Karin Stemmer arbeitet gern aufrecht. Beim Gespräch in ihrem Büro wird schnell klar, dass diese Haltung nicht nur am Stehtisch gilt. Seit fünf Jahren verstärkt sie als Vorständin die Braunschweiger Baugenossenschaft (BBG) – eine der ältesten ihrer Art in Deutschland. In einer Zeit, in der Immobilien Spekulationsobjekt geworden sind und Mieten immer weiter steigen, wohnen unter dem Dach der Genossenschaft noch Menschen für unter vier Euro pro Quadratmeter. „Das sind zunehmend weniger“, gibt sie zu, „aber das Gros liegt um die öffentliche Fördermiete von 5,60 Euro, also gut 2 Euro unter dem Markt.“
Enteignung ist keine Lösung
Dem Markt habe der Staat in den vergangenen Jahrzehnten das soziale Gut Wohnen überlassen – mit den bekannten Folgen und emotionalen Debatten. „Ich kann den Ärger der Menschen verstehen, aber wir können die Fehler der Vergangenheit nicht mit Enteignungen lösen, weil damit keine einzige neue Wohnung entsteht.“ Zwischen 30 und 40 Milliarden Euro würde es zudem allein kosten, die Immobilien in Berlin zurückzukaufen, rechnet Stemmer vor. „Wenn wir das Geld sinnvoll einsetzen, um im bezahlbaren Segment neu zu bauen, dann kommen wir einer Lösung nahe.“
Dafür braucht es nicht weniger als eine Rolle rückwärts. Denn viele Städte und Kommunen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten von den öffentlichen Versorgungseinrichtungen getrennt, um den eigenen Haushalt zu sanieren: Stadtentwässerung, Energieversorger und Wohnungsgesellschaften wurden privatisiert und zu Geld gemacht. „Das war sehr kurzsichtig“, findet Stemmer. „Der Markt hat auf Rendite gesetzt und die Versorgung vergessen. Da unterscheiden wir uns als Genossenschaft elementar.“
Die Mitte der Gesellschaft
Mit 90 Mitarbeitern bei der BBG selbst und 160 weiteren in zwei dazugehörigen Pflegeheimen will die Vorständin „das wirtschaftlich Notwendige tun, aber nicht alle Möglichkeiten ausreizen“. Dabei ist sie auf staatliche Hilfe angewiesen. Allein in den vergangenen 5 Jahren sind die Baupreise um rund 55 Prozent angestiegen, Flächen gibt es kaum. Wer Neubauprojekte auf dem freien Markt entwickeln möchte, könne deshalb nicht unter zehn Euro Kaltmiete pro Quadratmeter vermieten – ein Preis, der viele ausschließt. „Dabei denken die meisten immer an Sozialfälle, aber es geht längst um die Mitte der Gesellschaft.“
Wohnberechtigungsscheine erhalten mittlerweile auch Menschen mit Vollzeitjob. Es sind die Altenpflegerin oder der Polizist mit Familie, die sich Wohnungen in Großstädten nicht mehr leisten können. Ein Grund hierfür sind die Mieten selbst, der andere die Einkommensentwicklung. Da ist sie wieder, die Haltung: „Wir haben uns vom Konsens der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet, dass wir alle Menschen in unserem Land an der Wertschöpfung der Gesellschaft beteiligen.“ Sie macht eine Pause und schiebt nach: „Das ist meine persönliche Meinung als Karin Stemmer und nicht als Vorständin der BBG.“
Ein klassisches Arbeiterkind
Diese wird auch durch die eigene Biographie verständlich. Denn Karin Stemmer wächst in einfachen Verhältnissen auf einem kleinen Nebenerwerbshof in Süddeutschland auf – als „klassisches Arbeiterkind.“ Der Geldbeutel ist klein und der Diskurs am Küchentisch fehlt, aber sie hat gelernt, dass man gemeinsam viel erreichen kann. „Es gibt schon immer eine Stimme der Notwendigkeit in meinem Kopf“, erinnert sie sich. „Daraus ist ein Gestaltungswillen entstanden.“
Der hat sie nach dem ersten Abitur in der Familie aus der Landidylle in einen Bankerhaushalt in Kalifornien gebracht. Während der Au-pair-Zeit in den USA hat sie die Ehrfurcht vor höheren sozialen Statusgruppen irgendwann verloren.
Trotzdem zögert sie, traut sich das Wunschstudium Architektur nicht zu und plant zunächst eine Ausbildung zur Krankengymnastin. „Für meinen Vater war der große Aufstieg bereits die mittlere Reife, alles andere nicht vorstellbar.“ Schließlich entscheidet sie sich für ein Sozialpädagogik-Studium an der damaligen Gesamthochschule Kassel, weil es „sehr praxisorientiert“ und damit „irgendwie greifbarer“ ist, als Architektur. Damals wohnt sie drei Jahre lang in einer Wohnung ohne Badezimmer, gründet anschließend ein Kinderhaus in einem sozialen Brennpunkt und hängt ein Studium zur Immobilien-Ökonomin dran. Über verschiedene Stationen bei Wohnungsbaugesellschaften – unter anderem der GWH Wohnungsgesellschaft Hessen – kommt sie 2014 in die Region.
Stadt ohne Brennpunkte
Braunschweig hat sie sich genau angeschaut, bevor die Entscheidung für den Job bei der BBG fällt. Während die Stadt früher unter Leerstand litt, ist mittlerweile auch hier der Wohnraum rar. Karin Stemmer würde „ganz forsch behaupten“, dass Braunschweig keinen sozialen Brennpunkt hat. Das östliche Ringgebiet ist trotz einiger Gentrifizierungstendenzen für sie immer noch ein buntes und gesundes Quartier, das den Urgedanken der europäischen Stadt abbildet. Und die oft gescholtene Weststadt? „Hat sich durch das extreme Engagement der Stadt und aller beteiligten Wohnungsbauunternehmen zu einem Superquartier entwickelt, in dem die Menschen gerne wohnen.“
Es brauche natürlich weiterhin Impulse, weil der Stadtteil eine hohe Integrationsleistung vollbringt, für die er viel zu wenig Anerkennung bekomme. „Das ärgert mich, aber wir können feststellen, dass wir in der Weststadt heute keine Leerstände mehr haben. Daseinsfürsorge zahlt sich langfristig also auch wirtschaftlich aus.“ Dazu gehört für die Vorständin immer mehr auch ein aktives Quartiersmanagement. Früher hieß das Produkt der BBG „Wohnung“, heute sei es die Gestaltung von Wohnen und Leben in Nachbarschaften: „Bindungskräfte sind wichtig, um das weitere Auseinanderbrechen der Gesellschaft und die Vereinsamung im Alter zu verhindern.“
Viel Licht und ein Blick in die Ferne
Karin Stemmer selbst lebt in einer Mietwohnung im Östlichen Ringgebiet – und geht letztendlich bewusst fremd. Sie wäre zwar gern in eine der neu gebauten BBG-Wohnungen gezogen, aber es gibt damals viele Interessenten mit einer weitaus älteren Mitgliedsnummer und die Vorständin will die eigenen Vergaberichtlinien nicht übergehen. In den eigenen vier Wänden hat sie es gern hell und aufgeräumt – und sie liebt den Blick in die Ferne. Ein großer Esstisch mit vielen Stühlen verrät, dass sie und ihr Mann gern kochen und unter Menschen sind.
Das sei gerade anfangs in Braunschweig nicht leicht gewesen. Weil die Stadt konservativer und verschlossener ist, als andere? „Ich traue mich mal, vorsichtig ja zu sagen.“ Sie lacht. „Braunschweig ist einfach von sehr starken wie alten Netzwerken und damit historisch bedingt von Männern an den Schalthebeln geprägt.“ Und in der Tat lächelt Karin Stemmer auf Fotos von Spatenstichen und Einweihungen meist als einzige Frau in die Kamera – und macht auch abseits von öffentlichen Anlässen die Erfahrung, dass das Geschlecht noch immer Bedeutung hat.
Ein Brückenschlag unter Strom
Männer in Führungspositionen seien den Umgang mteinander gewohnt und hätten häufig kein Verhaltensreportoire gegenüber einer Frau in gleicher Position. „Das soziale Miteinander unter Kerlen bleibt mir verschlossen. Das geht strukturell nicht.“ Fronten möchte sie beim Thema Geschlechtergerechtigkeit aber nicht aufmachen. „Die helfen nicht, dafür Lockerheit und nicht zu viel politische Korrektheit. Dann gelingt vielleicht irgendwann gesellschaftlich der Brückenschlag.“
Daran versucht sich Karin Stemmer auch bei der Mobilitätswende. Seit einigen Jahren ist sie mit einem Tesla unterwegs, weil nur der amerikanische Hersteller die nötige Reichweite und Schnelladefunktion bieten konnte. Für ihren Stromer hat sie schon einige Spitzen kassiert. „Es ist einfach kein Sechs-Zylinder, wie auf der Vorstands- und Geschäftsführerebene üblich“, scherzt sie und plant bereits ein weiteres Downsizing. Denn mittlerweile haben auch kleinere Elektroautos große Akkus verbaut. In der Freizeit ist sie ohnehin am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs. Sport? Es folgt ein Räuspern. „Es gab Zeiten, in denen ich täglich vor der Arbeit gejoggt bin, aber seit dem Umzug bin ich nie wieder in den Rhythmus gekommen. Das wird sich jetzt ändern.“
Ganz oben angekommen
Die Vorständin hat noch viel vor. Bei der BBG möchte sie in den nächsten Jahren auch nach innen wirken und die historisch gewachsene Hierarchie auflösen. Ihr Ziel heißt dialogische Führung. Doch jetzt ist sie erst einmal ganz oben angekommen und blickt vom Dach der Unternehmenszentrale an der Celler Straße über die Stadt, in der ihr Unternehmen rund 6.500 Wohnungen besitzt und 22.000 Mitglieder betreut. Es ist kühl hier oben – und windig. Karin Stemmer ist vorbereitet und hat sich einen Mantel übergestreift. Sie wirkt angekommen. „Der Realitätscheck wird am Ende zeigen, ob das alles nur eine schöne Idee oder mehr ist.“ Eigentlich meint sie damit das Change Management im Unternehmen. Aber dieser Satz hat Potenzial für viel mehr …
