Prof. Dr. Günter Faltin gilt als Vorreiter des Social Entrepreneurships in Deutschland. Beim ersten Social Startup Day des Landes Niedersachsen am 6. September im Braunschweiger Trafo Hub hielt der Wissenschaftler und Unternehmer die Keynote – wir haben danach mit ihm gesprochen: Über viel Kapital und wenige Ideen, seine Kritik an der Höhle der Löwen und einen Marketing Rucksack, den eigentlich niemand braucht …
Herr Faltin, die Start-up-Szene ist männlich dominiert, es geht um Inszenierung, Konsum, millionenschwere Exits. Und dann gibt es Menschen wie Sie, die von Entrepreneurship reden und ein ganz anderes Bild von Gründungen zeichnen. Wie groß ist der Graben zwischen diesen beiden Lagern?
Der ist vorhanden, völlig richtig. Nehmen Sie beispielsweise die Dominanz der Männer – das muss überhaupt nicht so sein. Eine Hauptursache ist sicher das Bild, das wir von Unternehmern haben. Henry Ford, John D. Rockefeller oder in Deutschland Friedrich Krupp – das waren alles durchsetzungsstarke Patriarchen und diese Bilder aus der Vergangenheit prägen noch heute die Vorstellungen vieler Menschen.
Wirklich?
Na klar. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Kürzlich kam nach einer Entrepreneurship-Lehrveranstaltung eine Studentin zu mir und entgegnete: „Das ist ja überzeugend, was Sie sagen, aber mich kriegen Sie nicht. Ich werde ganz sicher nicht so ein Schwein!“
Wie bitte?
Ja, es sei doch klar, sagte sie: „Um Unternehmer zu werden, braucht man Ellbogen, muss auch mal unfair sein.“
Was entgegnen Sie in solchen Momenten?
Dass das Quatsch von vorgestern ist. Wir müssen die Männerdomäne durchbrechen und diese Bilder loswerden. Aber das ist ein langer Weg. Gerhard Hauptmann und die brutale Ausbeutung in „Die Weber“ oder Käthe Kollwitz und die ausgemergelten Gestalten aus dem Frühkapitalismus: Das finden Sie ja alles noch in den Lehrbüchern. Deshalb verwende ich das Wort Unternehmertum nicht mehr …
… und Sie sprechen stattdessen von Entrepreneurship?
Genau. Das ist die internationale Bezeichnung für innovatives Gründen. Der kreative Akt steht im Mittelpunkt.
Gehen wir noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Wie unterschiedlich ist das Mindset zwischen denen, die mit einer E-Commerce-Gründung einen lukrativen Exit anstreben und ihren Lifestyle im Social Web feiern und Menschen, die als Entrepreneure die Welt ein Stück besser machen wollen? Gibt es hier überhaupt noch eine Klammer?
Was Sie beschreiben ist natürlich ein bisschen schwarz-weiß. Das Silicon Valley hat hier keinen guten Einfluss. Dort geht es vor allem um Wachstum, und diese Perspektive dominiert in der Öffentlichkeit. Davon müssen wir Social Entrepreneurship deutlich abgrenzen. Wichtig ist: Es gibt nicht das eine Unternehmerlager.
Sondern?
Hier lässt sich treffend Joseph Schumpeter zitieren. Seine Grundannahme ist, dass neue innovative Unternehmen nicht nur den Markt prägen, sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Demnach gibt es eine kleine Gruppe von Angreifern, das sind die Entrepreneure. Die etablierten Unternehmen sind in diesem Modell die Besitzstandswahrer und beide Lager miteinander verfeindet.
Welcher Anteil dieser Angreifer hat denn das schnelle Geld und welcher Höheres im Sinn?
Es sieht im Moment so aus, als sei der Geist des Silicon Valley der stärkere. Das ist tragisch, denn eine Gesellschaft wird durch die Wirtschaft verändert und nicht durch irgendwelche guten Vorsätze, oder? Deshalb muss Wirtschaft sich verändern, wenn wir unsere Welt verändern und nicht gegen die Wand fahren wollen.
Gegenüber dem Manager Magazin haben Sie gesagt, dass wir heute auf dem Konsumniveau der Kaiser und Könige vor 400 Jahren leben. Die Aufgabe unseres Zeitalters sei aber eine andere – nämlich die Versöhnung mit der Natur. Kann es eigentlich einen besseren Zeitpunkt für eine solche Bewegung geben?
Selbst Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, hat kürzlich gesagt, dass den Social Entrepreneurs die Zukunft gehört. Ich glaube, wir müssen dem Silicon Valley Way Alternativen zur Seite stellen. Dafür gibt es ja auch gute Gründe – wir sind ökologisch bewusster, haben in Europa ein ganz anderes Verständnis für Diversität und Lebensqualität. Und wir alle müssen von unserem hohen Konsumniveau runter. Denn dieses ist Vorbild für die bevölkerungsreichen Länder wie China, Indien oder Pakistan. Das alles hält unser Planet nicht aus.
Nehmen wir an, es machen sich jetzt Entrepreneure mit dem Ziel auf, unser Leben nachhaltiger zu gestalten. Die etablierten Unternehmen würden dem ja nicht tatenlos zusehen, sondern das Kundenbedürfnis aufnehmen und ihm zum Beispiel über Marketingkampagnen begegnen …
Natürlich wird es den Versuch geben, den Angreifern über ein Greenwashing die Power zu nehmen. Aber die Chance von Entrepreneuren ist ja, dass sie eine Alternative anbieten können, ohne Mehrheiten gewinnen zu müssen. Das ist radikal anders als in der Politik.
Brauchen wir ein neues Wirtschaftssystem?
Nein, unseres ist sehr gut. Für die Gewerbefreiheit, die freie Berufswahl oder das Marktrecht haben Menschen viele hundert Jahre gekämpft. Das sind unglaubliche Errungenschaften. Allerdings versteht gegenwärtig nur ein kleiner Teil der Menschen, nämlich die Unternehmer, auf der Klaviatur dieses Systems virtuos zu spielen. Auch deshalb geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.
Was schlagen Sie vor?
Dass viel mehr Menschen erkennen, dass sie aktiv als Entrepreneure am Wirtschaftsgeschehen teilnehmen können. Das war meine Grundidee für das Buch Kopf schlägt Kapital. Heute kann jeder mit einem Laptop und ohne viel Kapital ein erfolgreiches Unternehmen gründen.
Die Demokratisierung der Wirtschaft?
Wenn wir uns Adam Smith anschauen, der ja als Vordenker für Marktwirtschaft gilt – das war kein Neoliberaler, sondern er war Moralphilosoph und in das Wertesystem seiner Zeit eingebunden. Es ging ihm durchaus um Qualität und soziale Standards und er hätte mehr wirtschaftlich handelnde Menschen sicher begrüßt.
Wollen Sie wirklich zum Sturm auf die Wirtschaft aufrufen?
Konzerne, die ihre Interessen in Berlin und Brüssel mit einem Heer von Lobbyisten vertreten, sind kein Modell für eine zukunftsfähige Ökonomie. Familienunternehmer dagegen haben oft nicht nur kurzfristige Gewinnmaximierung im Sinn. Dabei geht es mir übrigens nicht um den Gewinn an sich. Wer Risiken eingeht, wer gute Produkte entwickelt, muss damit auch gutes Geld verdienen.
In der Öffentlichkeit diskutieren wir gerade eine Übergewinnsteuer. Sie kritisieren grundsätzlich, dass viele Produkte zu teuer seien. Wo sind die Grenzen für einen gerechtfertigten Gewinn und wo beginnt die kritische Maximierung?
Es hat sich immer noch nicht überall herumgesprochen, dass die Preise, die wir heute für Produkte bezahlen, immer weniger durch die tatsächlichen Herstellungskosten bedingt sind. Der größte Kostentreiber ist das Marketing und genau das kritisiere ich. Denn wir verbrauchen immer mehr Ressourcen, um Produkte erfolgreich im Markt zu platzieren.
Woran liegt das?
Das lässt sich leicht erklären. Wenn ich eine Bühne habe und davor liegen die Zuschauer auf dem Boden, können alle sehen, was oben vor sich geht. Wenn sich aber in der ersten Reihe jemand einen Stuhl besorgt, brauchen die anderen auch einen. Und der nächste besorgt sich eine Leiter. Aus der Perspektive eines Ökonomen entsteht mehr Aufwand, aber kein Mehrwert. In Analogie zum Ökologischen kann man hier vom Marketing-Rucksack sprechen und wir sollten hier gemeinsam abrüsten, denn im Ergebnis tut das niemandem weh. Werbung lenkt viel zu oft vom Produkt ab und eröffnet auch schlechten Anbietern Chancen.
Wenn die Brillen oder Sneaker alle aus der gleichen Fabrik in China kommen, macht doch erst die Brand den Unterschied, oder?
Natürlich. Ich benutze Lesebrillen und habe hier eine vom Optiker für 500 Euro und eine aus dem Ein-Euro-Shop. Ehrlich gesagt erkenne ich keinen so großen Unterschied, der 500 Euro rechtfertigen würde. Mit unserer Teekampagne haben wir übrigens gezeigt, dass es mit wenig Marketing geht. Bei uns macht der Einkaufspreis die Hälfte des Verkaufspreises aus. Das ist in der Branche absolut unerreicht. Da brauche ich keine Werbung mehr.
Warum gibt es trotz der Chancen eigentlich so wenig Menschen, die sich trauen, zu gründen?
Weil vielen der Glaube fehlt, dass es geht. Sie können ja nicht gegen die Deutsche Telekom antreten, heißt es dann. Holger Johnson, einer meiner Studenten, hat genau das gemacht – mit etwas Geld von mir und einem Dienst, so einer Art virtueller Sekretärin. Zwei Jahre später hat die Telekom aufgegeben. Denn sein Angebot war besser und deutlich günstiger. Damit wurde er international Marktführer. Ich kenne viele solcher Beispiele …
Welche weiteren Hürden für das Gründen sehen Sie?
Definitiv die Bürokratie. Ich bin häufiger in Singapur gewesen. Wenn Sie dort ein Unternehmen gründen wollen, kommt jemand von der Verwaltung in Ihr Hotel und bringt alle nötigen Unterlagen mit. In einer halben Stunde gibt es das Unternehmen.
Und was sind die wesentlichen Erfolgskriterien?
Ich sage immer, Sie brauchen den Faktor vier, damit Sie ohne Marketing erfolgreich sind – doppelt so gut und halb so teuer.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Gründer zwar gefördert werden, aber es am Ende nicht schaffen …
Eine Gründung ist ein Marathon und das Ergebnis immer ein Gesamtkunstwerk. Gutes Konzept, gute Qualität, guter Preis, gute Art der Kundenansprache – und, und, und …
Trauen Sie sich zu, in einer halben Stunde eine Gründungsidee zu durchleuchten?
Mir genügen oft fünf Minuten, um festzustellen, dass die Idee noch nicht ausgereift ist.
Nehmen wir an, man würde Sie für die nächste Staffel der Höhle der Löwen als Investor einladen – würden Sie hingehen?
Unter Schmerzen, aber wahrscheinlich ja (lacht). Positiv an dem Format finde ich, dass das Thema Gründungen dadurch eine breitere Öffentlichkeit erhalten hat. Was ich kritisieren würde, ist die antiquierte Vorstellung von Unternehmertum, die dort transportiert wird. So, als komme es auf die Persönlichkeit des Gründers an, auf den Pitch. Ich kenne aber viele kluge Köpfe mit einem wirklich guten Konzept, die sich nicht gut verkaufen können. Mein größter Kritikpunkt ist aber ein anderer …
Jetzt sind wir gespannt!
Dort entsteht der Eindruck, dass die rare Ressource das Kapitel sei – dass eine Idee erst durch den Ritterschlag der Kapitalgeber etwas wert wird. Meine Erfahrung ist aber eine andere: Aktuell jagt zu viel Kapital zu wenige gute Ideen. Und machen wir uns nichts vor – entscheidender als das Urteil der Investoren ist doch, dass rund zwei Millionen Menschen die Höhle der Löwen einschalten und ein Start-up durch den Auftritt im Fernsehen einen ordentlichen Schub Aufmerksamkeit bekommt.
Viel Kapital – wenig wirklich gute Ideen, mit dieser Position dürften Sie in der öffentlichen Diskussion ziemlich alleine dastehen, oder?
Ich weiß. Natürlich gibt es viele gute Einfälle. Aber ein überzeugend durchgearbeitetes Konzept ist etwas gänzlich anderes. Das schneidet wie ein warmes Messer durch die Butter. Sie müssen schon deutlich besser sein als der Markt, wenn Sie sich wirklich durchsetzen wollen. Die etablierten Unternehmen haben Kunden, Erfahrungen, Rücklagen – und Sie? Nur Ihre Idee … das ist zu wenig.