und
1. August 2019
Entscheider

„Niedersachsen ist Energie­wende-Land“

Marten Bunnemann, Vorstandsvorsitzender der Avacon AG, über die Sektorenkopplung, die Digitalisierung der Netze und die Chance, das Leben der eigenen Kinder zu prägen …

Foto: Holger Isermann

Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben die Küste Japans. Ein gewaltiger Tsunami und meterhohe Wellen lösen eine Nuklearkatastrophe in Fukushima aus und führen in Deutschland zur erneuten Wende in der Atompolitik. Im vergangenen Jahr stellen sich im Hambacher Forst Umweltschützer den Baggern der RWE und damit dem Tagebau entgegen. Kurz danach nimmt die „Fridays für Future“-Bewegung um die junge schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg Fahrt auf. Schüler auf der ganzen Welt streiken für den Klimaschutz. Der Klimawandel wird zum bestimmenden Thema der öffentlichen Agenda und verschafft den Grünen ein Allzeithoch in den Umfragen. Energie bewegt – immer mehr auch emotional.

Marten Bunnemann, Vorstandsvorsitzender der Avacon AG, ist mit seinem Unternehmen mittendrin und möchte den Umbau der Energiewirtschaft hin zu einer dezentralen, erneuerbaren und digitalen Welt weiter vorantreiben: „Ich bin bewusst in die Energiewirtschaft gegangen, weil der Bereich auch große gesellschaftliche Relevanz besitzt. Energie ist ja nicht irgendein Konsumprodukt, sondern die Lebensgrundlage unserer Gesellschaft.“ Und genau dafür sorgt die Avacon AG mit ihrer Zentrale im Ex-Braunkohlerevier Helmstedt seit mittlerweile 20 Jahren. Ganze 86.000 Kilometer Energienetze betreibt das Unternehmen mit 2.700 Mitarbeitern – außerdem gehören innovative Energie- und Quartierslösungen, E-Mobility, der Breitbandausbau und die Wasserver- sowie Abwasserentsorgung zum Portfolio.

Insgesamt erwirtschaftet Avacon mit diesen Aktivitäten rund 3,3 Milliarden Euro Jahresumsatz und setzt auch intern auf Modernisierung und Kulturwandel – eine Verjüngung des Führungsteams, Digitalisierung und das „Du“ sind Ausdruck dieses Prozesses. „Energiewende ist ein kulturelles Thema und muss in den Köpfen anfangen“, betont Marten Bunnemann beim Titelinterview in der Helmstedter Unternehmenszentrale …

Herr Bunnemann, wie viel Energie verspüren Sie heute Nachmittag?

Extrem viel, um die Energiewende weiter voranzutreiben. Ich komme gerade aus der Altmark in Sachsen-Anhalt, wo wir im großen Stil erneuerbare Energien an die Stromnetze anschließen. Das war ein sehr guter Tag und er zeigt mir: Der Umbau hin zu einer dezentralen und erneuerbaren Energiewelt findet in der Realität statt.

Wird die Bedeutung der Energie von den Menschen eher über- oder unterschätzt?

Tendenziell wird das Thema meines Erachtens unterschätzt, weil Energie einfach da ist. Aber das ist natürlich auch das Ziel von Unternehmen wie Avacon. Wir sind dafür da, die Komplexität zu managen und den Menschen verlässliche Energiequellen zur Verfügung zu stellen – sei es mit Strom, Gas oder Wärme.

Was fasziniert Sie persönlich am Thema?

Ich bin bewusst in die Energiewirtschaft gegangen, weil der Bereich auch große gesellschaftliche Relevanz besitzt. Das reizt mich und macht eine gewisse Komplexität aus. Energie ist ja nicht irgendein ein Konsumprodukt, sondern die Lebensgrundlage unserer Gesellschaft und wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und den Alltag der Menschen.

Sind Sie ein politischer Mensch?

Ja. Als Unternehmensvertreter dieser Größenordnung in der Energiewirtschaft muss man das auch sein. Unser Geschäft ist außerdem sehr politisch – wir sind abhängig von politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen, haben selbstbewusste kommunale Anteilseigner.

Am 20. August wird Avacon 20 Jahre alt – wie kam es zur Gründung und was waren entscheidende Meilensteine?

Avacon ist aus vier niedersächsischen Energieunternehmen und dem alten Energiekombinat Magdeburg EVM hervorgegangen. Neben energiewirtschaftlichen und strategischen Überlegungen haben damals die beiden Hauptprotagonisten bewusst eine länderübergreifende Fusion angestrebt. Das hat sicher kulturell zur Deutsch-Deutschen Wiedervereinigung beigetragen …

Können Sie Beispiele nennen?

Etwa dadurch, dass wir sehr zeitnah die Arbeits- und Tarifverhältnisse von Ost und West angepasst haben. Das ist ein starkes Signal nach Sachsen-Anhalt gewesen. Damit wurde auch ein politisches Zeichen gesetzt. So feiern wir dieses Jahr 30 Jahre Wiedervereinigung und 20 Jahre Avacon.

Sprechen wir über die Tätigkeitsfelder der Avacon-Gruppe. Sind Sie Energieversorger, Netzbetreiber, Dienstleister?

Viele Bürger verstehen unter Energieversorger immer denjenigen, der dem Endkunden Gas und Strom liefert. Das ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was die Energiewirtschaft ausmacht. Wir haben uns im Jahr 2013 entschieden, aus dem Vertriebsgeschäft für Strom- und Gas auszusteigen. Wo wir geblieben sind und einen starken Schwerpunkt setzen sind drei Geschäftsfelder: Wir bauen und betreiben im großen Maßstab Energieinfrastrukturen – Strom-, Gas-, Glasfaser- und Wärmenetze – und unter anderer Marke, nämlich Purena, auch Wassernetze. Diese Infrastrukturen sind ein wesentliches Standbein von Avacon und auch der Hauptergebnisbringer.

Und die anderen beiden Bereiche?

Das sind regionale Dienstleistungen für die Energiewende. Dazu gehören Dinge wie das Erschließen von Windparks und Photovoltaik-Anlagen, energieeffiziente dezentrale Erzeugungslösungen, innovative Quartierslösungen, das Management von Straßenbeleuchtung und E-Mobilitäts-Lösungen für Industrie- und Gewerbekunden sowie Kommunen. Neben dem Netzbetrieb ist das ein stark wachsendes Standbein. Und schließlich managen wir ein Beteiligungsportfolio von fast 50 Gesellschaften, in denen wir industrieller Partner für Stadtwerke und andere Energieunternehmen sind.

Was zeichnet Ihr Unternehmen und den Markt aus und wo stehen Sie im Hinblick auf Mitbewerber?

Da gibt es mehrere Parameter. Wir machen über 3,3 Milliarden Euro Umsatz, haben 2.700 Mitarbeiter in der Unternehmensgruppe, mehr als 86.000 Kilometer Energienetze. Unabhängig davon, welche KPIs wir nehmen, sind wir sicher unter den großen regionalen Energieversorgern …

… Top drei?

Ja, Top drei bis fünf.

Die Avacon-Gruppe ist zu 61,5 Prozent im Besitz der E.ON, 38,5 Prozent der Anteile halten kommunale Aktionäre. Was sind die Folgen dieser Struktur?

Wir können die Finanz- und Innovationskraft eines internationalen Energiekonzerns mit einer starken regionalen und kommunalen Verwurzelung verbinden. Das Mindset ist keine schlechte Voraussetzung für eine immer dezentraler und gleichzeitig digitaler werdende Energiewelt, deren Umbau auf absehbare Zeit hohe Investitionsmittel erfordern wird.

Das klingt nach viel Klein-Klein …

In vielen Teilen unseres Geschäfts sind wir einfach direkt davon abhängig, dass uns Städte und Gemeinden für bestimmte Zeit das Recht und Vertrauen geben, ihre Energienetze auszubauen und zu managen. Auch beim Breitbandausbau sind wir von der Zusammenarbeit mit der kommunalen Politik abhängig. Kommunale Partnerschaften auf Augenhöhe sind insgesamt ein zentrales Erfolgskriterium für unseren unternehmerischen Erfolg. Das ist auch eine ganz wichtige Rückkopplung. Der kommunale politische Resonanzraum muss für unmittelbares Feedback immer wieder von uns aufgesucht werden.

Die Energiewirtschaft ist stark reguliert und von der Politik beeinflusst. Würden Sie sich mehr Freiheit auf dem Markt wünschen?

Die Energiewirtschaft hat verschiedene Wertschöpfungsteile. Manche sind hoch reguliert, zum Beispiel die Energieinfrastruktur. In anderen Teilen gibt es eine indirekte Regulierung, wie durch die festgelegte Einspeisevergütung für Photovoltaikanlagen. Gleichzeitig gab es auf der Erzeugungsseite politische Einschnitte wie den Kernenergieausstieg und jüngst den Ausstieg aus der kohlebasierten Erzeugung.

In anderen Branchen – nehmen wir mal den Immobilienmarkt – haben wir eine ähnliche Debatte. Da hat sich der Staat lange zurückgezogen und jetzt kommt Kritik daran auf …

Solche Reflexe sehen wir in der Energiewirtschaft ebenfalls, wenn auch aus anderen Beweggründen. Konzessionsgebende Gemeinden und kommunale Anteilseigner bauen ihren Einfluss wieder stärker aus, weil sie Einfluss auf die Energiewende vor Ort haben wollen.

Das Image – gerade der großen Energiekonzerne – ist in Deutschland nicht besonders gut. Die Endlager- und Atommülltransportdebatte oder die Auseinandersetzungen im Hambacher Forst – können Sie die Kritik aus der Bevölkerung nachvollziehen?

Klar. Ich schaue als Bürger teilweise auch kritisch darauf, was Konzerne machen.

Sind Sie besser als Ihr Ruf?

Wir sind ein sehr dezentrales, kommunal geprägtes, regionales Unternehmen – und haben mit Endlagern und Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen nichts zu tun. Und das Bild der vier Großkonzerne RWE, E.ON, Vattenfall und EnBW, die den Markt bestimmen, ist längst nicht mehr die Realität …

… sondern?

In Braunschweig haben wir heute bestimmt mehr als 50 Energieanbieter – die alten Strukturen gibt es nicht mehr. Diese Entwicklung ist unaufhaltsam und das ist auch gut so, weil sie für Innovation und Wettbewerb sorgt.

Was steht am Ende dieses Wandels?

Die Zukunft der europäischen Energiewirtschaft wird dezentral, digital und erneuerbar sein und den Kunden in den Mittelpunkt stellen – und in jedem Fall nicht mehr fossil, mit großen, zentralen Erzeugungsstrukturen.

Wie anstrengend macht das Ihren Job?

Ich würde es nicht anstrengend nennen – das macht den Reiz doch erst aus (lacht). Vor 25 Jahren war die Energiewirtschaft relativ statisch, heute haben wir extrem kurze Innovationszyklen. Das ist einmalig und ich bin sehr froh, den Wandel mitgestalten zu können.

Vielen Menschen macht die Entwicklung auch Angst …

Ja, das erlebe ich auch, und wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Wir müssen sie mitnehmen, erklären, was wir erreichen wollen und vor allen Dingen eine klare Sprache sprechen. Es lohnt sich, weil wir die riesige Chance haben unsere Gesellschaft zu dekarbonisieren und das Leben der Menschen nachhaltig zu verbessern. Wir können so schließlich das Leben unserer Kinder prägen. Natürlich gibt es Dinge, die falsch gelaufen sind, aber das ist in Veränderungsprozessen völlig normal.

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