie als Psychologin die derzeitige Gemütslage der TU Braunschweig beschreiben? Wie geht es ihr?
Die TU kann gut noch mehr Selbstbewusstsein gebrauchen, denn sie ist wirklich eine Top-Universität. Und wovor man sich immer wieder scheut, ist eine gewisse Lockerheit, auch mal über sich selbst lachen zu können und das Vertrauen, dass wir viel erreicht haben und erreichen werden.
Woher kommen diese Zweifel? Das ewige Mantra, dass die Region besser sei als ihr Ruf …
… hört man immer wieder. Ich bin jetzt seit neun Monaten hier und dieser Satz langweilt mich schon fast.
Warum ändert sich daran nichts? Die eigene Stärke zu kommunizieren scheint doch zumindest einfacher, als überhaupt exzellent zu werden …
Das mag etwas Kulturelles sein, ich nehme es jedenfalls nicht nur in der Universität wahr. Gewissermaßen fühlt man sich nicht ausreichend beachtet und zu wenig wertgeschätzt. Irgendjemand sagte mir neulich, wir waren halt Zonenrandgebiet. Alle gucken immer nach Berlin …
… oder nach Hannover …
Klar, die Stadt ist doppelt so groß wie wir und Sitz der Landesregierung. So entsteht schnell der Eindruck, dass man dort bevorteilt wird. Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass es unsere Aufgabe ist, für Sichtbarkeit zu sorgen. Um gehört zu werden, muss man auch sprechen.
Gutes Stichwort: In Ihrem Festvortrag zum Tag der Arbeit haben Sie über das Thema Chancengleichheit am Arbeitsmarkt gesprochen. Im Interview mit den Kolleg:innen der Braunschweiger Zeitung sagten Sie: Ich kenne das Augenrollen, die Widerstände zu diesem Thema. Woher kommen die?
Gleichstellung bedeutet, alte, traditionelle Strukturen aufzubrechen. Oberflächlich würden die meisten sagen, dass sie für Chancengleichheit sind. Aber wenn es dann konkret darum geht, Gleichstellung und Diversität zu fördern, wird es manchmal auch unangenehm. Dann muss man sich verändern, sich bewegen. Und darauf hat nicht jeder Lust.
Bekommen Sie manchmal zu hören, dass Sie selbst doch ein gutes Beispiel dafür sind, dass Frauen es schaffen können?
Ich bin eine der insgesamt 24 Prozent weiblicher Hochschulleiterinnen in Deutschland. Und ehrlich gesagt, ist eher das Gegenteil der Fall. Als ich noch als Professorin tätig war, gab es viele junge Frauen, die gesagt haben: „So wie Sie möchte ich nicht leben.“
Können Sie das verstehen?
Ein schwieriges Thema. Ich weiß, dass ich es verstehen muss und kann dafür Verständnis aufbringen. Aber ich persönlich habe kein gutes Gefühl für das Konzept der Work-Life-Balance. Mein Leben ist meine Arbeit, beziehungsweise ich möchte nicht arbeiten und denken, mein Leben ist woanders. Wenn ich abends oder am Wochenende irgendetwas für die Arbeit mache oder mit jemandem telefoniere, dann macht mir das Spaß. Ich will diese Uni voranbringen und nicht morgens aufstehen und darauf hoffen, dass bald fünf Uhr und Feierabend ist. Aber natürlich gibt es daneben viele andere Lebens- und Arbeitsmodelle, die ich respektiere und die ihren Wert haben.
Sind unsere Strukturen zukunftsfähig, weil es genug Menschen mit diesem Mindset gibt, oder gehen uns als Gesellschaft die Führungskräfte aus, wenn wir uns nicht wandeln?
Die Jugend gestaltet die Zukunft und fordert einen Wandel ein. Da kommt jemand und will 70 Prozent arbeiten, damit er mehr Freizeit hat. Das kenne ich von damals überhaupt nicht. Allein aus finanziellen Gründen hätte ich das als 30-Jährige nie gesagt. Jetzt höre ich mich fast an wie meine eigene Oma (lacht).
Es hat ja durchaus Tradition, dass die älteren Generationen pessimistisch auf die folgenden blicken …
Nein, pessimistisch bin ich überhaupt nicht, ich fremdele nur persönlich etwas mit dieser Priorisierung. Konkret bedeutet dies, dass wir Arbeit anders strukturieren müssen. Dass das geht, hat uns die Pandemie gezeigt. Also lasst uns beispielsweise mehr Homeoffice erlauben, damit man Arbeit und Familie besser vereinen kann.

Das ist der Bogen zurück zum Gleichstellungsthema. Gab es in Ihrer Vita subtile Momente, in denen die alten, weißen Männer Ihnen so richtig gezeigt haben, wo Ihr Platz ist?
Es sind ja gar nicht unbedingt die alten, weißen Männer …
… dann vielleicht weniger pointiert …
Solche Momente gibt es fast täglich. Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn war ich zum Beispiel in Gremien durchaus eingeschüchtert, aber man muss einfach einfordern, gehört zu werden. Und das ist ein ständiger Kampf.
Immer noch?
Ja klar.
Aber Sie sind die Präsidentin. Gegen wen müssen Sie noch kämpfen?
Ich kam neu in eine Institution, in der sich viele Leute schon lange kannten. Und natürlich sprechen diese Menschen untereinander, teilen ihre Sorgen und Skepsis zu bestimmten Themen, das ist doch völlig normal. Insofern muss ich dafür sorgen, dass ich Vertrauen gewinne und mir Vertrauen entgegengebracht wird, denn was bringt es, wenn die eigentlich wichtigen Gespräche und Aushandlungsprozesse woanders stattfinden. Sie müssen immer für Ihre Ziele werben und überzeugen, um erfolgreich zu sein.
Das ist aber keine Frage des Geschlechts, oder?
Nein, aber es passiert häufiger, dass Frauen berichten, dass sie nicht gehört werden, dass sie etwas sagen und drei Redner:innen später formuliert der Mann das Gleiche und es wird erst dann als tolle Idee dokumentiert …
Diese Erfahrung dürfte sich von der Geschlechter- auf die Altersfrage übertragen lassen …
Absolut.
Erinnern Sie sich an Frust in den Anfängen Ihrer wissenschaftlichen Karriere?
Natürlich habe ich das auch erlebt, da sind wir wieder bei den traditionellen und hierarchischen Strukturen an der Uni. Damals habe ich versucht, das mit viel Leistung und vielleicht auch Übereifer zu kompensieren, also wirklich immer informiert und überall dabei zu sein.
Man sagt Wissenschaftler:innen gerne nach, dass sie analytisch, verkopft an Fragen herangehen. Gibt es Momente, in denen Sie ganz klar nach Bauchgefühl entscheiden?
Eine Uni kann man nicht nach Bauchgefühl leiten, dafür sind die Fragen zu komplex.
Und im Privaten?
Bei den Fragen der Mode und des Kochens denke ich nicht viel nach. Das mache ich einfach und es klappt meistens ganz gut (lacht).
Es wird schlichtweg nicht genug investiert.
Bildung, liest man häufig, sei unser wichtigster Rohstoff. Tun wir als Gesellschaft auch genug dafür, diesen zu fördern?
Man kann immer fordern und andere Bundesländer investieren zum Beispiel auch viel mehr in ihre Universitäten. Wenn ich einen Eimer neben den Schreibtischstuhl stellen muss, weil es von der Decke tropft, wird der Anspruch nach Exzellenz schwierig.
Was sagt dieser Eimer denn darüber aus, wie ernst wir das Thema nehmen?
Es wird schlichtweg nicht genug investiert, nicht einmal, um die Gebäude instand zu halten.
Ist das auch eine Botschaft in Richtung Hannover?
Wenn Sie so wollen …
Oder würden Sie es anders formulieren?
Mein Wunsch wäre, dass man uns mehr einbezieht. Die Politik wünscht sich Quick-Wins, Erfolge sollen schnell sichtbar werden. Das führt oft zu sprunghaften Entscheidungen. Heute wird ins Quantum Valley Lower Saxony investiert, morgen in ein anderes Thema. Und darüber werden die Löcher in der Decke vergessen.
Schauen wir auf den Wirtschaftsstandort Deutschland: Woran hapert es eher? An den klugen Ideen oder daran, diese in erfolgreiche Produkte umzusetzen?
Die klugen Ideen gibt es. Aber ich würde das ungern auf Deutschland begrenzen, denn wir können nicht alles in einem Land alleine lösen. Der Mehrwert der Diversität für die Kreativität ist ein Glaubenssatz von mir, der ist ganz wichtig.
Tut es der Wissenschaft eigentlich gut, dass sie immer mehr vermessen wird? Dass Forscher:innen bei Drittmitteln, Publikationen, Zitationen im Wettbewerb zueinander stehen und dass man suggeriert, dass Exzellenz sich messen lässt?
Das ist gerade ein sehr heißes Thema bei uns, weil wir erstmalig eine Indikatorenmessung einführen. Wussten Sie das?
(Schweigen)
Okay, verstanden (lacht). Ich bin jedenfalls überzeugt davon, dass wir dieses Vorgehen einführen – schon aus reiner Notwendigkeit auch unseren Drittmittelgeber:innen gegenüber. Natürlich braucht Wissenschaft Kreativität und Freiräume und nur hinter diesen Faktoren hinterherzujagen, ist Quatsch. Aber beispielsweise von Exzellenzprogrammen werden solche Indikatoren eingefordert. Und deshalb benötigen wir diese Informationen und müssen der Wahrheit auch ins Auge gucken können.
Nur, weil das System etwas von Ihnen einfordert, muss es ja nicht richtig sein …
Da kommen wir zurück zum Bauchgefühl – eine Institution unserer Größe braucht eine verlässliche Datenbasis, um Entscheidungen treffen zu können. Im Unternehmenskontext würde man von Controlling sprechen.
Machen wir es mal konkret: Wenn wir von Wissenschaftler:innen verlangen, dass
sie mehr publizieren, werden sie wohl anfangen, eine Idee leicht abgewandelt mehrfach zu veröffentlichen und nicht plötzlich produktiver …
Alles hat ein Maß. Und natürlich kann das Messen im schlimmsten Fall dazu führen, dass die Wissenschaft ad absurdum geführt wird. Das will niemand. Nicht ohne Grund hat sich in der EU eine Gruppe gebildet, die Wissenschaft nach qualitativen Standards greifbar machen will. Wir sind sofort beigetreten, denn ich halte das für ein ganz wichtiges Thema.

Das Recruiting ist für viele Unternehmen eine der größten Herausforderungen dieser Zeit. Ist das Wissenschaftssystem attraktiv genug, um die klugen Köpfe zu halten?
Nicht im Wettbewerb mit der Industrie. Bei Digitalisierungsthemen laufen sie uns zum Beispiel alle weg. Hochschulen sind aber auch nicht gut darin, zu rekrutieren. Dafür setze ich mich gerade sehr ein. Es genügt nicht, Ausschreibungen in irgendwelche Netzwerke zu schicken. Deshalb ist mein Angebot klar: Sagen Sie mir, wen ich anrufen soll. Ich greife auch als Präsidentin zum Hörer und versuche, die Forscherin aus Taiwan von Braunschweig und der TU zu überzeugen.
Und wer bereits Teil des Systems ist, wird entweder irgendwann Professor:in …
… oder nicht.
Genau, das System spuckt einen aus. Braucht es nicht alternative Karrierewege zur Professur?
Ich habe meine akademische Ausbildung komplett in den USA absolviert und dann hier in Deutschland habilitiert. Meine Doktormutter in den USA hat nie verstanden, dass wir hier nach der Habilitation, also auf dem Höchststand unserer Leistung, auf die Straße gesetzt werden. Die Hochschulrektor:innen-Konferenz hat dazu gerade eine Expert:innengruppe eingerichtet, das ist ein sehr politisches Thema. Kritiker von Entfristungen argumentieren, dass das Wissenschaftssystem verstopft wird und es für Exzellenz neue Impulse durch neue Köpfe braucht.
Ganzheitliche Exzellenz ist auch Ihr erklärtes Ziel für die TU Braunschweig. Was bedeutet das für Sie?
Es wird häufig falsch verstanden, weil der Exzellenzbegriff so eng verknüpft mit dem Exzellenzwettbewerb der DFG ist. Für mich ist die TU dann ganzheitlich exzellent, wenn wir in allen vier Säulen nach exzellenten Standards arbeiten – und das sind Forschung, Lehre, Administration und Transfer. Natürlich möchte ich gerne, dass wir unsere zwei Exzellenz-Cluster verlängert und auch das dritte Vorhaben bewilligt bekommen. Wir brauchen zwei Cluster, um uns überhaupt für die nächste Exzellenz-Runde bewerben zu können.
Das heißt, es ist nicht ausgemacht, dass Sie es versuchen?
Zunächst brauchen wir mindestens zwei Cluster …
… nehmen wir an, die werden bewilligt?
Dann hoffe ich, dass wir bis dahin so weit sind, dass wir mit Freude und Zuversicht in den Wettbewerb eintreten können.
Seit 2005 ist die TU, Exzellenz-Initiative und -Strategie zusammengefasst, immer gescheitert, zuletzt denkbar knapp. Im Audimax feierte die Universität damals trotz des Ausscheidens …
Natürlich möchte ich diese Chance noch einmal nutzen, aber wir müssen aufpassen, dass wir die Universität bis dahin nicht überfordern. Sie muss faire Chancen haben, den Wettbewerb zu gewinnen.
Im Fußball spricht man davon, dass man über seinen Möglichkeiten spielt, wenn man Ziele erreicht, die eigentlich nicht zum Kader passen …
Wenn wir gewinnen, spielen wir ja nicht über unseren Möglichkeiten …
… temporär mag das zutreffen …
Der Stempel der Exzellenz ist für alle Universitäten eine Herausforderung und jede muss sich anstrengen, dieser Auszeichnung gerecht zu werden und sie zu behalten. Mir ist aber eins sehr wichtig: Wir sollten unsere Entwicklung nicht nur danach ausrichten, dieses Prädikat zu bekommen, denn wir sind und können auch ohne eine ganz tolle Universität sein.
Sie haben einmal gesagt, die TU könne nur so exzellent sein, wie ihre schwächeren Glieder. Wo sehen Sie diese?
Wir haben klare Hausaufgaben bekommen. Zum Beispiel für die Internationalisierung. Außerdem brauchen wir mehr Verbund- und von der DFG geförderte Forschung. Das kann man richtig oder falsch finden, fest steht: Wenn wir hier nicht besser abschneiden, haben wir keine Chance.

Sie haben Ihren Aufenthalt in den USA bereits erwähnt, außerdem waren Sie in Jena, Chemnitz und zuletzt Berlin tätig. Wie provinziell finden Sie Braunschweig eigentlich im Vergleich zur Hauptstadt?
Das Einzige, was mir wirklich fehlt, sind die guten Restaurants. Ansonsten zeigt mein Lebenslauf, dass ich immer den interessanten Stellen nachgezogen bin. Und die Universität selbst ist kein bisschen provinziell.
Was hat Sie denn damals zur Bewerbung motiviert? Warum sind Sie nicht Vizepräsidentin in Berlin geblieben?
Ich hatte das große Glück, dass ich in Berlin mit einem Präsidenten zusammengearbeitet habe, der mich sehr viel hat gestalten lassen. So bin ich persönlich irgendwann an den Punkt gekommen, mir das Präsident:innenamt zuzutrauen. Und ja, die Vorstellung fand ich wahnsinnig spannend. Ich wünsche mir, dass ich und hoffentlich auch andere Menschen in zehn Jahren erkennen, dass ich die Universität vorangebracht habe.
Sie sind gekommen, um zu bleiben?
Natürlich. Ich bin sofort nach Braunschweig gezogen und pendele nicht. Mein Wunsch ist ganz klar, entscheiden muss es nach sechs Jahren natürlich die Universität.
Was haben Sie eigentlich in dem Moment gedacht, in dem Ihnen die Erkenntnis kam, dass Sie den Job haben?
Ich habe in meiner Rede gesagt, dass ich verdammt viel Demut vor dieser Aufgabe habe und genau die habe ich in diesem Moment gespürt. Dieser Job bedeutet extrem viel Verantwortung, weil man eine Universität eben nicht nach Gutdünken leiten kann. Mein Verständnis von Führung ist ein Partizipatives und das macht es wirklich anspruchsvoll.
Wie viel Zweifel können Sie sich überhaupt erlauben?
Im Privaten kann ich mir jeden Zweifel erlauben, aber auch nur im Privaten. Das ist schon auch eine Umstellung …
… dass Sie permanent unter Beobachtung stehen?
Natürlich ist die Rolle als Präsidentin noch einmal eine ganz andere ist, als die der Vizepräsidentin. Wenngleich ich in der Funktion in Berlin auch sehr sichtbar war und meine eigenen Themen vorangetrieben habe, gab es eben noch den Präsidenten …
… und jetzt steht niemand mehr über Ihnen …
So ganz stimmt das nicht, es gibt ja noch den Wissenschaftsminister, aber natürlich trage ich hier die Verantwortung.
Ich möchte nicht mehr für ein dreistündiges Meeting nach China fliegen.
Sprechen wir über das Arbeiten und Lernen in der Pandemie. Gegenüber der Braunschweiger Zeitung haben Sie folgendes gesagt: „Den Druck, jetzt zur ‚alten Normalität‘ zurückzukehren, sehe ich kritisch. Wir haben viele Prozesse durch den notgedrungenen Digitalisierungsschub auch zum Besseren verändert, bitte nicht wieder zurückfallen!“
Zunächst im Sinne der Nachhaltigkeit: Ich möchte nicht mehr für ein dreistündiges Meeting nach China fliegen. Solche Dinge haben wir früher gemacht und ich halte sie vor dem Hintergrund der technischen Möglichkeiten für unverantwortlich …
… waren sie das nicht damals auch schon?
Schon. Aber wir waren technisch nicht so aufgestellt wie heute. Und diese digitalen Chancen sollten wir
auch für die Lehre und das Arbeiten nutzen. Das klingt nach Hybridlehre? Gern noch ein Schritt weiter – Hybrid bedeutet ja trotzdem Präsenz, wenn auch digital und analog. Zusätzlich können noch Lehrinhalte vorliegen und zu jeder Tages- und Nachtzeit abgerufen werden. Ist das ein Ziel oder nur ein Wunsch? Zunächst ein Wunsch, aber einer, an dem wir konkret arbeiten.
Ich habe gelesen, dass Sie gern Yoga machen, laufen und schwimmen. Gibt es jemanden, den Sie auf der Strecke oder im Wasser ungern treffen würden?
Eigentlich möchte ich niemanden treffen (lacht). Sport ist für mich wirklich Abschalten, das mache ich allein.
Wie wichtig ist Ihnen die Bewegung?
Ein guter Tag ist einer, an dem ich Sport gemacht habe. An einem schlechten fehlte die Zeit dafür. Und ehrlich gesagt hatte ich in den vergangenen Monaten mehr sportfreie Tage als in den 20 Jahren zuvor. Insofern muss ich diesen Aspekt noch stärker in meinen neuen Alltag integrieren.
Was würden Sie den Unternehmer:innen in der Region gern sagen?
Ich würde unheimlich gern auch stärker mit KMUs zusammenarbeiten. Wir brauchen diese Kontexte für
die Ausbildung unserer Studierenden und ich sehe wirklich die Chance, dass wir gemeinsam wachsen. Dafür sind wir eine spannende Partnerin …
… aber Sie wünschen sich mehr Offenheit seitens der Unternehmen?
Ich nehme momentan großes Interesse aber auch noch eine gewisse Scheu gegenüber den Universitäten wahr.
Gibt es einen Aspekt Ihrer Persönlichkeit, der die Leser:innen überraschen könnte und den Sie uns verraten würden?
Ich bin nicht nur Präsidentin, sondern auch wahnsinnig gerne Mutter (lacht).
Wie alt sind Ihre Kinder?
Es sind zwei Söhne, 14 und 20 Jahre alt.
Sind die beiden mit Ihnen nach Braunschweig gezogen?
Nein, der Ältere studiert in Berlin und der Jüngere ist in Magdeburg, im Sport Leistungszentrum was natürlich toll ist, weil es bis dahin von Braunschweig aus nur 40 Minuten Zugfahrt sind.
Ziel Profifußball. Mit dem Segen der Mutter?
Er hat Talent, aber der Konkurrenzkampf ist brutal …
… verglichen mit der Wissenschaft?
Ja. Und im Profisport wird man viel schneller fallen gelassen. Die Uni hat mehr Auffangnetze für Menschen,
die keine absoluten High-Performer sind. Das hätte ich zugegebenermaßen in der Zeit, in der ich
mich selbst auf Professuren beworben habe, so sicher nicht formuliert …