Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. 66 Tage mehr müssen Frauen derzeit arbeiten, um das gleiche Gehalt wie Männer zu erzielen. „Das ist verdammt enttäuschend und schwer zu erklären“, findet Julia Claussen. Die 32-Jährige ist Mitglied im Bundesvorstand des Business and Professional Women (BPW) Germany e.V., einem der größten Netzwerke für Unternehmerinnen und berufstätige Frauen, sowie Leiterin des Young BPW. Ihr erklärtes Ziel: Die Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik und allen Teilen der Gesellschaft. Über die Macht der Gehaltstransparenz, Deutschland als Schlusslicht und die Frage, warum sich die meisten Frauen kein Kind leisten können, haben wir mit der international anerkannten Ingenieurin im Video-Interview gesprochen.
Frau Claussen, noch immer verdienen Frauen in Deutschland weniger als Männer. Laut Statistischem Bundesamt waren es 2022 durchschnittlich 18 Prozent. Wie kommt es zu dieser Lohnschere?
Dafür gibt mehrere Ursachen: Sobald Frauen sich in einem Alter befinden, in dem es an die Familienplanung gehen könnte, werden sie bei Jobs entweder direkt benachteiligt oder ihnen wird weniger zugetraut. Gleichzeitig wird Frauen oft vorgeworfen, sich nicht genug für sich selbst einzusetzen, weshalb sie aus Verhandlungen auch mit einem geringeren Gehalt rausgehen. Die Lohnschere kann aber auch daraus resultieren, dass Frauen bestimmte Berufszweige auswählen, die gesellschaftlich weniger angesehen sind und schlechter bezahlt werden.
Suchen sich viele Frauen also den falschen Beruf aus – oder werden sie, egal in welchem Beruf, schlechter bezahlt?
Es gibt keine falschen Berufe. Mädchen werden bereits durch die stereotypische Erziehung und in der Schule in Richtung konventioneller, eher sozialer Berufe gelenkt – das habe ich damals selbst erlebt. Nach dem Abitur bin ich jedoch als Offiziersanwärterin zur Bundeswehr gegangen und habe im Anschluss Produktionstechnik, Maschinenbau und Verfahrenstechnik studiert. Nichts davon hatte sich meine Klassenlehrerin damals für mich vorgestellt. Außerdem sehen wir, dass Männer, die sogenannte Frauenberufe ausüben, häufig eine der wenigen Führungspositionen innehaben und schon deshalb besser bezahlt werden.

Mangelt es also an weiblichen Vorbildern?
Das denke ich nicht. Es mangelt eher an Unvoreingenommenheit und damit an zugänglichen Chancen. Frauen müssen sich immer beweisen – aber wie soll das gehen, wenn sie keine Möglichkeit bekommen? Gerade in den letzten Jahren ist das Empowerment durch einzelne Frauen, Netzwerke und Kampagnen viel sichtbarer geworden. Aber am Ende bringt die ganze Arbeit, die ich in meine Karriere stecke, nichts, wenn ich nicht auf eine Person treffe, die an mich glaubt und mir die Chance gibt, mich zu beweisen.
Eine strukturell ungleiche Bezahlung hat weitreichende Folgen – was bedeutet der Gender Pay Gap für die Familienplanung?
Wenn Frauen Mütter werden, verstärkt sich die Lohnschere sogar noch: Während die Frau in dieser Zeit weniger Erwerbsarbeit leisten kann, bekommt der Mann tendenziell mehr Geld, weil er die Familie ernähren muss. Je früher eine Frau den Arbeitsmarkt verlässt, desto länger ist der Rattenschwanz: Sie wird die verlorene Zeit und die damit einhergehende Gehaltseinbuße nie wieder aufholen, woraus eine geringere Rente resultiert. Unabhängig von einem Partner können sich heute also nur Topverdienerinnen ein Kind leisten.
In der Altersgruppe der unter 30-Jährigen ist die Lohnschere noch nicht so ausgeprägt. Woran liegt das?
In der Ausbildung ist das Gehalt sehr klar strukturiert, da kommt es noch nicht auf das eigene Verhandlungsgeschick an. Auch bei Uni-Absolvent:innen, die im selben Job starten, gibt es oftmals noch keine Unterschiede. Später geht es dann aber um die Frage, wie ich verhandle und meine Karriere gestalte: Springe ich in meinen Positionen, bin ungebunden und wechsle häufig den Arbeitgeber – dann geht es schnell höher hinaus. Oder bin ich beständiger, habe eine eher gemeinschaftliche Sichtweise und bringe Projekte oder Kampagnen gerne zu Ende – dann entwickelt sich die Karriere deutlich langsamer… und damit auch das Gehalt.
Gerade im Management ist der Anteil der Frauen gering. Wollen Frauen einfach seltener führen?
Frauen wollen sehr wohl führen – aber nicht um jeden Preis. Viele Führungspositionen, besonders im Senior Management, werden mit zunehmendem Level politischer. Hinter den Kulissen gibt es kein Miteinander, sondern es geht ausschließlich darum, Position und Aufstieg zu sichern. Es liegt also daran, wie Führungspositionen heute gelebt werden und wie jemand dorthin gelangt. Meistens werden diejenigen befördert, die sich selbst gut darstellen und andere abwerten. Da Frauen eher gemeinschaftlicher denken, ist diese Art des Aufstiegs und von Führung für sie widersprüchlich.
Selbst mit vergleichbaren Qualifikationen, Tätigkeiten und beruflichem Werdegang verdienen Frauen im Schnitt sieben Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Welche Faktoren können die unterschiedliche Bezahlung rechtfertigen?
Familienstatus, Verhandlungsgeschick und Unconscious Bias, also unbewusste Vorurteile, haben einen großen Einfluss. Dazu kommt, wie sich das weibliche Geschlecht verkauft: Frauen jammern leiser als Männer. Sie verschweigen eher Schwierigkeiten, die sie für ein Projekt auf sich nehmen mussten, um nicht als unfähig wahrgenommen zu werden. Meine männlichen Kollegen haben sich hingegen eher als Kämpfer dargestellt, die trotz aller Widrigkeiten ein akzeptables Ergebnis abgeliefert haben. Und diese harten Kämpfe müssen eben entlohnt werden.
Im EU-Vergleich ist die Lohnlücke bei uns am vierthöchsten – nur Lettland, Estland und Österreich schneiden schlechter ab. Warum ist Deutschland bei fairer Bezahlung eines der Schlusslichter?
Das ist verdammt enttäuschend – und schwer zu erklären, weil wir die Fähigkeiten und Ressourcen besitzen, es besser zu machen. Einerseits muss man auf die gesellschaftliche Ebene schauen: Es gibt Länder, die auf das traditionelle Familienmodell setzen, bei dem Frauen nicht arbeiten gehen, um sich um die Kinder zu kümmern. Dort kann die Lohnlücke viel geringer ausfallen. In Deutschland sind wir aber auch gut darin, Dinge, die wir nicht sehen wollen, zu verdrängen – wie zum Beispiel die ungleiche Bezahlung. Und was wir nicht sehen, können wir nur schwer oder gar nicht ändern.
Andere Länder sind da schon weiter: Island hat ein Gesetz zu fairer Bezahlung. Dort müssen Unternehmen offenlegen, wie es um die Entgeltlücke steht. Auch in Großbritannien gibt es Gehaltstransparenz…
Transparenz ist alles! In Dänemark und anderen nordischen Ländern kann man die Gehälter teilweise online einsehen. Gesetzlich gibt es viel mehr Möglichkeiten, sich mit dem Thema und der Schließung der Gehaltslücke zu beschäftigen und diese zu bekämpfen. Unsere Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Gender Pay Gap bis 2030 zu schließen. Wenn es aber an Richtlinien und den richtigen Werkzeugen fehlt, ist klar, dass wir das nicht schaffen. Regierungen in Island, Finnland oder Schweden sind uns da weit voraus, die wollen tatsächlich etwas verändern.
Also ist es vor allem ein politisches Problem?
Wenn mehr politische Machtpositionen, wie das Wirtschafts- oder Finanzministerium, mit Frauen besetzt wären, würden wir eher an diesen Stellschrauben drehen. Bisher lassen wir diese Möglichkeiten aber außer Acht. Für die Machthaber ist es einfacher, Symbolpolitik zu betreiben, als sich für gleiche Bezahlung einzusetzen. Wir reden seit Jahren darüber, aber es würde viel mehr bringen, diese Vorhaben wirklich in die Tat umzusetzen. Bisher arbeitet vor allem das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend daran – wir brauchen aber Kollaborationen über alle Ministerien hinweg.
2006, als die Erhebung gestartet wurde, betrug der geschlechterspezifische Verdienstunterschied noch 23 Prozent.
Die Gender Pay Gap schließt sich also sehr langsam …
Wir haben fünf Prozent in 16 Jahren gewonnen – aus wirtschaftlicher Sichtweise ist das lächerlich. Das kann man nicht mal als Inflationsausgleich bezeichnen… Wäre ich in einem Unternehmen in der Privatwirtschaft für die Schließung der Lohnschere verantwortlich, dann würde ich für solche Ergebnisse direkt gefeuert werden. Mehr Desinteresse würde nur einer totalen Arbeitsverweigerung gleichkommen.
Was muss also getan werden, um faire Bezahlung und Chancengleichheit zu realisieren?
Hört auf zu reden und tut endlich was! Es kann nur mit Transparenz in allen Unternehmen gelingen. Und weil das nicht ausreicht, muss es gesetzliche Richtlinien geben – wir dürfen unsere KMU mit dieser großen Veränderung nicht allein lassen. Unternehmen müssen sich außerdem dazu verpflichten, Frauenquoten mit vertretbaren Zielen einzuhalten. Null ist keine Quote! Wir müssen uns reale Ziele setzen und entsprechende Maßnahmen überlegen sowie finanzieren. Falls wir diese Ziele nicht erreichen, müssen wir die Maßnahmen und Prioritäten hinterfragen – und nicht einfach aufhören.
Halten Sie Frauenquoten in Unternehmensvorständen für ein wirksames Instrument?
Ich bin absolut für eine Quote und der festen Überzeugung, dass es bei dem momentanen Widerstand ohne sie keinen Fortschritt gibt. Allerdings sind die aktuellen 30 oder 40 Prozent nicht genug, wie Christine Wolf von Hochtief erst kürzlich beim FidAR Forum gesagt hat. Es müssen mindestens 50 Prozent sein – wir geben uns sonst mit dem kleinsten Stück vom Kuchen zufrieden, um überhaupt etwas abzubekommen. Kein Wunder, dass sich da nichts ändert. Wir brauchen Quoten, die das tatsächliche Ziel repräsentieren und Sinn machen, nicht solche, die uns degradieren.
Unabhängig von gesetzlichen Bestimmungen – wie können Equal Pay-Modelle ein Anreiz für Unternehmen sein?
Es wäre sinnvoll, das Gehalt bereits in der Stellenbeschreibung anzugeben, Formeln, nach denen es berechnet wird, offenzulegen und aufzuzeigen, in welchem Tätigkeitsfeld man welches Gehalt erwarten kann. Bei der Führung von Mitarbeiter:innen gibt es natürlich einen Zuschlag – aber wann ist er noch gerechtfertigt? All diese Maßnahmen verringern Diskussionen und Demotivation, sie verhindern, dass Mitarbeiter:innen gehen, weil sie sich nicht wertgeschätzt fühlen. Außerdem ist es viel kostspieliger, Stellen neu zu besetzen, als Angestellte fair zu bezahlen. Das Know-how, das die Unternehmen verlieren, und die Zeit, die sie für die Suche und das Onboarding neuer Mitarbeiter:innen aufwenden, übersteigt das Budget, das sie für gleiche Bezahlung investiert hätten.

Gibt es Unternehmen, die Gehaltstransparenz bereits leben?
Da fällt mir direkt SAP ein. Im internationalen Kontext außerdem mein Arbeitgeber, Philip Morris International, der sich bereits 2019 Equal Salary-zertifiziert hat. Auch jenseits der Global Player gibt es sicherlich viele Unternehmen, die sich für das Thema einsetzen, weil sie wissen wie wichtig Gehaltstransparenz für die Mitarbeiter:innen-Bindung ist.
Am 7. März findet der Equal Pay Day, initiiert vom BPW, statt. Welche Ziele haben Sie sich für dieses Jahr gesteckt?
Dieses Jahr geht es um die Kunst der gleichen Bezahlung – wir schauen also auf die Kreativwirtschaft. Der Pay Gap ist hier noch größer, er liegt bei 20 Prozent. Als drastisches Beispiel fällt mir der Gerichtsstreit zwischen Til Schweiger und Anika Decker ein, die die Drehbücher für Keinohrhasen und Zweiohrküken geschrieben hat. Die Skripte wurden billig eingekauft, die Filme zu Kassenschlagern. Sie wurde zunächst nicht am Gewinn beteiligt, sondern musste sich einen Anteil daran vor Gericht erkämpfen. Es geht am 7. März also darum, Frauen in der Kunst und Kultur mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Denn Frauen werden nur halb so oft ausgestellt oder als Expertinnen in TV-Shows eingeladen. Rollen, die von Frauen gespielt werden, sind oft stereotypisch – wie die nervige Schwiegermutter, böse Hexe oder anhängliche Freundin. Wir sind aber weit
mehr als das.