„… wenn du Lust auf Verantwortung hast, zeigen willst, was in dir steckt. Wenn du noch einmal selbst Hand anlegen und finanziell unabhängig, aber dennoch gewollt und benötigt sein möchtest …“, heißt es in dem Papier, das eines Tages in meinem Mailpostfach auftaucht – weitergeleitet von einem Kontakt aus dem Stiftungsumfeld. „Dies ist nicht die Stellenbeschreibung für die Geschäftsführungsposition. Es sind nur ein paar Gedanken, die mir durch den Kopf gehen“, schreibt der gegenwärtige Geschäftsführer der Neuland Stiftung weiter. Gerade ist er auf der Suche nach einem Nachfolger und das erkennbar reflektierte wie offene Schreiben macht neugierig – nicht zuletzt, weil es auffallend anders daherkommt.
Zwei Wochen später sitzt mir Herbert Haun in seinem Haus in Lehre gegenüber und erzählt davon, wie er die ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH mitgründet und später durch einen Schicksalsschlag in die Non-Profit-Szene gerät. Die Braunschweiger Signaltechnik-Sparte des Weltunternehmens Siemens spielt in dieser Geschichte eine besondere Rolle. Hauns Vater ist dort als Techniker beschäftigt und mit seinen Geschwistern und der Mutter geht er ihm als Kind regelmäßig entgegen, wenn der Feierabend ansteht. „Da sind wir immer an der Schranke in der Braunschweiger Grünewaldstraße vorbeigekommen und ich habe gelernt, dass mein Papi diese Signale herstellt. Das fand ich spannend“, erinnert Haun sich. Der Funke springt über.
Bei Siemens – aber auch nicht
Er studiert Elektrotechnik an der TU Braunschweig und landet als Werkstudent bei Siemens, weil er seinen Eltern nicht auf der Tasche liegen will. Als er dort nach dem Abschluss anfangen möchte, gibt es einen Einstellungsstopp und der Absolvent wird an die gerade aus der TU Braunschweig ausgegründete Gesellschaft für Systemtechnik und Software- Entwicklung (GSSE) verwiesen, um dort für Siemens das elektronische Stellwerk mitzuentwickeln. „Das war ein sehr familiärer Laden und ich hatte witzigerweise die gleichen Chefs, wie damals als Werkstudent.“
Haun arbeitet erst als Softwareentwickler, dann Tester, wird Team- später Gruppenleiter und findet Geschmack daran, mit Menschen umzugehen. „Vorher arbeitete ich relativ zurückgezogen. War ein Denker, wollte mein Ding machen und allen beweisen, dass ich der Beste bin, aber möglichst nicht dabei gestört werden.“ Er überlegt und erzählt, dass das schon in der Schulzeit so ist – davon, dass er stets die Hausaufgaben erledigt und seine Mitschüler abschreiben lässt, im Sport aber als letzter gewählt wird. „Ich war ein spezieller Typ – durchaus beliebt, aber viel konnten die meisten wohl nicht mit mir anfangen.“
Geschäftsführer mit 39 Jahren
Bei der GSSE lernt er schnell „on the Job“, beobachtet die Prozesse und Abläufe des Dienstleistungsgeschäfts, reimt sich zusammen, was wichtig ist und stößt irgendwann an Entwicklungsgrenzen. „Die wollten, dass ich eine Art Unternehmensberater werde, darauf hatte ich aber keinen Bock.“ Also zieht es den 39-Jährigen nach Hannover, wo er Geschäftsführer einer Firma wird, die Software für die Automatisierung von Lagern programmiert und zum schwedischen Elektrolux-Konzern gehört.
„Ich hatte einen kaufmännischen Mitgeschäftsführer, der in der Deutschland-Zentrale in Siegen saß, und einen operativen Mitgeschäftsführer in Wipperfürth bei den Leuten, die die Lagertechnik gebaut haben. Der Gesellschafter-Vertreter saß direkt im Headquarter in Stockholm und führte von dort aus mit einer halben Sekretärin und einem halben Qualitätsmanager 40 kleine Firmen wie meine und darüber gab es nur noch die Eigentümerfamilie. Das hat mich wirklich schockiert und mir zugleich sehr gut gefallen.“ Er lacht und schaut durch die mächtige Glasfront des Hauses in den kunstvoll gestalteten Garten am Rande des Ortes.
Die weißen Waren bringen das Aus
Als Elektrolux allerdings entscheidet, die weißen Waren – also Kühlschränke, Waschmaschinen und Co. – von AEG zu übernehmen, soll der Deal mit dem Verkauf von Sparten jenseits der Haushaltsgeräte gegenfinanziert werden. Hauns Unternehmen mit 35 Mitarbeiter:innen geht an ein norwegisch-amerikanisches Unternehmen mit Sitz auf den niederländischen Antillen – „eine Heuschrecke. Wir kriegten jeden Abend unsere Konten auf Null gestellt, und das Geld verschwand irgendwo. Das waren wirklich Wikinger, die wirtschaftlich die Welt erobern wollten.“
Haun denkt daran hinzuschmeißen, er hat Gewissensbisse und leidet unter dem Geschäftsgebaren der neuen Eigentümer. In dieser Zeit trifft er einen alten Bekannten aus GSSE-Zeiten, und klagt ihm sein Leid. Der rät: „Komm bloß nicht auf die Idee zu kündigen, lass dich rausschmeißen, damit du mit der Abfindung etwas Neues starten kannst.“ So sollte es kurze Zeit später kommen. Der junge Geschäftsführer wird für ein halbes Jahr freigestellt und kassiert eine „aus heutiger Sicht bescheidene“
Abfindung.
Ein hoher Preis führt zur Gründung
Die beiden haben schließlich die Idee, ein Softwarehaus mit 25 Mitarbeiter:innen in Braunschweig zu kaufen. Außerdem ist ein ehemaliger Chef aus der GSSE als Berater an Bord. Der Eigentümer möchte allerdings vier Millionen D-Mark haben – zu viel. Nach dem ersten Glas Rotwein wird das Projekt von den drei Mitstreitern begraben – nach dem zweiten schlägt Haun einen alternativen Weg vor: „Mit unserer Erfahrung, sollten wir es doch schaffen, ein Unternehmen in ähnlicher Größe in drei Jahren aufzubauen, oder?“ Zunächst Schweigen. Doch am Ende stimmen alle zu und jeder legt 50.000 D-Mark Startkapital auf den imaginären Tisch, auf dem an diesem Abend die Gründung der ESE GmbH beschlossen wird.
„Wir wussten zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht, was wir genau machen wollen, es gab keinen Businessplan, aber viel Bock darauf, selbstständig zu sein. Trotzdem sind wir alle sehr unterschiedlich an die Sache rangegangen.“ Ein Gründer ist damals im Vorruhestand und darf nur 613 D-Mark pro Monat verdienen, der andere bleibt zunächst als Angestellter bei seinem damaligen Arbeitgeber und ist nur als Gesellschafter dabei – „und ich fand mich plötzlich als einziger, der auch wirklich Zeit hatte, in dieser neuen Firma wieder.“
Start im Esszimmer in Wolfenbüttel
Der Start ist improvisiert. Los geht es im Esszimmer eines Gründers in Wolfenbüttel, weil man dort zumindest Gäste empfangen kann. Zunächst soll das Netzwerk helfen. „Aber davon kann ich allen, die gründen wollen, nur abraten. Alte Bekannte helfen nicht weiter. Entweder sind sie neidisch, weil ihr jetzt etwas macht, was sie sich nie getraut haben, oder sie haben Angst vor Compliance-Themen.“ Dafür hilft der Zufall – wieder einmal in Form von Siemens. Dort braucht man einen technischen Projektleiter, kann aber aufgrund eines Sparprogramms niemanden einstellen. „Und wir waren ja ein Dienstleistungsunternehmen.“ Haun nimmt einen Schluck Tee und freut sich sichtlich.
Nach einer durchdachten Nacht ist er sicher, dass er so kurzfristig niemanden für den Job findet, sondern selbst ran muss. Am nächsten Tag fängt er an – „mit dem Zugsicherungssystem des ICE 3 am Hacken.“ Ein Projekt, das zwei Jahren laufen und vier Millionen D-Mark kosten soll. Schnell stellt er fest, dass fast alle Schwierigkeiten im Projekt mit Menschen zu tun haben, oder besser damit, dass diese fehlen.
Antennen für die richtigen Leute
Einmal wartet er zum Beispiel auf Antennen. „Warum bekomme ich die nicht?“, fragt er intern nach. Die Antennen seien fertig, aber noch nicht geprüft, lautet die Antwort. Weil für die Prüfanlage ein Spezialist fehle, der sich mit Hochfrequenz und Schrittmotoren auskennt. Haun hat jemanden von früher im Sinn, dessen Vertrag bei seiner damaligen Firma zufälligerweise gerade ausläuft. „Er hat mir einen Lebenslauf geschickt und gemeinsam sind wir am nächsten Tag zu Siemens gegangen. Das war unser erster Mitarbeiter.“ Der Stein kommt ins Rollen und schnell werden daraus zwei, fünf und nach vier Jahren schließlich 25 Leute. Zwischenziel erreicht.
Alle haben damals für Siemens gearbeitet, Haun selbst auch weiterhin in Projekten. „Und am Sonntag haben wir Rechnungen geschrieben.“ Das Geschäft ist unkompliziert, bietet gute Margen bei einer überaus schlanken Firmenstruktur, „denn wir brauchten keine Akquisition. Die Leute fingen mich auf dem Flur bei Siemens ab und sagten: Haun, wir haben ein Problem.“ Man fliegt zu dieser Zeit komplett unter dem Radar, bis irgendwann der Einkauf von Siemens anklopft und die ESE offiziell als Lieferanten listen will. Plötzlich braucht es Dinge, wie ein Qualitätsmanagement. „Zum Glück hatten wir gerade eine Wohnung in der Jasperallee für die Firma angemietet. Das war wichtig, um professionell zu wirken.“
Ein Menschenhändler?
Zu einem Schlüsselmoment entwickelt sich die Begegnung mit einem aufgebrachten Siemens-Abteilungsleiter, der mit einem Mitarbeiter der ESE im Schlepptau in den Konferenzraum stürmt, in dem Haun gerade ein Meeting abhält. „Sind Sie dieser Menschenhändler Haun?“, brüllt der Mann ihm entgegen. „Natürlich reagierte ich erst abweisend, aber später wurde mir klar, dass das zwar sehr pointiert ausgedrückt, aber nicht total abwegig war. Unser Geschäft bestand schließlich daraus, die richtigen Menschen für einen Job zu finden. Sie zu motivieren, ihnen eine Heimat zu bieten und sie notfalls zu ersetzen, wenn sie abgeworben wurden. Eigentlich wollten wir vor allem ein Softwareunternehmen sein, aber unser Unternehmenskern war der Mensch.“
Als sich 2008 die Finanz- zu einer Wirtschaftskrise entwickelt, hat die ESE rund 150 Mitarbeiter:innen, die meisten bei Siemens in Braunschweig und rund 30 am Hildesheimer Bosch-Standort. „Zum ersten Mal haben wir rote Zahlen geschrieben, Weihnachten waren wir quasi pleite, weil die Hälfte unserer Leute keine Arbeit mehr hatte und wir sie trotzdem weiterbezahlen mussten.“ Gerettet hat das Unternehmen schließlich die Kurzarbeiterregelung, die auf Dienstleistungsunternehmen ausgeweitet wird. „So kamen wir einigermaßen durch die Krise. Für mich ist übrigens nach wie vor völlig unbegreiflich, wie die Konjunktur 2011 wieder so plötzlich anziehen konnte.“
Das Leben hinter der Unternehmergeschichte
Genau das passiert. Einige Mitbewerber gehen pleite die meisten verlieren einen Großteil ihrer Leute. Nicht so die ESE, die viel in Weiterbildung investiert, um die eigenen Mitarbeiter:innen trotz Kurzarbeitergeld zu halten. Eine gute Ausgangslage für Wachstum. Als Haun 2017 selbst operativ aufhört, hat das Unternehmen 280 Mitarbeiter:innen, als es 2020 von der DB Engineering & Consulting GmbH übernommen wird, mehr als 350. Hier endet die Unternehmergeschichte von Herbert Haun und auch dieser Text könnte mit dem Verkauf schließen.
Aber das Leben dahinter schreibt zeitgleich seine eigene Geschichte. Hauns erste Ehefrau erhält irgendwann die Diagnose MS, und über die Jahre verschlechtert sich ihr Zustand immer weiter. „Ich steckte in einer Pflegespirale, habe versucht Hilfe zu organisieren und beruflich alle Bälle in der Luft zu behalten, weil man das auch von mir erwartete. Das waren Scheißtage.“ Um acht kommt die Pflegerin und bleibt bis 15 Uhr. Wenn er um 17 nach Hause kommt, weiß er nicht, was ihn erwartet. Sitzt seine Frau noch im Rollstuhl, oder hat sie versucht aufzustehen und liegt irgendwo hilflos auf dem Boden? „Dann musste ich den Rettungsdienst rufen, weil ich sie allein nicht wieder hochbekam.“ Eine aufreibende Zeit – und irgendwann zu viel für ihn.
Zusammenbruch und Neustart – Non-Profit
2015 bricht der Braunschweiger zusammen. Seine Frau kommt in eine stationäre Pflegeeinrichtung „und ich bin fast ein Jahr wie ein Idiot durch die Gegend gerannt und habe falsche Entscheidungen getroffen.“ Er entwickelt einen Kaufrausch, in seiner Penthouse-Wohnung in der Humboldtstraße stapeln sich irgendwann die Modelleisenbahnen. Während dieser persönlichen Schlingerfahrt läuft er Anne-Katrin über den Weg, die er noch aus der eigenen Schulzeit kennt. „Wir waren beide gerade allein und haben uns anfangs vor allem Halt gegeben.“
2016 ziehen sie zusammen in ihre kleine Wohnung in Lehre, diskutieren nächtelang über Anne-Katrins Job in der Neuland Stiftung. Haun hat bisher nichts mit Gemeinnützigkeit zu tun, aber er fängt Feuer und wiegt ab: „Was ist dir wichtiger, dein Leben oder dein Geld?“ Denn die ESE-Gründer feilen zwar alle am Generationenwechsel, aber der Prozess zieht sich. Haun entscheidet sich für das Leben und übernimmt 2017 ehrenamtlich die Leitung der Stiftung. „Ich habe auf zwei Jahre Geschäftsführergehalt und Tantiemen verzichtet, aber diese Entscheidung war goldrichtig. Dafür habe ich eine tolle Truppe gewonnen und eine sinnstiftende Aufgabe.“
Gesucht: Haun 2.0
Am 1. Februar 2024 soll auch diese aktive Zeit in der Neuland Stiftung enden und mehr gemeinsamer Freiraum für das mittlerweile verheiratete Paar entstehen. „Meine Frau geht dann offiziell in den Ruhestand und ich bin 70.“ Deshalb sucht der Geschäftsführer gerade einen „Haun 2.0“ und schickt das besagte Schreiben in sein Netzwerk. Aber: Die Suche gestaltet sich schwierig. „Die meisten Menschen rennen irgendwann an ihre Pensionierungsgrenze und schalten erst einmal einige Zeit ab – Reisen, Familie, das Haus hübsch machen. Nach sieben oder acht Jahren, sind die Leute einfach raus und nicht mehr zu gewinnen.“
Einer Zweiteilung des eigenen Lebens in eine Zeit als knallharter Unternehmer und altersmilder Stifter, widerspricht Haun deutlich. „Schon als Chef wollte ich immer, dass es den Mitarbeiter:innen gut geht und brauchte einen Mitstreiter, der die andere Seite vertritt und auch mal jemanden rausschmeißen kann.“ Nicht ganz unschuldig an dieser Haltung sind wohl seine Eltern, die stets sagten: Teile, wenn du etwas übrig hast. „Das habe ich versucht, mein ganzes Leben lang durchzuhalten.“ Wie ernst den Hauns dieser Gedanke ist, zeigt nicht zuletzt die eigene Verbrauchsstiftung „Lebendiges Lehre“, die beide 2020 gegründet und mit 450.000 Euro ausgestattet haben, um den Austausch in der Gemeinde zu fördern. „Hier bin ich in nach einer schwierigen Lebensphase zur Ruhe gekommen und möchte einfach Danke sagen.“
Na klar, das muss man in dieser Form erst einmal können, aber man muss es eben auch wollen …