und
2. Februar 2021
Entscheider

„Krisenzeiten sind Kammerzeiten“

Dr. Florian Löbermann und Michael Zeinert, Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig und Lüneburg-Wolfsburg, im Interview

Dr. Florian Löbermann und Michael Zeinert, Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig und Lüneburg-Wolfsburg, im Jahresauftaktinterview. Foto: Holger Isermann.

Insgesamt 79 Industrie- und Handelskammern gibt es in Deutschland. Gleich zwei von ihnen beraten und vertreten die Unternehmen in der Region Braunschweig-Wolfsburg. Nördlich der A2 erstreckt sich der Bezirk der IHK Lüneburg-Wolfsburg auf rund 10.000 Quadratkilometern – einer Fläche, viermal so groß wie das Saarland. Südlich umfasst die IHK Braunschweig als weiteres Oberzentrum Salzgitter sowie die Landkreise Goslar, Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel.
Beide Kammerbezirke sehen sich seit März vergangenen Jahres mit den Herausforderungen der alles überschattenden Corona-Pandemie konfrontiert. In Braunschweig sieht jeder zwanzigste Betrieb laut aktueller Blitzumfrage seine Existenz gefährdet. Ein gutes Viertel zieht Personalabbau in Betracht. Ähnlich sieht es einige Kilometer weiter nördlich aus: Dort hat jedes dritte Unternehmen bereits Personal abgebaut. Zwölf Prozent sehen sich von der Insolvenz bedroht.
„Besonders bitter ist es dann, wenn es Unternehmen sind, die eigentlich alles richtiggemacht haben“, kommentiert Michael Zeinert. Bereits seit 28 Jahren ist der Volkswirt Teil der IHK-Welt, ein IHK-Gewächs durch und durch. Ihm gegenüber sitzt Dr. Florian Löbermann, der als promovierter Pädagoge auf Umwegen seinen Weg in die Wirtschaft gefunden hat und seit gut eineinhalb Jahren die Geschicke der IHK Braunschweig leitet. Wenn die anhaltende Krise eins gezeigt hätte, dann, dass IHKs wirksam seien, betont er. „Leute rufen an, haben Fragen, die Mitarbeiter beraten und können konkret helfen.“
Wir trafen die beiden Hauptgeschäftsführer in den neuen Räumlichkeiten der Wolfsburger Geschäftsstelle im ehemaligen Imperial-Kino und sprachen – wie könnte es anders sein – über Gegenwart und Zukunft unserer Wirtschaftsregion …

Herr Löbermann, was zieht einen Pädagogen in die Wirtschaft?
Löbermann: Im Rahmen meines Studiums habe ich ein Praktikum in der Wirtschaft gemacht und die Möglichkeiten dort, etwas zu bewirken, haben mich total fasziniert. Das sieht man auch in meinem weiteren Lebenslauf. Ich habe dann später auch noch einen MBA nachgeholt.

Inwieweit hilft Ihnen die pädagogische Perspektive heute im Job?
Löbermann: Für mich spielt die Weiterentwicklung eine große Rolle. Das hat verschiedene Facetten, natürlich das Thema wirtschaftliche Weiterentwicklung, das Thema Strukturen, aber auch die Weiterentwicklung von Organisationen, von Teams, von Menschen. Und an der Stelle sehe ich insbesondere eine Verbindung zwischen meinem Ursprungsberuf und dem, was ich im weiteren Verlauf gemacht habe. Das macht mir große Freude.

Braucht es mehr Pädagogen in der Wirtschaft?
Löbermann: Das ist eine gute Frage (lacht). Wahrscheinlich müssen es nicht zwingend Pädagogen sein, aber ich bin davon überzeugt, dass es ergänzend zur betriebswirtschaftlichen die eine oder andere Profession gibt, die die Wirtschaft voranbringen kann.

Fühlen Sie sich in Ihrem Arbeitsalltag manch­mal wie ein von Schülern umgebener Lehrer?
Löbermann: Ich glaube, ich wäre kein ganz klassischer Lehrer. Wenn es darum geht, Mitarbeiter zu entwickeln, heißt das für mich nicht, wie im Frontalunterricht vorzugeben, wie etwas wirklich geht, sondern Arrangements zu finden, in denen sich jemand entwickeln kann. Wenn man dieses Selbstverständnis zugrunde legt, würde ich sagen – ja, das begegnet mir durchaus.

Zwischen Traumjob und reizvoller Herausforderung: Seit 2008 leitet Michael Zeinert die Geschicke der IHK Lüneburg-Wolfsburg. Foto: Holger Isermann.

Wie haben Ihre Kollegen bei der IHK auf Ihr Menschenbild und die Idee von Mitarbeiterentwicklung reagiert?
Löbermann: Das Thema Kulturwandel spielt eine große Rolle. Als ich angefangen habe, habe ich mit jedem Mitarbeiter ein Gespräch von rund einer Stunde geführt. Bei knapp 80 Mitarbeitern ist das schon ein zeitlicher Invest, aber ich wollte die IHK auch individuell kennenlernen. Natürlich waren einige damals skeptisch, aber wir sind und bleiben in Bewegung. Ich verfolge auch das Prinzip der offenen Türen. Diese Möglichkeit, offen Probleme zu besprechen, wird zunehmend genutzt und darüber freue ich mich.

Was hat Sie angetrieben, nebenberuflich zu promovieren?
Löbermann: Das war ehrlich gesagt völlig ungeplant – zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, an dem ich einen Zeitvertrag hatte, der auslaufen sollte. In dem Augenblick erhielt ich einen Anruf von der TU Braunschweig. Man erinnerte sich an mich als guten Studenten und fragte, ob ich nicht promovieren wollte. Als ich zugesagt hatte, wurde auch der Arbeitsvertrag verlängert, sodass es dann eine nebenberufliche Promotion geworden ist.

Inhaltlich haben Sie sich damals mit den Entwicklungspotenzialen von Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten auseinandergesetzt …
Löbermann: Es gibt zu viele Menschen, die Potenziale haben, die nicht sichtbar sind oder nicht gehoben werden, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Das war auch der Hintergrund des Trainings, das ich in diesem Zusammenhang entwickeln habe. Es gab zum Beispiel einen Jugendlichen, der im Jugendknast war, keinen Schulabschluss hatte und sagte, was soll das hier bringen, mein Leben ist eh durch. Der hat über die Phase, die ich ihn begleitet habe, letztendlich über ein Praktikum einen Ausbildungsplatz gefunden. Wir hatten auch Leute, die sogar ihr Abitur nachgeholt und später studiert haben. Letztendlich komme ich immer wieder zum Thema Entwicklung, das ist mein interner Motor.

Bevor Sie 2019 die Stelle als Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig angetreten haben, waren Sie bei einem Tochterunternehmen der Salzgitter AG tätig. Wieso wollten Sie sich verändern?
Löbermann: Die Frage wird mir oft gestellt (lacht). Warum geht man aus der Wirtschaft zu einer IHK? Ich hatte über viele Jahre einen Bildungsfokus und kenne mich in dem Gebiet gut aus. Aber ich verspürte auch immer einen Wissensdurst und wollte viel mehr in die Breite gehen. Das finde ich bei der IHK. Mich interessiert, wie Dinge zusammenhängen und diese miteinander zu kombinieren, auch wenn das manchmal sehr abstrakt und komplex ist. Gerade das reizt mich.

Ihr Traumjob?
Löbermann: Für den Moment ist es die richtige Herausforderung. Wenn alles gut geht, habe ich noch über 20 Jahre Berufsleben vor mir. Was mich da erwartet bleibt sicher auch spannend.

Herr Zeinert, Sie wiederum könnten als IHK-Gewächs bezeichnet werden. Was ist an IHKs eigentlich so spannend?
Zeinert: Ich bin gelernter Volkswirt und wir Volkswirte beschäftigen uns mit dem Handeln der Menschen unter ökonomischen Bedingungen. Daraus leiten wir Handlungsempfehlungen für die Wirtschaftspolitik ab. Genau das machen wir bei der IHK. Wir bilden Menschen, wir beraten Unternehmen und wir bündeln deren Interessen, um sie gegenüber der Politik zu kommunizieren. Von daher habe ich mich vom ersten Tag an in dieser Organisation wohl gefühlt. Ich bin schon seit 28 Jahren dabei und ich habe es auch nie langweilig gefunden, in den unterschiedlichsten Aufgaben, die ich wahrgenommen habe. Und ich bin sehr sicher, dass ich nicht noch einmal die Aufgabe wechsle.

Dr. Florian Löbermann ist seit knapp zwei Jahren Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig. Foto: Holger Isermann.

Dann würden wir die Traumjob-Frage auch hier noch einmal einwerfen …
Zeinert: Für mich ist das definitiv der schönste Job, den ich mir vorstellen kann.

Sind Sie direkt nach dem Studium bei der IHK eingestiegen?
Zeinert: Ich habe nach dem Studium erstmal begonnen, am Institut für Finanzwissenschaften der Universität Münster zu promovieren, aber relativ schnell festgestellt, dass die wissenschaftliche Arbeit nicht meins ist und das Projekt nach anderthalb Jahren beendet. Dann bin ich in den Ausbildungsring des Deutschen Industrie- und Handelskammertages eingestiegen.

Haben Sie manchmal den Eindruck, dass Ihnen die Erfahrung aus einem Unternehmen fehlt?
Zeinert: Ich habe für mich nie ausgeschlossen zu wechseln und hätte es sicherlich interessant gefunden. Immer wenn man wechselt, sind damit spannende Erfahrungen verbunden. Ich bin während meines Berufslebens auch nicht nur bei einer IHK gewesen, sondern bei vier verschiedenen Häusern. Und ein Wechsel eröffnet immer neue Perspektiven.

Wenn Sie die vier IHKs vergleichen, wo würden Sie Ihre jetzige einordnen?
Zeinert: Im Hinblick worauf?

Im Hinblick darauf, wie Sie Ihren Aufgaben gerecht geworden sind, wie der Zuschnitt war, wie gut man dort arbeiten konnte …
Zeinert: Die Frage finde ich schwierig. Ich will mich auch nicht locken lassen, zu sagen, dass wir die Tollsten sind. Wir versuchen natürlich bei uns in der IHK Lüneburg-Wolfsburg, den Veränderungsprozess, den wir alle durchmachen in unseren Häusern, aktiv zu gestalten. Wir wollen vorne sein, schnell sein und ich glaube, dass uns das hier und da gut gelingt. Aber es bringt uns auch nicht weiter, wenn wir einen Wettbewerb der Besten veranstalten.

Warum eigentlich nicht?
Zeinert: Wir müssen als Organisation gut sein. Für uns ist wichtig, dass nicht nur wir gut aufgestellt sind, sondern dass wir mit leistungsfähigen Kammern zur linken und zur rechten, nach Norden und Süden, gut zusammenarbeiten können. Wir haben alle einen regionalen Auftrag und müssen gleichwohl aber auch unsere gemeinsamen Themen gut nach Hannover und Berlin kommunizieren, um dort etwas für unsere Unternehmen zu erreichen.

Wenn wir auf das vergangene Wirtschaftsjahr zurückblicken, wie viele Sorgenfalten hat Ihnen dieses bereitet?
Zeinert: Das ist ganz ambivalent. Für uns als IHK war es ein enorm herausforderndes Jahr. Man kann das auf den Satz verdichten: Krisenzeiten sind Kammerzeiten. Weil wir besonders gefordert sind, für unsere Mitgliedsunternehmen die komplexen Neuinformationen permanent zu verarbeiten, zu verdichten und weiter zu kommunizieren. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass es vielen Betrieben aktuell ziemlich schlecht geht. Es geht um die wirtschaftliche Substanz und das schlichte Überleben. Da haben Sie Kunden am Telefon, die um die Früchte ihres ganzen Lebens bangen.
Löbermann: Ja, das macht etwas mit einem und stimmt nachdenklich. Und auf der anderen Seite, das war tatsächlich deckungsgleich, war es für mich eine schöne Erfahrung, mitzubekommen, dass die IHK für ihre Mitgliedsunternehmen wirklich hilfreich ist. Leute rufen an, haben Fragen, die Mitarbeiter beraten und können konkret helfen. IHK ist wirksam. Dann hatten wir die Sommerphase, in der sich unsere Sorgenfalten etwas entspannt und auch die Konjunkturberichte gezeigt haben, dass es nach einem starken Absturz wieder nach oben ging. Aktuell sind die Sorgenfalten wieder ganz tief. Dieses Hin und Her ist problematisch. Wirtschaft kann man nicht an- und ausschalten wie das Licht, wenn man einen Raum betritt.

Wie sehr leiden Sie als Hauptgeschäftsführer mit den Unternehmern?
Löbermann: Es sorgt für eine andere persönliche Betroffenheit, wenn man einen weinenden Unternehmer, den man eigentlich als gestandenen Mann aus einem anderen Zusammenhang kennt, am Telefon hat und er erzählt, dass jetzt Feierabend ist.
Zeinert: Besonders bitter ist es dann, wenn es Unternehmen sind, die eigentlich alles richtiggemacht haben und die durch diese Krise völlig unverschuldet in existenzielle Not kommen.

Das neue Präsidium der IHK Braunschweig: Präsident Tobias Hoffmann und die Vizepräsidentinnen und -präsidenten Kurt Fromme, Anja Junicke, Bärbel Heidebroek, Oliver Kreß, Jan Dietrich Radmacher, Jürgen Brinkmann, Olaf Jaeschke, Dr. Ralf Utermöhlen, Georg Weber, Jörg Grzella sowie Hauptgeschäftsführer Dr. Florian Löbermann. Foto: IHK.

Können wir überhaupt schon abschätzen, welche wirtschaftlichen Folgen das Jahr 2020 für uns haben wird? Aktuell hat man durch Maßnahmen, wie die Kurzarbeit, Liquiditätshilfen oder die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht das Gefühl, dass es vielleicht gar nicht so schlimm wird …
Zeinert: Es ist schon so, dass die enormen Hilfen und Garantien des Staates – eine Billion Euro, also 1.000 Milliarden Euro, gerade dazu führen, dass die tatsächlichen Auswirkungen der Krise nicht voll zu Tage treten. Durch die zweite Welle sind wir zurückgeworfen worden. Gleichwohl habe ich den Optimismus, dass wir im kommenden Jahr eine sehr dynamische Aufholbewegung sehen werden, wenn wir aufgrund der hoffentlich sinkenden Infektionsrate und einer zunehmenden Durchimpfung der Bevölkerung irgendwann im zweiten Quartal wieder Geschwindigkeit aufnehmen können.
Löbermann: Allein das Aussetzen der Insolvenzantragspflicht macht es für mich zu einer Blackbox. Natürlich bekommt man Hinweise und weiß, wie es dem einen oder anderen Unternehmen geht, aber wie sich Covid-19 tatsächlich auswirkt und wen es wie betrifft, weiß man heute schlichtweg nicht. Das führt in der Folge dazu, dass Unternehmer nicht wissen, ob sie gerade bei einem Partner bestellen, der vielleicht von der Insolvenz bedroht ist und insgesamt zu sehr viel Unsicherheit.

Herr Zeinert, Sie sagten vorhin, Krisenzeit sei Kammerzeit – mindestens ist sie auch eine Zeit des starken Staates. Wie bewerten Sie aus der wirtschaftlichen Perspektive den Umgang der Politik mit der Pandemie?
Zeinert: Ich finde, dass wir ganz generell im Verlauf dieser Krise erlebt haben, dass wir handlungsfähige Regierungen auf Bundes- und Landesebene haben, dass wir eine starke Volkswirtschaft sind, die in der Lage ist, erhebliche finanzielle Lasten zu stemmen, wenn es darauf ankommt, und dass wir so gesehen gute Voraussetzungen hatten, um diese Krise zu bewältigen.

Das klingt erstmal nach einem guten Zeugnis …
Zeinert: Natürlich gibt es hier und da Ungleichgewichte in den Förderprogrammen – beispielsweise Überförderungen oder auch Programme, die nicht zeitgerecht bei den Unternehmen ankommen. Das monieren wir und versuchen, Impulse zu geben, um die bestehenden Programme besser zu machen. Aber insgesamt konnte keine Volkswirtschaft weltweit den Unternehmen in diesem Umfang helfen.

Wie oft rufen Unternehmer bei Ihnen an und fordern, dass Sie die Maßnahmen der Regierungen stärker öffentlich kritisieren?
Zeinert: Ich würde sagen, das kommt zwei oder drei Mal in der Woche vor. Wobei Kritik in dieser Form ja überwiegend geäußert wird, wenn man sich persönlich sieht. Und da das aktuell nicht so oft vorkommt, würde ich diese Zahl nicht überbewerten.

Haben Sie Verständnis für diese Reaktionen?
Zeinert: Ich kann mir vorstellen, dass es in den betroffenen Branchen, in der Gastronomie, im Einzelhandel zahlreiche Unternehmen gibt, die das Messer in der Tasche aufhaben. Denn eine selektive Praxis, wie sie insbesondere im November und Dezember stattgefunden hat, ist immer ungerecht und auch schwierig zu kommunizieren.
Löbermann: Bei mir ist das ähnlich. Die Rückmeldungen, die bei mir persönlich ankommen, sind häufig sehr auf einen Teilausschnitt fokussiert. Das ist nicht die große global-galaktische Kritik, das Querdenken-Thema, sondern es geht meist um sehr konkrete Entscheidungen, die das eigene Unternehmen betreffen. Am Ende können wir der Herausforderung nur gemeinsam erfolgreich begegnen. Gerade dieses Reiben, Diskutieren und Ringen führt dazu, dass man hoffentlich gute Lösungen findet.

Gemeinsam ist ein gutes Stichwort. Sehen Sie jenseits unserer Landesgrenzen Vorbilder für den Umgang mit Covid-19?
Zeinert: Dazu müssen Sie nicht einmal die Landesgrenzen verlassen. Tübingen zum Beispiel zeigt, wie man durch eine individuelle Strategie, die Alten- und Pflegeheime offenbar signifikant besser geschützt hat, als an vielen anderen Orten.

Wann entdecken wir die wesentlichen Herausforderungen der Vor-Corona-Zeit wieder – die Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsdebatte beispielweise?
Löbermann: Es ist zwingend erforderlich, diese Themen auf dem Weg aus der Krise direkt mitzudenken. Wir können es uns nicht leisten, ins Davor zurückzukehren. Gerade die Digitalisierung hat durch Covid-19 ja einen Schub bekommen …
Zeinert: Hier wurden in wenigen Monaten Dinge erreicht, für die wir sonst vielleicht Jahre gebraucht hätten.

Glauben Sie, dass Covid-19 die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, nachhaltig verändert?
Löbermann: Absolut. Aber es wird wohl nicht so drastisch werden, wie man zwischendurch diskutiert hat. Die Erfahrung des digitalen Extrems von heute auf morgen war total gut und wenn man jetzt aus beiden Welten das Beste rauszieht, wird es ein guter Mix werden.
Zeinert: Das sehe ich genauso. Wir werden nicht mehr für jedes kurze Meeting Stunden auf der Schiene oder Autobahn verbringen. Das wäre meine These. Und zugleich ist vielen die Bedeutung des persönlichen Kontaktes in den letzten Monaten auch nochmal bewusster geworden.

Es gibt kaum eine IHK-Veranstaltung, bei der nicht eine Bürokratieschelte von der Bühne erfolgt. Wie groß ist dieses Monster Bürokratie wirklich?
Löbermann: Es ist fast egal, in welche Befragung man schaut, eines der zentralen Themen für die Unternehmen ist tatsächlich der Bürokratieabbau. Und er kostet noch nicht einmal viel. Aus unserer Sicht wäre das also ein sinnvoller Hebel, um den Unternehmen ihre Arbeit zu erleichtern.
Zeinert: In Niedersachsen sind wir in der Frage jetzt einen wichtigen Schritt vorangekommen. Es gibt seit wenigen Wochen die sogenannte Clearingstelle in Hannover, eine gemeinsame Einrichtung der IHKs und des Wirtschaftsministeriums. Sie hat den Auftrag, bei neuen Gesetzesvorhaben der Landesregierung zu prüfen, ob diese auch bürokratieärmer umzusetzen sind. Das ist ein guter Anfang.

IHK Lüneburg-Wolfsburg
Gründungsjahr: 1866
Mitglieder: 65.000
Fläche: 10.500 km²
Gesamterträge: 18.607.138 €
Betreute Auszubildende: 10.427
Ehrenamtliche: 2.377
Hauptberuf. Mitarbeiter: 130
Anteil weiblicher Mitglieder
in der Vollversammlung: 24 %
Hauptgeschäftsstelle Lüneburg-Wolfsburg
Geschäftsstelle Wolfsburg
Geschäftsstelle Celle
Regionalbüro Landkreis Harburg Foto: IHK

Nun gelten die IHKs selbst nicht gerade als unglaublich agil …
Zeinert: Das weiß ich natürlich (lacht).

Aber Sie nehmen für sich schon in Anspruch, Vorreiter beim Abbau von langwieriger Prozessen zu sein?
Zeinert: Wir haben unsere IHK Anfang 2019 komplett umorganisiert, aus sechs Geschäftsbereichen drei gemacht und alle Bereichsleiter haben neue Aufgaben übernommen. Klar ist, hier haben wir noch eine Lernkurve zu durchlaufen, aber wir sind auf dem Weg.

Herr Zeinert, wenn Sie auf Ihren Kollegen Herrn Löbermann und seinen IHK-Bezirk schauen – gibt es etwas, das Sie neidisch werden lässt?
Zeinert: Richtig neidisch bin ich ehrlich gesagt auf die Vielzahl der außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die es insbesondere in Braunschweig selbst gibt. Das ist etwas, was wir so in dieser Form bei weitem nicht haben.

Und Sie, Herr Löbermann?
Löbermann: Bei der Digitalisierung von Prozessen seid ihr definitiv einen Schritt weiter als wir. Da holen wir gerade auf und haben einen sehr starken Fokus darauf, aber da muss ich sagen, das macht ihr super.

Es gab lange Zeit Diskussion über eine Fusion oder die Zusammenarbeit der beiden Kammern. Wie bewerten Sie den Ist-Zustand und wo sehen Sie noch Luft nach oben?
Löbermann: Einer unserer Ansprüche ist, unsere Mitgliedsunternehmen die Kammergrenze nicht spüren zu lassen. Und dazu ist es einfach erforderlich, dass wir an vielen Stellen im Gleichklang agieren.
Zeinert: Wir haben ja 2018 einen Kooperationsvertrag abgeschlossen mit einer Vielzahl von Feldern, auf denen wir arbeiten wollen. Dazu gibt es intern ein Arbeitsprogramm, das erstmal bis 2022 ausgelegt ist, da sind wir jetzt mittendrin. Durch Corona ist aber einiges auf der Zeitschiene weiter nach hinten gerutscht.

Glauben Sie eigentlich, dass die Mehrzahl der Unternehmen bei Ihnen Mitglied ist, weil sie wollen oder weil sie müssen?

HK Braunschweig
Gründungsjahr: 1864
Mitglieder: 42.500
Fläche: 3.321 km²
Gesamterträge: 11.980.813 €
Betreute Auszubildende: 7.233
Ehrenamtliche: 2.041
Hauptberufliche Mitarbeiter: 80
Anteil weiblicher Mitglieder
in der Vollversammlung: 24 %
Hauptgeschäftsstelle Braunschweig
Geschäftsstelle Goslar
Geschäftsstelle Peine Foto: IHK

Zeinert: Letzteres. Alles andere wäre – glaube ich – nicht realistisch. Wir haben bei der IHK Lüneburg-Wolfsburg 71.610 Mitglieder. 33.609 von denen zahlen keine Beiträge, weil sie unterhalb der geltenden Bemessungsgrenze von 5.200 Euro Gewerbeertrag im Jahr liegen. Von diesen Unternehmen würde ich ehrlich gesagt gar nicht erwarten, dass sie sich bewusst für oder gegen uns entscheiden. Allen anderen müssen wir ein sehr konkretes Angebot machen, um für den Mitgliedsbeitrag einen relevanten Gegenwert zu bieten. Daran arbeiten wir jeden Tag mit großer Leidenschaft und Kreativität.
Löbermann: Das sehe ich genauso – ob es das Thema Ausbildung oder der Einsatz für notwendige Infrastrukturprojekte ist wie der Ausbau der A39 oder die Weddeler Schleife.

Finden Sie, dass der Staat bei Infrastrukturprojekten strikter durchgreifen und die Interessen der Vielen gegen die Interessen Einzelner schützen müsste?
Löbermann: Es ist völlig richtig, dass es eine Beteiligung von Bürgern oder Umweltverbänden gibt. Nur führt der gegenwärtige Prozess zu Endlosschleifen, die völlig unangemessen sind und viel Geld kosten. Es bräuchte eine Verkürzung von Planfeststellungsverfahren auf eine oder maximal zwei Schleifen. Das bekommen andere Länder ja auch hin.
Zeinert: Insbesondere von Dänemark und den Niederlanden können wir da lernen. Zwei Länder, die jetzt nicht dafür bekannt sind, dass sie rüde über Bevölkerungswünsche hinweggehen würden.

Was erwartet die Wirtschaftsregion Braunschweig- Wolfsburg im kommenden Jahr?
Zeinert: Wir sind mitten im automobilen Strukturwandel. Das geht ja weiter. Corona hin oder her. Und da haben wir mit dem Green Deal der Europäischen Union eine zusätzliche Messlatte aufgelegt bekommen, die für die Automobilindustrie eine ordentliche Herausforderung ist.
Löbermann: Eines der großen Themen ist auch Wasserstoff – nicht nur in Salzgitter, das interessiert auch die Automobilisten. Insgesamt erhoffe ich mir etwas mehr Planbarkeit. Es gibt auch neben Covid-19 einfach noch viele Unsicherheitsfaktoren: den Brexit und die Folgen der US-Wahl beispielsweise.

Was würde ein harter Brexit für die Region bedeuten?
Löbermann: Das lässt sich nicht belastbar sagen, weil wir nicht wissen, welche Regelungen aus den Verhandlungen hervorgehen. Es gibt viele Fragezeichen, beispielsweise bei der Mitarbeiterüberlassung, oder den Konformitätserklärungen und Zertifizierungen. Wir stellen uns darauf ein, dass nächstes Jahr, wenn dann die Umsetzung erfolgt, die Telefone nicht stillstehen werden.
Zeinert: Großbritannien ist für Niedersachsen der viertwichtigste Handelspartner. Niedersächsische Unternehmen beschäftigen in Großbritannien etwa 18.000 Mitarbeiter. Das alleine macht schon deutlich, wie eng die wirtschaftlichen Verflechtungen sind. Die sind natürlich auch gerade im Bereich der Automobilwirtschaft besonders intensiv.

Was stimmt Sie zuversichtlich, dass die digitale Neuerfindung des Volkswagenkonzerns gelingt?
Löbermann: Sie ist alternativlos, allein das sorgt für Zuversicht. Und natürlich sind die Rahmenbedingungen hier in der Forschungsregion für einen Konzern wie Volkswagen gut.
Zeinert: Was mich an der Strategie überzeugt, die Volkswagen an den Tag legt, ist vor allem erstmal die Konsequenz, mit der man Ziele verfolgt – und zwar sowohl organisatorisch als auch finanziell.

Gibt es denn auch Kritik? Gerade Zulieferer sprechen oft von starkem Druck …
Zeinert: Natürlich wissen wir aus Gesprächen mit Zulieferern, das es nicht immer witzig ist, mit Volkswagen zusammenzuarbeiten, weil sie preisdrückend und fordernd sind. Aber das müssen sie auch sein. Volkswagen ist kein regionales, soziales Unternehmen, sondern Weltmarktführer und muss global erfolgreich sein.

Das aktuelle Präsidium der IHK Lüneburg-Wolfsburg:
Rüdiger Kühl, Volker Meyer, Hubertus Kobernuß, Gerd-Ulrich Cohrs, Ruth Staudenmayer, Hauptgeschäftsführer Michael Zeinert, Präsident Andreas Kirschenmann, Andreas Otto, Dr. Jan-Henning Weilep, Thomas Treude, Julius von Ingelheim (ausgeschieden im Dezember 2020, Nachfolger – nicht auf dem Bild: Wendelin Göbel und Carsten Blasche. Foto: IHK.

Nach viel Verständnis für die Kleinen klingt das nicht …
Zeinert: Doch, das habe ich. An einigen Stellen merkt man einfach, dass die Unternehmensgrößen nicht richtig kompatibel sind. Da haben Sie den Mittelständler mit 80 Mitarbeitern und den Weltkonzern mit 600.000 und man erreicht sich nicht immer auf den richtigen Ebenen. Trotzdem sollte die Kommunikation wertschätzend und auf Augenhöhe erfolgen. Wenn man das verbessern würde, wäre schon eine Menge für die Kultur des Miteinanders von Volkswagen und den Zulieferern getan.

Klassische Neujahrsempfänge wird es in diesem Jahr wohl kaum geben. Wenn Sie jetzt zwei Sätze frei hätten, was würden Sie den Menschen mit auf den Weg geben wollen?
Löbermann: Bleiben Sie positiv und lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir bestmöglich durch diese Zeit kommen. Wir werden das Virus nicht einfach wegschnipsen können. Aber wir können alle miteinander entscheiden, wie wir damit umgehen.
Zeinert: Ich würde allen erstmal die Gelassenheit wünschen, zu erkennen, welche Dinge man ändern kann und welche Dinge nicht. Und bei den Themen, die wir gestalten können, sollten wir unsere Chancen
nutzen.

Wir waren im Sommer bei Bertrandt und die drei Geschäftsführer haben erzählt, dass sie gemeinsam Angeln gehen, um sich in einem alternativen Umfeld grundsätzlich auszutauschen. Wenn Sie beide eine gemeinsame Aktivität finden müssten, bei der Sie über die Zusammenarbeit Ihrer Kammern reden würden, was wäre das?
Zeinert: Also es wäre auf jeden Fall etwas in der Natur, würde ich sagen. Die Frage ist nur was … (lacht)
Löbermann: Du bist ja Wohnmobilist oder hast da zumindest Erfahrung, oder? Das könnte durchaus etwas sein. Ich bin leidenschaftlicher Griller. Wenn man das miteinander kombiniert, wäre das natürlich ein echtes Highlight.

„[…] dazu ist es einfach erforderlich, dass wir an vielen Stellen im Gleichklang agieren.“ Foto: Holger Isermann.

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