Der erfolgreiche Industrielle und Erfinder Werner von Siemens und der Universalgelehrte Hermann von Helmholtz gehörten zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Beide verband eine enge Freundschaft, durch die Heirat zweier Kinder rückten ihre Familien sogar offiziell beurkundet zusammen. Doch auch jenseits des Privaten verfolgten die beiden klugen Köpfe gemeinsame Ziele. Die rasant fortschreitende Industrialisierung – insbesondere die Elektrotechnik – machte präzisere Messtechnik und die internationale Festlegung einheitlicher Maßeinheiten notwendig. Eine Aufgabe mit der Universitäten und Unternehmen gleichermaßen überfordert waren.

Die Initiative einiger preußischer Wissenschaftler:innen blockte der Staat zunächst ab. Erst als von Siemens Grundstück und Bau des Gebäudes stiftete, beschloss der Reichstag die Gründung der ersten staatlich finanzierten außeruniversitären Großforschungseinrichtung, die Dienstleistungen für die Industrie erbrachte. Aus der 1887 geschaffenen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR) mit Sitz in Charlottenburg wurde am 1. April 1950 die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig mit einem Zweitsitz in Berlin.
In einem kleinen Besprechungsraum auf dem weitläufigen Braunschweiger Forschungsgelände – direkt neben einem beeindruckend großen Versuchsstand – treffen wir gut 135 Jahre nach den Anfängen der PTB Prof. Dr. Cornelia Denz. Sie ist die erste Präsidentin in der Geschichte der Einrichtung und mit dieser erstaunlich gut vertraut, obwohl sie erst einige Monate im Amt ist. Im Gespräch schlägt die Physikerin den weiten Bogen zwischen der dritten und vierten industriellen Revolution in Deutschland, betont: „Wir stehen als Gesellschaft vor ganz ähnlichen Herausforderungen wie damals bei der Gründung der PTB.“
Und so fordert Denz wie die PTB-Gründerväter eine neue Einrichtung – und zwar das Innovationszentrum für systemische Metrologie, das sich mit komplexen Netzwerken von Sensoren beschäftigen soll und zunächst auf drei Bereiche konzentriert: Mobilität, Stadt der Zukunft und personalisierte Medizin. „Das Ziel ist, Innovationszyklen zu verkürzen und „Made in Germany“ in die Zukunft zu führen. Als Behörde, die die PTB für die Metrologie ist, können wir nicht so agil in enger Kooperation mit der Industrie arbeiten, wie es diese Themen erfordern.“
Auch wenn Sie noch nicht furchtbar lange hier sind, können Sie uns etwas zur Geschichte der PTB erzählen?
Ja, sie ist vor 135 Jahren in Berlin entstanden – 1887. Es gab Universitäten, an denen man geforscht hat, aber es gab keine Einrichtung, die diese Forschung für die Industrie zugänglich gemacht hat. Damals haben sich der Universalgelehrte Hermann von Helmholtz und der Industrielle Werner von Siemens zusammengetan und sind an die preußische Regierung herangetreten …
… und, war diese überzeugt?
Nein, sie fand die Initiative nicht so wichtig. Also hat von Siemens ein Grundstück für das Vorhaben spendiert, aber das hat immer noch nicht gereicht. Daher hat er das Gebäude auch noch auf eigene Kosten gebaut. Erst dann hat die Regierung grünes Licht gegeben.
Das heißt, ohne diese beiden Gründerväter und ihren Willen hätte es keine Physikalisch-Technische Reichsanstalt gegeben?
Vielleicht später, aber damals brauchte es zwei Personen, einen Universalgelehrten und einen Industriellen, die beide die Wichtigkeit der Messtechnik für Wissenschaft und Industrie erkannt haben. Das finde ich so bemerkenswert!

An den Rathäusern historischer Altstädte findet man heute noch oft die Elle als Maßeinheit. Wie wichtig war es eigentlich für das gemeinsame Wirtschaften und Handeln, dass man sich auf ein einheitliches Maß verständigt hat?
Enorm wichtig. Es gab im Mittelalter und in der Neuzeit nicht nur eine Elle, sondern jede Stadt hatte ihre eigene Länge – sozusagen jedem Ländchen sein Quäntchen. Da war Handel über Regionen hinaus kaum möglich. Dasselbe galt für die Masse. Es gab sehr viele verschiedene Maße – beispielsweise auch den Scheffel. Erst die Französische Revolution hat den Geist entwickelt, dass auch Maße „für alle Zeiten und für alle Völker“ gleich sein sollten. So kam der Meter ins Spiel, und das Kilogramm. Das waren zunächst alles reale physikalische Längen und Gewichte und weil die Initiative zu dieser Revolution aus Frankreich kam, lagen alle diese Maßverkörperungen in Paris. Also hat man vom französischen Urmeter Kopien angefertigt und auf der ganzen Welt verteilt. Solche makroskopischen Verfahren fanden übrigen bis 2019 Anwendung …
Kaum vorstellbar …
Stimmt. Und die Verfahren hatten eine Schwäche, denn wenn Sie beispielsweise das Urkilo kopieren wollten, bestand immer die Gefahr, dass Sie es dadurch verändern. Deshalb hat man angefangen, die Einheiten mittels Naturkonstanten zu definieren.
Sind mittlerweile alle Einheiten vermessen und auf Naturkonstanten zurückgeführt?
Mit dem neuen Internationalen Einheitensystem kann man seit 2019 sieben Basiseinheiten auf Naturkonstanten zurückführen und viele andere Größen daraus ableiten. Nehmen Sie die Kraft, die in Newton gemessen wird, das wiederum mit dem Meter, dem Kilogramm und der Sekunde verknüpft ist.
Wie lässt sich die Sekunde denn konkret auf eine Naturkonstante zurückführen?
Das ist etwas kompliziert …
… darauf lassen wir uns gern ein.
Okay. Naturkonstanten sind fest, überall auf der Welt, selbst im Universum. So hat man es definiert, aber man muss es natürlich trotzdem noch messbar machen. Die Franzosen nennen das mise en pratique. Für die Zeit misst man zum Beispiel die Schwingungen von einem Cäsiumatom, das man mit Mikrowellen anregt. Die Schwingungen der Elektronen in diesem Atom passieren über neun Milliarden mal in der Zeit, die dann nun einer Sekunde entspricht, genau 9.192.631.770 mal. Es passiert ganz schön viel in einer Sekunde. Noch besser wären übrigens Lichtwellen zur Anregung der Schwingungen, weil diese schneller schwingen, damit wird es noch genauer. Genau das machen Metrologieinstitute überall auf der Welt, die Verfahren zur Messung von Naturkonstanten zu verbessern.

Ist das vor allem wissenschaftlicher Antrieb oder hat noch mehr Genauigkeit auch einen praktischen Nutzen?
Wenn Sie beim Fleischer 100 Gramm Wurst kaufen wollen, erwarten Sie, dass es am Ende nicht 90 Gramm sind. Deshalb ist das nicht nur Forschungsinteresse, sondern auch für die Wirtschaft und die Gesellschaft ein wichtiger Faktor. Wir kalibrieren einen Waagen-Typ und mit diesem prüfen dann Kalibrierlabore und stellen Siegel aus. So entsteht Vertrauen und man kann sicher sein, dass Ergebnisse über jeden Zweifel erhaben sind. Es gibt chemische Verfahren, bei denen es auf kleinste Mengen ankommt und wo die Fehlertoleranz sehr gering ist. Dasselbe gilt für die Zeit: eine präzise Sekunde ist für die Satellitennavigation und GPS unabdingbar. Wenn wir heute hochgenaue Uhren herstellen, dann kann man mit derselben Idee hochempfindliche Sensoren bauen, die kleinste Veränderungen in der Vegetation, den Gletschern oder den Ozeanküsten detektieren können. Das ist für den Klimaschutz eine sehr wichtige und nützliche Anwendung.
Gibt es ein theoretisches Optimum – also einen Punkt in Sachen Genauigkeit, an dem Sie die Hände in den Schoß legen können?
Die Frage kann man ebenfalls sehr gut anhand der Zeit beantworten: Die präzise Zeitmessung hat irgendwann mit Quarzuhren angefangen. Damals konnte man sagen, dass eine Uhr pro Jahr eine Sekunde nachgeht. Bei den herkömmlichen, aktuell die Zeit bestimmenden Caesium-Atomuhren war es dann eine Sekunde in tausenden von Jahren. Inzwischen ist man mit den neuen optisch angeregten Atomuhren so gut, dass diese Uhren, würden sie seit Anbeginn des Universums laufen, mittlerweile gerade eine Sekunde nachgehen. Und trotzdem gibt es dafür weitere Anwendungen.

Zum Beispiel?
Es handelt sich bei diesen präzisen Uhren auch um sehr empfindliche Systeme. Wenn eine solche Uhr an verschiedenen Stellen positioniert wird, reagiert sie auf den Untergrund. Damit kann eine solche Uhr auch als Sensor verändert werden und kann beispielsweise Erdveränderungen messen. Wo gibt es Ölvorkommen oder Gasblasen, wie verändern sich Gletscher, was passiert mit der Vegetation? Auch in anderen Bereichen ist dies attraktiv. Dieselben Systeme, die unsere Uhren takten, können auch eingesetzt werden, um Quantencomputer zu realisieren.
Wenn man Ihnen zuhört, könnte man denken, die PTB und ihre internationalen Schwesterinstitute stecken überall drin?
Absolut, das ist so. Viele der Verfahren, die wir entwickeln, definieren die Einheiten, die unser tägliches Leben bestimmen. Dafür könnte ich viele Beispiele nennen. Nehmen Sie vielleicht dieses Gebäude, in dem wir uns gerade befinden. Unten in der Halle befindet sich ein weltweit einzigartiges Messystem, das wir gebaut haben, um die Hebelkräfte zu messen, die in Offshore-Windparks auf die Rotorblätter und die Gondel der Windräder wirken. Wir sprechen hier von fünf Meganewtonmeter, also fünf Millionen Newtonmeter – das sind ungeheure Kräfte und bei der nächsten Generation Windrad sollen es sogar 20 Meganewtonmeter sein.

Was würden Sie sagen: War es Rückblickend eine gute Idee, die PTB ausgerechnet in Braunschweig neu zu gründen?
Zunächst gab es hier das Gelände der früheren Luftfahrtforschungsanstalt Völkenrode, die mit Ende des zweiten Weltkriegs geschlossen wurde, es war also Platz da und wir können uns bis heute auf diesem Gelände immer weiterentwickeln. Wir haben auch noch einen zweiten Standort in Berlin, mit den historischen Gebäuden in Charlottenburg, dort sind wir räumlich sehr begrenzt – dafür eben mitten in der Hauptstadt und nah dran an der Politik. Es sind zwei Standorte, die so verschieden sind, dass sie sich fantastisch ergänzen und die PTB gemeinsam mit unserer Metrologie-Lichtquelle in Berlin-Adlershof abrunden.
Hat Braunschweig denn auch einen Nachteil? Gelingt es Ihnen Forscher aus dem Ausland hierher zu holen?
In der internationalen Metrologie-Community ist die PTB sehr bekannt und hoch anerkannt. Spezialisten zu finden, die hier an einem Themengebiet arbeiten, ist deshalb nicht das Problem. Wir haben dazu auch ein eigenes Gästehaus. Schwieriger ist es, Fachpersonal aus den Bereichen Technik, Elektronik oder Informatik zu finden.
Sind Sie als Arbeitgeber nicht attraktiv genug?
Man muss Menschen von außerhalb schon von Braunschweig überzeugen. Und wenn jemand erstmal hier ist, gibt es viel Konkurrenz, Volkswagen zum Beispiel. Und hier haben wir ein Handicap: Wir sind eine Behörde. Obwohl wir forschen, obwohl wir eng mit der Industrie zusammenarbeiten – Behörden sind nicht konkurrenzfähig mit Industriegehältern.
Sie selbst kommen aus Münster …
… stimmt. Münster ist eine Stadt, die von sich selbst sagt, dass sie sehr lebenswert sei und sie ist mit dieser Botschaft sehr erfolgreich. Und Braunschweig? Hat eine fantastische Innenstadt, eine einmalige Forschungsdichte, viel Grün und ist genauso lebenswert – die Stadt muss sich nicht verstecken, vielleicht nur mehr für ihren Ruf tun. Das hätte sie verdient.
Die PTB ist in der breiten Öffentlichkeit vor allem für ihre Atomuhren bekannt. Gibt es einen heimlichen Star, den Sie an erster Stelle sehen würden?
Das ist schwer, denn es gibt sehr viele Stars. In Berlin zeigen wir, dass wir nicht nur große Dimensionen, sondern auch ganz kleine messen können – zum Beispiel für die Herstellung von neuartigen Computerchips. Wir sprechen von Dingen, die millionenmal kleiner sind als ein Haar. Deshalb haben wir dort auch Messmethoden, mit denen wir extrem kleine Magnetfelder messen können. Wenn Sie zum Beispiel am Vortag eine schwarze Olive essen würden – diese enthalten winzige Magnetpartikel – dann könnten wir das in unseren Räumlichkeiten nachvollziehen. Faszinierend, oder?
Was glauben Sie, warum sind solche Spitzenforschungsthemen in der Bevölkerung kaum bekannt? Weil sie so komplex sind?
Zu vielen wichtigen Themen, wie beispielsweise der Klimaerwärmung, gibt es sehr viel politisches Wissen, gerade bei den jungen Menschen. Das technische Know-how – die Hintergründe, wie Dinge funktionieren – fehlt aber oft. Und das treibt mich schon um, denn um eine sinnvolle politische Entscheidung treffen zu können, müssen Sie schon verstehen, wie die wissenschaftlich-technischen Zusammenhänge aussehen.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen Sie die Frage, ob man Windkrafträder in der Nähe des eigenen Wohnhauses spürt. Die Diskussion um nicht hörbaren Infraschall ist oft sehr emotional, aber wir haben den Anspruch, das zu messen und richten dazu derzeit eine Professur mit der TU Braunschweig ein. Eine andere politisch wichtige Frage konnten wir kürzlich erfolgreich lösen. Früher mussten Windkrafträder mindestens 15 Kilometer Abstand zu Funkradarstationen halten. Diese gibt es zum Beispiel auch in der Nähe von Flughäfen. Wir haben das Thema mit Drohnen untersucht und herausgefunden, dass weniger als die Hälfte Abstand genügt. Diese Beispiele zeigen, wie wir unsere Aufgaben verstehen: Messverfahren zu nutzen, um objektive Grundlagen für politische Entscheidungen zu schaffen.
Als eine Art Politikberater?
Genau. Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe an, der Politik zu sagen, auf welche Energieform sie setzen sollte. Aber wir können messen, wie effizient Solarzellen sind und wie schnell sie altern, oder welche Motoren Windräder brauchen, damit sie nicht auseinanderbrechen.

Bei all dem Hintergrundwissen zur Energiewende, das Sie haben – wie optimistisch sind Sie eigentlich, dass diese gelingt?
Wir können die Wende nicht beschleunigen, nur die besten Wege aufzeigen und mit effektiven Messverfahren dazu beitragen, den Fortschritt zu messen …
… und doch müssten Sie ja tiefe Einblicke haben …
Das ist richtig. Fragen der Energiewende, des Klimawandels und der Nachhaltigkeit haben mich schon in meiner Arbeit an der Universität Münster interessiert. Dort haben wir Schülerinnen und Schüler spielerisch Nachhaltigkeitswissen über spannende Experimente vermittelt. Vor einem Jahr hätte mich die Situation zuversichtlich gestimmt. Jetzt sind wir durch den von Russland ausgelösten furchtbaren Krieg in einer Krise, durch die uns von außen die Reduzierung von Gas aufgezwungen wird, in einer Situation, in der wir noch nicht genügend regenerative Alternativen haben. Das verlangsamt die Wende enorm und wirft uns sogar zurück. Das sollten wir uns immer klar machen, wenn frühere Energieformen dieser Tage eine Renaissance erfahren.
Was schlagen Sie vor?
Sicher steckt die Regierung gerade in einem ganz furchtbaren Dilemma. Aber ich denke, dass wir bei all den aktuellen Herausforderungen die Klimafrage nicht außer Acht lassen dürfen. Denn wenn wir mit dem Zwei-Grad-Klimaziel nicht hinkommen werden wir mit sehr viel mehr extremen Wetterphänomenen zu tun haben, als wir es uns heute vorstellen können. Wir stehen als Gesellschaft vor ganz ähnlichen Herausforderungen, wie damals bei der Gründung der PTB …
… und Sie wollen gern ihrerseits ebenfalls eine neue Einrichtung schaffen, oder?
Genau, ein Innovationszentrum für systemische Metrologie, das sich auf komplexe Systeme mit Sensornetzwerken in drei Themenbereichen konzentriert – die Mobilität, Stadt der Zukunft und die personalisierte Medizin. Das Ziel ist, Innovationszyklen zu verkürzen und „Made in Germany“ in die Zukunft zu führen. Als PTB können wir nicht so agil in enger Kooperation mit der Industrie arbeiten, wie es diese Themen erfordern.
Wie begegnet man Ihnen eigentlich, wenn Sie bei Tesla oder VW anrufen? Wie einer lästigen Bundesbehörde, die Dinge kontrollieren will oder werden Sie mit offenen Armen empfangen?
Man freut sich tatsächlich. Wir planen zum Beispiel, in Braunschweig ein Innovationszentrum für autonomes Fahren zu realisieren, in dem wir besonders raue Bedingungen für autonome Fahrzeuge simulieren können: Eine Kreuzung voll mit blinkender Reklame, außerdem können Sie Regen oder Nebel simulieren. Die Autohersteller wären alle sofort dabei, aber das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ist noch nicht ganz überzeugt. Das ist wie damals bei Helmholtz und von Siemens: Das Verständnis, warum ein solches innovatives Projekt auch für die Wirtschaft gewinnbringend ist, muss noch wachsen.
Man hört immer wieder heraus, dass die Politik Ihnen zu langsam oder zu wenig visionär ist …
Der Wille, große und langfristige technologisch-gesellschaftliche Themen anzugehen, fehlt manchmal aufgrund des Tagesgeschäfts und kurzfristiger Herausforderungen. Natürlich ist die Politik vielstimmig, aber innerhalb dieser Vielstimmigkeit würde ich mir manchmal mehr wissenschaftstechnische Expertise wünschen. Ist es sinnvoll, die Laufzeit von Kernkraftwerken zu verlängern? Sollte man Braunkohlewerke wieder anschalten? Dazu haben viele eine Meinung, aber eine wissenschaftlich-technische Fundierung wird oft nicht herangezogen.
Die Debatten sind Ihnen zu emotional und ideologisch?
Ganz so würde ich es nicht formulieren. Viele Fakten sind bekannt und werden auch eingebracht. Aber Personen, die wissenschaftlich fundierte Positionen vertreten, sehen sich oft sehr unsubstantiierter Kritik ausgesetzt. Das hat man zuletzt in der Debatte um die Corona-Maßnahmen gesehen.
Ärgert Sie diese Rollenverteilung?
Gegenwärtig wird die Wissenschaft oft zum Überbringer schlechter Nachrichten stilisiert. Was sie aber liefert, sind objektive Fakten. Und diese müsste eigentlich die Politik interpretieren und ihre Entscheidungen öffentlich vertreten. Stattdessen lässt man die Wissenschaft damit in der Auseinandersetzung der Fakten in der Öffentlichkeit eher alleine. Und dort findet man oft eine Wissenschaftsgleichgültigkeit, manchmal auch eine ausgeprägte kritische Haltung gegenüber jeder Wissenschaft.
Was sollte man gegen diese neue Wissenschaftsskepsis tun?
Das ist eine schwierige Frage. Wissenschaftskommunikation ist dazu ein Schlüssel, und viele Einrichtungen haben hier in den letzten Jahren dazugelernt. In Wissenschaftsfestivals, Formaten mit Speed-Dating mit der Forschung oder Vorträgen „mitten im Leben“ in den Innenstädten oder in Schulen helfen, die Wissenschaft greifbarer zu machen. Was man kennt und versteht, erfährt auch weniger Skepsis. Ich denke aber auch, dass die Bevölkerung noch stärker lernen muss, zwischen tatsächlichen und Pseudofakten zu unterscheiden. Das ist eine Bildungsfrage und fängt in der Schule an.
Nun gibt es aktuelle Herausforderungen, wie den Klimawandel, die sich international nur gemeinsam lösen lassen. Und die wunderbar von Ihnen beratene deutsche Regierung trifft auf Präsidenten, die den Klimawandel schlichtweg leugnen. Damit fehlen politische Mehrheiten …
Das ist ein viel größeres Problem. Es ist wichtig, dass wir zu bestimmten Fragen eine globale Haltung entwickeln, die wissenschaftsbasiert sein muss, und diese auch gegen solche Personen verteidigen.

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie Präsidentin der PTB geworden sind? Was haben Sie damals gedacht und gefühlt?
Wenn man für eine solche Position vorgeschlagen wird, gibt es verschiedene Interviews. Erst auf der Ebene der Kuratoren der PTB, dann auf der Ebene der Staatsekretäre, und schließlich mit dem Minister für Wirtschaft und Energie selbst. In diesem Gespräch ist mir noch einmal klar geworden, wie sehr ich die Physik aber auch das Management liebe, also in einer großen Einrichtung etwas zu bewegen. Beides zu verbinden, ist an relativ wenigen Orten möglich. Und die PTB ist einer davon. Das begeisterte mich von Anfang an, und jetzt, nachdem ich vieles etwas besser kenne, noch mehr.
Top-Trainern im Fußball sagt man nach, dass sie Stars verstehen und daraus ein Team formen können. Wie ist das bei Spitzenforscher:innen?
Ganz ähnlich. Sie bewegen sich hier in Strukturen mit exzellenten Personen, die besser als andere in ihrem Bereich Bescheid wissen. Solche Menschen sind von sich überzeugt, starke Charaktere und denken nicht sofort, „ich mache jetzt mal genau das, was die Chefin sagt“. Das bedeutet aber auch, dass solche Spitzenkräfte sich mit all ihrer Kreativität und Kompetenz ein- und die PTB weiterbringen. Denn am Ende haben wir alle das gleiche Ziel und das eint uns wieder. Und wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Ganz so divenhaft wie Profifußballer und -trainer sind wir vielleicht auch nicht. Das ist eine Kategorie sanfter bei uns (lacht).
Ihren Führungsstil beschreiben Sie als „strukturiertes Bottom-up“. Wie breit ist der Korridor, in dem sich die Leute bewegen dürfen?
Das hängt von den Fragen ab. Wenn es darum geht, die PTB in Richtung Zukunft zu entwickeln, hat der Korridor schon eine gewisse Schmalheit. Denn wir haben finanzielle Spielräume, die uns von außen auferlegt werden, und müssen Prioritäten setzen. Bei der inhaltlichen Arbeit dagegen braucht es viel Freiraum. Man muss zuhören, verschiedene Ideen zusammenbringen, dann kann es richtig gut fliegen.
Zu TU-Präsidentin Angela Ittel sagte jemand aus der Findungskommission: „You are the next hot thing, next to the Oberbürgermeister.“ Wo steht die PTB-Präsidentin in der Hackordnung der Stadt?
Tatsächlich glaube ich, dass wir beide weit oben stehen, und das ist ein Vorteil. In Städten mittlerer Größe sind wir ein großer Arbeitgeber, die Universität ist das auch. Dadurch werden wir gesehen und haben es einfacher, gemeinsam voranzukommen – und die Stadt sichtbarer zu machen. Und wer am Ende auf Platz zwei oder drei steht, das sehen wir dann (lacht).
Gibt es Momente im Alltag, in denen Ihnen neu bewusst wird, dass Sie nicht mehr Professorin in Münster, sondern Präsidentin der PTB sind?
In Münster war ich als Prorektorin einer großen Universität schon exponiert, aber mir ist vollkommen klar, dass ich als Präsidentin der PTB eine besondere Rolle habe. Das Amt gibt Autorität, aber nichts ist gefährlicher als eine Führungsperson, die sich in einer Blase aus Bestätigung einrichtet. Meine Aufgabe ist es, auch diejenigen zu ermutigen, die anderer Meinung sind.
Ist es für Sie ein Thema, dass Sie die erste Frau an der Spitze der PTB sind?
Es ist ein Thema, aber kein großes für mich, weil ich schon oft in meinem Leben die erste oder einzige Frau war. Im Physikstudium waren wir wenige, in der Arbeitsgruppe für die Diplomarbeit war ich allein. Das blieb auch während der Promotion so. Damit leisten Sie automatisch Pionierarbeit. Zur Wahrheit gehört aber auch: In all diesen Stufen ist mir Diskriminierung begegnet.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe relativ früh angefangen, darauf zu reagieren, manchmal sehr deutlich, manchmal sehr ernst oder mit einer Portion Humor. Das kann natürlich Veränderungen anstoßen. Außerdem ist es wichtig, dass man sich mit denjenigen vernetzt, die sich ebenfalls in einer solchen Position befinden. Das passiert auch hier, wir sind einige Präsidentinnen in Braunschweig und wir vernetzen uns. Und innerhalb der PTB ist mir das Thema sehr wichtig. Ich dulde keine Form von Diskriminierung.

Inwieweit hat es Sie geprägt, dass Sie früh in Ihrem Leben sichtbar anders waren, als die männliche Mehrheit in Ihrem Umfeld?
Es gibt Menschen, die daran verzweifeln, aber es kann auch sein, dass es einen stärkt – gerade wenn man in einem Umfeld lebt, das einen unterstützt. Das haben meine Eltern immer getan. So konnte ich nach und nach verstehen, dass nicht ich diejenige bin, die falsch ist, sondern dass die Menschen, die mich diskriminieren, einfach in ihrem Weltbild hinterherhängen. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Kein Mensch ist defizitär.
Schützt Ihr Amt Sie vor Diskriminierung?
Sie können sich mal anschauen, was in den letzten Monaten und Jahren mit Frauen in Führungspositionen passiert ist, auch in der Wissenschaft, wenn diesen ein Fehlverhalten angekreidet wurde. Natürlich ist es wichtig, das zu ahnden, aber die Folgen sind bei Männern und Frauen erkennbar verschieden. Es gibt inzwischen sogar eine europaweite Initiative, um das zu beobachten, weil in letzter Zeit mehrere Max-Planck-Direktorinnen entlassen wurden, Männer aber in vergleichbaren Fällen nach Gesprächen in ihrem Amt belassen wurden.
Das heißt, es hört nie auf?
Frauen werden auch in Führungspositionen kritischer betrachtet. Im Endeffekt geht es darum, dass Männer und Frauen um eine Stelle konkurrieren – und dabei wird mit harten Bandagen gekämpft. Aber das ist nicht nur beim Geschlecht so. Wir sehen auch, dass nur wenige Menschen mit diversen sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten, mit verschiedenen Religionen, Herkünften oder Hautfarben oder aus allen sozialen Schichten in Führungspositionen kommen. Und wenn sie es geschafft haben, werden sie oft viel kritischer betrachtet und bewertet. Schauen Sie sich mal die Berichterstattung in Großbritannien an, wo eine Frau und ein indisch-stämmiger Mann um das höchste Amt im Land miteinander konkurrieren und was in der Presse passiert. Beide seien nicht hundertprozentig geeignet. Aber Boris Johnson war es?
Was treibt Sie neben der Physik noch um?
Ich mache sehr gerne Sport. In jungen Jahren habe ich viel getanzt, Modern Dance oder Jazz Dance. Das kann ich zeitlich nicht mehr einrichten, deshalb laufe ich gerne oder fahre mit dem Rad.
Fühlen Sie sich angekommen in Braunschweig?
Ja, tatsächlich. Und nicht nur an der PTB. Auch regional sind wir angekommen. Wir wohnen gerne und nahe an der PTB in Watenbüttel und lieben es, an der Oker spazieren zu gehen.

Gekommen, um zu bleiben …
Ja. Das war auch bisher in allen meinen Positionen der Fall. Ich bin niemand, der gut im Pendeln ist. Ich muss vor Ort sein. Auch mein Mann ist angekommen. Wir sind beide Sammler – mir haben es historische Füller angetan …
… zum Beispiel der Marke Pelikan?
Genau. Die sammle ich auch sehr gerne.
Wie viele haben Sie?
Bestimmt 300 bis 400 von verschiedene Marken. Aber momentan ist es schwierig, die Amerikaner haben Füller für sich entdeckt, das verdirbt den Markt (lacht).
Und Ihr Mann?
Er sammelt mechanische Rechenmaschinen, seine Sammlung ist zu groß, wenn Sie mich fragen. Das merken wir gerade beim Umzug (lacht).
In Braunschweig wurde die Brunsviga entwickelt …
Genau, deshalb war mein Mann sofort begeistert, als klar wurde, dass ich die Präsidentin der PTB werde, „dort, wo die Brunsviga herkommt, kann es nur schön sein.“ Am Ende ist er deshalb vielleicht sogar noch einen Tick vor mir in Braunschweig angekommen.