Wolfsburg ist vor allem für seine Autos bekannt. Doch nur zehn Kilometer vor den Toren der Stadt, versteckt in einem unscheinbaren Industriegebiet am Rande Hattorfs, sitzt eingebettet zwischen einem Einrichtungshaus, einer Wäscherei und einem französischen Kunststoffverarbeiter die Zentralverwaltung von Europas größtem Friseurdienstleister. Vorauszusehen war die beeindruckende Unternehmensgeschichte nicht. Sie beginnt vor 66 Jahren. Damals verlässt Elfriede Klier mit ihren drei Kindern Ostdeutschland per Zug. Der erste Halt nach der Grenze ist Wolfsburg. Dort eröffnet die Kriegswitwe ihr eigenes Friseurgeschäft, den „Salon der Dame“.
Anfang der Siebzigerjahre übergibt sie den Salon ihren Zwillingssöhnen Hubertus und Joachim Klier, die fortan beginnen, die Friseurbranche zu revolutionieren. Dauerwellenkomplettpreise, Schneiden ohne Terminvergabe und montägliche Öffnungszeiten – die zweite Klier-Generation bricht viele branchenübliche Tabus – und macht das Unternehmen groß. Denn so einig sich die Zwillinge äußerlich sind, so sind sie es auch in ihrer Unternehmensvision: Wachstum ist das Ziel. In rund drei Jahrzehnten entwickeln die beiden Friseurmeister das vormalige Einzelgeschäft zu Europas größtem Filialunternehmen der Branche.
Heute steht die dritte Generation an der Spitze der Klier Hair Group. Jahresumsatz: 318 Millionen Euro. Rund 50.000 Kunden werden täglich in knapp 1.600 Salons verschönert – dass hinter dem Erfolg eine Familie steht, wissen die
wenigsten. „Erst neulich begegnete mir eine Dame, die dachte, Klier sei ein Kunstname“, erzählt die Aufsichtsratsvorsitzende Bettina Klier. Wir treffen sie zusammen mit ihrem Bruder, Geschäftsführer Michael Klier, in der Wolfsburger Verwaltungszentrale zu einem Gespräch über die fehlende Wertschätzung des Handwerks, die schönste aller Branchen und das gemeinsame Fundament Familie.
Frau Klier, Herr Klier, vor 71 Jahren machte Ihr Familienname erstmals in der Friseurbranche auf sich aufmerksam. Wie sahen die Anfänge aus?
Bettina Klier: Das Unternehmen hat unsere Großmutter Elfriede Klier gegründet. Sie war Kriegswitwe und hatte drei Kinder. Nach Kriegsende musste sie zusehen, wie sie ihre Familie ernährt und hat sich 1948 in der Nähe von Zwickau mit einem Salon in der heimischen Wohnung selbstständig gemacht. Sie ist dann immer stärker mit dem politischen System kollidiert, das Unternehmer nicht unterstützt hat …
… und ausgereist?
Bettina Klier: Genau. Daraufhin ist sie 1953 mit ihren drei Kindern und ein paar Koffern in den Zug gestiegen. Die erste große Stadt nach der Grenze war Wolfsburg – da sind die vier ausgestiegen. Danach hat meine Großmutter erst als Angestellte gearbeitet und dann den „Salon der Dame“ eröffnet.
Michael Klier: Damals war das Handwerk noch strikt getrennt. Es gab die Ausbildung zur Damenfriseurin oder zum Herrenfriseur. Elfriede war ausgebildete Damenfriseurin und in ihrem Salon wurden nur Frauen bedient.
War es damals ungewöhnlich, dass eine Frau als selbstständige Unternehmerin einen Salon führte?
Bettina Klier: Nein, durch den Krieg gab es damals einen latenten Frauenüberschuss in der Bevölkerung. Unsere Großmutter war eine so genannte „Trümmerfrau“ und in Wolfsburg gab es zahlreiche solcher Kleinunternehmerinnen.
Wie ging es weiter?
Bettina Klier: Die Mauer war dicht und wir hatten hier im Westen keine Verwandtschaft. Deshalb war es das Ziel unserer Großmutter, dass ihre Kinder in der Branche Fuß fassen, die sie selbst kannte und in der sie sich ein Netzwerk aufgebaut hatte.
Also haben alle drei Kinder das Handwerk erlernt. Unsere Tante hat später geheiratet und ist ins Ausland gegangen, aber unser Vater und unser Onkel haben sich nach der Ausbildung und dem Meisterbrief relativ schnell mit dem ersten Salon selbstständig gemacht.
Wann war das?
Bettina Klier: 1967. Sie waren damals 23 Jahre alt und der erste Bausparvertrag war fällig. Damit haben sie den Salon eröffnet.
Auch hier in Wolfsburg?
Bettina Klier: Ja, in der Porschestraße. Der Salon hieß City Frisör. Kurz danach wurden in Wolfsburg schon der zweite und dritte Laden eröffnet.
Was zeichnete Ihren Onkel und Ihren Vater aus?
Bettina Klier: Schon ihr Äußeres. Die beiden waren eineiige Zwillinge. Wenn sie in einen Raum gekommen sind, waren sie kaum zu unterscheiden. Auch nicht von ihren Mitarbeitern. Die Familie und engsten Freunde haben das schon hinbekommen.
Michael Klier: Manche Mitarbeiter der Verwaltung haben sich damals morgens die Farbe der Krawatte notiert (lacht).
Waren sich die beiden in ihrer Vision und Idee für das Unternehmen so einig, wie sie es äußerlich waren?
Bettina Klier: Sie waren mehr als eine Einheit. Normalerweise sagt man eins und eins macht zwei. Aber in dem Fall waren eins und eins gleich drei oder vier. Sie haben unglaublich gut zusammen gewirkt, so unterschiedlich wie sie in Diskussionsrunden vielleicht auch manchmal waren – die Marschrichtung war immer klar …
… und auf Expansion ausgerichtet …
Bettina Klier: Absolut. Die beiden wollten mehr und gingen damals nach Essen. Dort liegt der Hauptsitz von Karstadt und man hatte zum ersten Mal mit einem nationalen Keyplayer Kontakt aufgenommen. Auch für Karstadt war es relativ neu, eine bestehende Fläche an einen externen Dienstleister zu vermieten, aber das Konzept ging auf. Karstadt war der erste Ankermieter, später kamen ECE und Galeria Kaufhof hinzu. Das waren die ersten Partner, die unsere nationale Expansion ermöglicht haben.
Hatten die Klier-Zwillinge schon immer diese Wachstumsvision?
Bettina Klier: Das war ihr Leben.
Michael Klier: Ja, sie waren stets von Wachstum getrieben. Bevor sie nach Essen, Bremen, Bad Homburg und Stuttgart gegangen sind, waren sie auch in der Region schon aktiv. Sie hatten in Wolfsburg mehrere Filialen, eine davon haben wir noch in Detmerode. Gifhorn, Braunschweig und Salzgitter hatten sie auch schon „abgegrast“.
Woher kam die Idee, mit Akteuren wie Karstadt oder Kaufhof mitzuwachsen?
Bettina Klier: Die entstand in Braunschweig. Dort waren wir in der Burgpassage und in der Karstadtfiliale nebenan betrieb unser damals größter Mitbewerber Essanelle einen Salon. Joachim und Hubertus haben Karstadt daraufhin angesprochen, ob sie sich vorstellen könnten, einen weiteren Dienstleister aufzunehmen. Es gehört eben immer auch ein bisschen Fortune dazu …
Michael Klier: … aber auch die nötige Leidenschaft und der Wille. Joachim ist dann unter der Woche nach Essen und Hubertus nach Frankfurt gezogen, um die noch nicht vorhandenen Außendienststruktur bedienen zu können. Das war ein klassisches Pendlerleben. Hier hat sich wieder die Stärke des Teams bezahlt gemacht, das Doppelherz im sprichwörtlichen Sinne. So konnten sie in der Wachstumsphase flächendeckend alle Salons betreuen.