und
1. August 2019
Entscheider

„Niedersachsen ist Energie­wende-Land“

Marten Bunnemann, Vorstandsvorsitzender der Avacon AG, über die Sektorenkopplung, die Digitalisierung der Netze und die Chance, das Leben der eigenen Kinder zu prägen …

Foto: Holger Isermann

Gute Frage, haben Sie Antworten?

Ja, wir haben in einem aufwendigen Prozess unsere Stromnetze geprüft. An uns wird der Ausbau der E-Mobilität nicht scheitern. Unsere Netze sind bereit – auch für ambitionierte Hochlaufkurven. Das wird zusätzliche Investitionen kosten, ist aber eingeplant. Insgesamt laufen wir beim Thema Mobilität als deutsche Gesellschaft etwas hinterher. Schon vor zehn Jahren haben wir die ersten großen E-Mobilitäts-Projekte umgesetzt, haben Kompetenzen aufgebaut und dann kam jahrelang nichts. Das ist jetzt zum Glück anders. Wir sollten aber auch Wasserstoff als Energieträger nicht vergessen.

Die Brennstoffzelle?

Beim Wasserstoff haben wir die Chance, als Region Vorreiter zu werden. Mit der Salzgitter AG und der Linde AG sind wir gerade in einem Projekt, in dem wir aus erneuerbar erzeugter Windenergie vor Ort in Salzgitter grünen Wasserstoff herstellen, der direkt in die Stahlproduktion eingeführt wird. Alstom baut seinen Wasserstoffzug in Salzgitter. Wir haben außerdem ein großes Projekt mit der EEW Energy from Waste und dem Energie-Forschungszentrum Niedersachsen in der Pipeline und eine Landesregierung, die das Thema Wasserstoff ganz oben auf ihre energiepolitische Agenda gesetzt hat..

Ist Ihnen die Strategie des Volkswagenkonzerns zu einseitig?

Wir werden E-Mobilität im Personenverkehr sehen, aber wenn wir den Schwerlastverkehr – also LKW und Frachtschiffe – ernsthaft dekarbonisieren wollen, werden wir meines Erachtens um „grünen“ Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien nicht herumkommen.

Wie werden wir in zehn Jahren leben und mobil sein?

Ich bin mit Langzeitprognosen vorsichtig …

… es sind nur zehn Jahre …

Das ist schon eine relativ lange Zeit mit vielen Entwicklungssprüngen (lacht). In den ländlichen Gebieten hier in Niedersachsen wird ein Großteil der Menschen viel Eigenstrom produzieren und speichern. Auch das Peer-to-Peer-Geschäft wird wachsen. Wir kaufen unseren Strom dann beim örtlichen Bauern, bei dem wir unsere Äpfel oder Kartoffeln kaufen. Diese Energie werden wir auch für E-Mobilität einsetzen und die Sharing-Modelle werden zunehmen. Als dreifacher Familienvater glaube ich aber, dass Familien immer ihr eigenes Auto haben werden.

Wie sieht es bei der Wärmeerzeugung aus?

Dort wird es zwei Entwicklungen geben: Wir werden viel der Energie, die wir selbst dezentral erzeugen auch zur Wärmeerzeugung einsetzen, aber gleichzeitig grünes Gas nutzen. Also aus erneuerbaren Energien hergestelltes synthetisches Gas, das dann durch unsere Erdgasinfrastruktur fließt.

Wie schätzen Sie die unterschiedlichen Potenziale der Erneuerbaren Energien ein? Wo ist am meisten Luft nach oben?

Ganz klar bei der Solarenergie. Beim Wind würde ich immer unterscheiden, bei Offshore gibt es noch Potentiale, im begrenzten Maße auch beim Onshore – zum Beispiel durch Repowering und leistungsstärkere Windräder. Beliebig viele neue Anlagen können wir aber nicht mehr bauen, denn das kollidiert mit der Akzeptanz der Bürger und dem deutschen und europäischen Planungs- und Naturschutzrecht.

Reden wir über den Breitbandausbau …

Als Wirtschaftsstandort braucht Deutschland eine funktionierende Breitbandinfrastruktur. Da hinken wir hinterher. Die Politik macht relativ viel, diskutiert und bringt Fördermittel auf den Weg. Aber auch wir als Unternehmen sind gefragt. Wir haben das gesamte Thema in eine eigene Gesellschaft eingebracht, die Avacon Connect. Aus dieser heraus werden wir den Ausbau in unseren Versorgungsgebieten stark vorantreiben.

Wie ist die Situation in der Region?

Im Großraum Wolfsburg und überall, wo die Menschen viel pendeln und Homeoffice machen, ist das Bedürfnis groß. Glasfaserinfrastruktur wird neben Strom die Lebensinfrastruktur der Zukunft in einer datenbasierten Gesellschaft sein. Beim Thema 5G darf man sich auch nicht täuschen lassen – 5G wird den Bedarf an Breitbandinfrastruktur erhöhen und ihn nicht etwa verkleinern. Denn die Massen an Daten, die wir über 5G abrufen, können nur über Glasfaser zur Sendeinfrastruktur transportiert werden.

Ist der Standort Helmstedt eine Herausforderung für Ihr Unternehmen?

Wir sind seit 20 Jahren hier. Mich hat die Frage, als ich neu in die Region gekommen bin, ehrlich gesagt auch beschäftigt. Aber ich bin positiv überrascht worden. Wir haben in den letzten zwei Jahren viele neue Talente rekrutieren können – trotz Wirtschaftsboom und VW in der Nachbarschaft. Wir sind in Helmstedt fest verwurzelt und stehen zu dem Standort!

Woher kommen die Mitarbeiter?

Viele wohnen nicht in Helmstedt. Niedersachsen ist ein Pendelland und wir haben viele Mitarbeiter, die große Strecken unterwegs sind. Die Bereitschaft dazu ist sehr ausgeprägt …

… gerade bei den Führungskräften?

Natürlich. Und darauf muss sich ein Unternehmen auch kulturell einstellen. Die Arbeitswelten verändern sich. Wofür ich mich sehr stark einsetze, auch gegen Vorbehalte, ist das Thema Homeoffice und Virtual Collaboration. Das wird in Zukunft ganz selbstverständlich zu unserem Arbeitsalltag gehören.

Was fehlt Ihnen in Helmstedt?

Eine Auswahl an netten Restaurants und Bars.

So schlimm?

Nach vier Wochen kannte ich alles. Für Neues muss man dann nach Braunschweig oder Wolfsburg fahren. Helmstedt hat wirklich viele Vorteile und ist eine charmante Stadt mit alter Universitätstradition. Aber ich glaube, dass nach der Wende auch einige Chancen vertan worden sind. Man könnte aus der Stadt viel mehr machen.

Wie sieht Ihre Unternehmensvision aus?

Ich will der präferierte Energiepartner in der Region werden – nicht nur als Betreiber von Energieinfrastrukturen, sondern tatsächlich als der Partner für Energiewende-Themen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Da sind wir auf einem guten Weg.

Kann man das Wachstum in Zahlen ausdrücken?

Wir investieren jedes Jahr über 200 Millionen und beschäftigen über 2.700 Mitarbeiter in der Gruppe – das zeigt unser starkes Commitment zu dieser Region. Mittlerweile bewirtschaften wir 1.300 Konzessionen, bei denen uns Gemeinden und Städte ihre Energieinfrastrukturen anvertrauen. Wir sind nicht nur als Avacon aktiv, sondern haben auch viele strategische Beteiligungen: Zum Beispiel bei der WEVG in Salzgitter, LSW in Wolfsburg und einer Vielzahl von Minderheitsbeteiligungen an kleineren Stadtwerken. In dieser Vernetzung sehe ich die Zukunft – alle Akteure sind immer stärker auf Partnerschaften angewiesen.

Das heißt auch Arbeiten auf Augenhöhe? Oder kommen Sie als „die große Avacon AG“ zu den Kleinen?

Das sollte man tunlichst unterlassen.

Wie häufig müssen Sie Ihren Mitarbeitern erklären, dass sich die Zeiten geändert haben?

Avacon als Unternehmen und insbesondere seine Mitarbeiter haben die Umbrüche in der Energiewirtschaft in den letzten 20 Jahren erfolgreich bewältigt. Wir sind strategisch sehr gut positioniert und finanziell hochsolide aufgestellt. Und unser hohes Maß an Wandlungsfähigkeit wappnet uns auch für den weiter voranschreitenden Umbau der Energiewirtschaft. Welches Thema ich aber sehe, ist die konsequente Kundenorientierung. Den Kunden wirklich in den Mittelpunkt zu stellen, das bleibt eine große Herausforderung. Da sind wir mittendrin, und der Weg ist noch lange nicht zu Ende.

Was tun Sie, wenn Sie nicht arbeiten?

Ich bin nicht das beste Beispiel für eine gute Work-Life-Balance (lacht). Aber ich mache meinen Job auch wirklich gerne. Wenn ich Zeit habe, verbringe ich sie meist mit meiner Frau und unseren drei Kindern. Ansonsten interessiere ich mich sehr für Geschichte und wäre wohl Historiker geworden, wenn es mich nicht in die Energiewirtschaft gezogen hätte.

Würden Sie sich als Hobby-Historiker bezeichnen?

Ja.

Sie lesen und besuchen Orte?

Ja. Im Urlaub und auch mal zwischendurch, wenn ich die Zeit hab.

Was ist Ihr Lieblingsort in der Region?

Das ist schwierig, die Region ist unheimlich reich an Geschichte. Quedlinburg finde ich faszinierend, den Ost-Harz, aber auch Braunschweig, Goslar, die alten Welfenstädte. Oder Otto der Große in Magdeburg, Königslutter mit dem alten Dom. Es atmet hier Geschichte. Das ist mein Hobby und mein Ausgleich zum Alltag.

Sport?

In Maßen. Golf, Joggen, es könnte mehr sein.

Fahren Sie eigentlich selbst ein Elektroauto?

Wir haben unseren Fuhrpark sehr konsequent auf E-Autos umgestellt. Aber ich bin im ersten Jahr bei Avacon 80.000 Kilometer unterwegs gewesen. Das bekomme ich derzeit nur mit einem Verbrennungsmotor hin. Ein Beispiel: Ich war vor Kurzem auf einer großen Podiumsdiskussion zum Thema E-Mobilität – da konnte ich ja nicht mit einem Benziner vorfahren. Also habe ich mir ein E-Auto aus unserem Fuhrpark ausgeliehen. Auf dem Rückweg musste ich laden und bin mit der Realität der deutschen Ladeinfrastruktur konfrontiert worden. Die erste Säule ging gar nicht, an der zweiten funktionierte die Roaming-Karte nicht und erst an der dritten, die vor einem Supermarkt stand, konnte ich dann tanken.

Immerhin …

Aber die Geschichte geht noch weiter. Relativ schnell bildete sich eine Traube um mich und das Auto. Ich sah staunende Menschen und man versicherte mir, dass hier noch nie jemand gehalten und geladen hätte. Insofern – es bleibt noch viel zu tun …

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