16. September 2019
Interview

Wie kann man sich so etwas Unpraktisches antun

phaeno-Geschäftsführer Michel Junge über Virtualität, das wertvolle Gut Freizeit und die Neugierde als Schlüssel zur Zukunft

Foto: Stephanie Joedicke

Herr Junge, wie gerne hören Sie die Bezeichnung Museum für das phaeno?

Ach, mit der Bezeichnung habe ich eigentlich kein Problem. Die Museumsszene in Deutschland verändert sich ja auch rapide – weg von den trockenen Hallen, in denen man sich mit Filzpantoffeln bewegen musste, hin zu lebendigeren Orten. Aber Science Center passt besser und das ist unsere internationale Gattungsbezeichnung.

Vor welchem Hintergrund ist das phaeno entstanden?

Wolfsburg war schon damals eine junge, dynamische Großstadt, hatte aber noch nicht diesen Habitus. Mit dem phaeno wollte sie die Entwicklung von der Werkssiedlung zur eigenständigen Stadt forcieren. Außerdem ist das phaeno ein städtisches Pendent zur Autostadt auf der Südseite des Kanals.

Welche Rolle hat die Wirtschaftsstärke Wolfsburgs gespielt?

Die war insofern ausschlaggebend für den Inhalt des Ortes, als dass Wolfsburg von Technik und damit auch Naturwissenschaft lebt. Der Kulturdezernent Dr. Wolfgang Guthardt hat sich damals verschiedene Science Center weltweit angeschaut und war begeistert. So kam die Idee, Wissenschaft in lebendiger, partizipativer Absicht darzustellen.

Wie finanziert sich das Museum?

Das phaeno finanziert sich durchgehend zu über 50 Prozent selbst. Das schwankt von Jahr zu Jahr. 2017 lag der Anteil der Eigenfinanzierung bei 60 Prozent. Einen großen Teil machen unsere Eintrittserlöse aus, dazu kommen Einnahmen aus der Gastronomie, dem Shop und dem Eventbereich. Wir werden immer mehr für Firmenevents nachgefragt. Darüber hinaus vermieten wir Exponate an andere Häuser, das ist eine Möglichkeit für uns, Kosten für Sonderausstellungen zu refinanzieren. Und dann gibt es noch Zuschüsse, Spenden und Zuwendungen.

Welches finanzielle Volumen macht das aus?

Etwas über sieben Millionen Euro, davon sind vier Millionen direkte Einnahmen.

Ende letzten Jahres übernahmen Sie die Gastronomie wieder selbst. War das der richtige Schritt?

Wir haben sie ursprünglich verpachtet, weil wir dachten, das sei eine gute Entscheidung. Dass der Pächter es letztendlich nicht geschafft hat, war traurig. Für uns ist entscheidend, dass es ohne Unterbrechung weiterging. Die Gastronomie steht nicht zur Debatte, unsere Besucher brauchen diesen Ort – aber es ist natürlich nicht unsere Kernkompetenz. Falls sich wieder eine Gelegenheit bieten sollte, wären wir offen für eine neue Verpachtung. Die Sicherheit für die Mitarbeiter hätte dabei aber immer oberste Priorität.

Wie haben sich die Besucherzahlen in den letzten Jahren entwickelt?

Stark schwankend. Das erste Jahr boomt immer. Eine Spitze haben wir 2011 mit 279.000 Besuchern erreicht. Vor zwei Jahren hatten wir wieder einen Peak mit 269.000 Besuchern. Letztes Jahr war mit 225.000 Besuchern seit langem das schlechteste Jahr.

Auf welche Ursachen lassen sich diese Schwankungen zurückführen?

Letztes Jahr lag es sicherlich an dem Jahrhundertsommer. Da sieht es dieses Jahr schon besser aus. Und natürlich sind wir auch von unserer Umgebung abhängig. Die Freizeit der Menschen ist begrenzt …

Wie stark ist der Kampf um das Kontingent Freizeit hier in der Region?

Unglaublich stark. Und jede neue Institution kannibalisiert diejenigen, die schon auf dem Markt sind. Das gleicht sich dann nach einer Zeit wieder aus und wir arbeiten daran, all das in Kooperation, nicht in einer Konfrontation münden zu lassen. Am Ende geht es allen um dasselbe Ziel: Mehr Menschen nach Wolfsburg locken.

Welche Bedeutung hat das phaeno für die Region?

Wir sind ein Anker – und zugleich auch Leuchtturm. Wir strahlen, nicht zuletzt dank der Architektur, in die Region hinein, aber verankern auch Wissenschaft und Technik. Wolfsburg baut nicht nur Autos.

Welchen Stellenwert nehmen Naturwissenschaft und Technik heute in der Gesellschaft ein?

Die Pisa-Studien haben gezeigt, dass die Menschen beidem einen gesellschaftlich hohen, aber keinen persönlich hohen Stellenwert einräumen – leider. Die Probleme vor denen die Welt steht, Klima- und Umweltprobleme, Ernährungsthemen, lassen sich aber nicht durch weniger Technik lösen. Wir brauchen nur einen verantwortungsvollen und sorgfältigen Umgang mit dieser. Und das ist nur möglich, wenn wir Zusammenhänge verstehen.

Das phaeno ist ein „anerkannter außerschulischer Lernort“. Was bedeutet das?

Wir werden vom Kultusministerium durch abgeordnete Lehrerstunden unterstützt. Dadurch haben wir intensiven Kontakt zur Basis, denn diese Mitarbeiter sind Lehrkräfte, die im aktuellen Schuldienst unterwegs sind und die Probleme und Fragen, die es heute in den Schulen gibt, kennen. So können wir rückkoppeln, welche Bedarfe es gibt, und an den richtigen Stellen ansetzen.

Auch die Architektur ist prägend für das phaeno – schräge Wände, massive Sichtbetonmauern, Nischen und kegelförmige Betonpfeiler. Welche Bedeutung kommt dieser zu?

Die Architektur des Hauses ist Ausdruck eines dekonstruktivistischen Baustils. Eine Strömung, die sich gegen das Diktat des rechten Winkels wandte. Zaha Hadid war eine der wenigen Vertreterinnen, die das in Beton umsetzen konnte. Als ich das phaeno kennenlernte, fragte ich mich, wie man sich so etwas Unpraktisches antun kann. Heute liebe ich, was das Haus mit den Menschen macht.

Können Sie das konkretisieren?

Man kommt aus dem engen Eingangsbereich und der Raum öffnet sich plötzlich – genau das passiert auch in den Köpfen der Menschen und entspricht dem, was wir erreichen wollen. Der Mensch braucht ein gewisses Maß an Verlorenheit, damit er seinen eigenen Weg entdeckt.

Der Faktor Eigenständigkeit spielt also eine wichtige Rolle?

Ja. Hier trifft dekonstruktivistischer Baustil auf konstruktivistischen Lernstil. Wir glauben an die Erkenntnisfähigkeit des einzelnen Menschen. Wir wollen nicht vermitteln. Besucher müssen mit allen Sinnesorganen fühlen und spüren. So konstruieren wir eine innere Repräsentation der Welt um uns herum. Der Bau selbst ist eine Art Experimentierlandschaft.

Mit 90 Millionen Euro überstiegen die Baukosten letztendlich das ursprünglich geplante Budget und darüber hinaus sogar die Kosten der Bildungselemente. Das hat zu einiger Kritik geführt. Können Sie diese nachvollziehen?

Jede Kritik ist berechtigt. Aber in dem Umfang und den spezifischen Auswirkungen hätte man das nicht voraussehen können. Es war experimentelles Bauen an und zum Teil auch über der Grenze dessen, was zu dem Zeitpunkt technisch möglich war. Das ist kein Bauwerk von der Stange.

Welche Rolle spielt die hautnahe Interaktion mit Wissenschaft im Zeitalter der Digitalisierung?

Sie wird umso wichtiger, weil Virtualität nichts anderes ist als etwas, das es nicht gibt. Virtualität kann alles tun. Um abschätzen zu können, ob etwas Virtuelles der Realität entspricht oder Sinn ergibt, müssen reale Erfahrungen gesammelt werden – nur so ist rationales Denken möglich.

In der Ausstellung „Smarte neue Welt“ greifen Sie dieses Thema auf …

Eigentlich stellen wir Virtualität und Realität immer gegeneinander. Aber digitale, virtuelle Phänomene sind Teil unserer Realität geworden. Wir setzen dem ein Exponat entgegen. Die Welt um uns herum wird immer besser darin, uns in einen Kokon zu hüllen und damit viel Entscheidungsfreiheit zu nehmen. Das muss man verstehen und durchschauen.

Sie selbst sind eigentlich Lehrer für Mathematik und Physik. Wieso haben Sie sich für einen anderen Weg entschieden?

Mein damaliger Professor gab mir den Rat, dass sich Physik nicht durch Formeln vermitteln lässt. Das hat mich geprägt. Ich wollte schließlich theoretische Fakten in die Realität holen und den Menschen erklären.

Wie viel Michel steckt in Michel Junge?

Michel aus Lönneberga zeichnete sich durch eins aus, was mich auch charakterisiert: Wir sind unendlich neugierige Wesen. Er zog seine Schwester am Fahnenmast hoch, um zu schauen, wie weit man Katthult überblicken kann. Er setzte sich die Schüssel auf den Kopf, um die Reste herauszubekommen – neugierige Menschen sind Menschen, die die Welt trinken wollen – und zwar ganz und gar. Neugier ist der Schlüssel zur Zukunft. Schließlich hat auch Albert Einstein von sich gesagt, er hätte keine besondere Begabung, er wäre nur leidenschaftlich neugierig.

Jährlich experimentieren durchschnittlich 250.000 Besucher im phaeno. Foto: Klemens Ortmeyer

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