6. April 2021
Entscheider

„Solidarität, Ehrlichkeit und Verantwortung“

Eine (Regional-)Geschichte der Genossenschaften …

Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1921 und zeigt Familie Scheidemann vor ihrem Geschäft am „Alten Hafen“ in Carolinensiel. Bereits 1923 hat man sich Edeka angeschlossen und ist noch heute Mitglied, der auch in der Region 38 aktiven Edeka Minden-Hannover. Foto: EDEKA Minden-Hannover.

Ob wir von Brüchen in oder der Verrohung der Gesellschaft sprechen, vom Verlust der Dialogfähigkeit oder der Erstarkung politischer Ränder – all das deutet auf eine Erosion des Fundaments hin, das unser Land lange erfolgreich gemacht hat, den guten Kompromiss. In einer Zeit des „Ichs“ beleuchtet die Standort38-Redaktion das „Wir“ und Werte wie Solidarität, Ehrlichkeit und Verantwortung – natürlich mit dem gewohnten Fokus auf unsere regionale Wirtschaft.
Konkret heißt das: In einer mehrteiligen redaktionellen Serie werden wir uns ab sofort der Genossenschaftsidee nähern, zum Beispiel über ihre Historie und Grundsätze, aktuelle Forschungserkenntnisse und Zukunftsperspektiven. Unabhängige Experten erläutern, wie die Organisationsform entstanden ist und warum sie nicht nur zum Zeitgeist passt, sondern gegenwärtig sogar eine Renaissance erfährt. Außerdem stellen wir die verschiedenen Branchen, in denen Genossenschaften verbreitet sind, vor: dazu zählen Finanzen, Bauen & Wohnen, Energie, Landwirtschaft, Dienstleistungen und das Prinzip der Einkaufsgenossenschaften.
Los geht es in dieser Ausgabe – mit einem historischen Aufschlag …

Die Idee einer Bewegung ist meist älter als ihr späterer Name. Das ist bei den Genossenschaften nicht anders. Was sie auszeichnet, lässt sich seit Ende 2016 unter anderem bei der Unesco nachlesen. Denn die Genossenschaftsidee ist als erste deutsche Nominierung überhaupt in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden und demnach „ein überkonfessionelles Modell der Selbsthilfe, Selbstverwaltung sowie Selbstverantwortung. Ihr grundlegender Rahmen beruht auf Werten wie Solidarität, Ehrlichkeit und Verantwortung“, heißt es auf der Seite der deutschen Unesco-Kommission. Und wenn man diese grundlegende Definition anlegt, lassen sich weit vor dem Wirken von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch, die heute als Gründerväter der modernen Genossenschaftsidee gelten, Initiativen finden, die sich nach ähnlichen Prinzipien organiseren …

Siegreiche Friesen bauen einen Deich
Wohl schon 884 gründen Bauern aus Ostfriesland die Theelacht zu Norden. Kurz zuvor hat ihr Heer die Herrschaft der Normannen durch einen Sieg in der Nähe der Stadt beendet und anschließend die Hilgenrieder Bucht in eine gemeinschaftliche Dauernutzung und Verwaltung übergeben. Das Gebiet ist damals noch nicht eingedeicht und wird häufig überschwemmt, insbesondere bei Sturm- und Springfluten. Weil das Theelrecht lange Zeit nur mündlich überliefert wird, ist indes nicht klar, ob tatsächlich der Sieg über die Besatzer Initial der Gründung ist oder es sich bei der Gemeinschaft nicht eher um einen sehr alten Deichverband handelt. Denn der Bau von Schutzanlagen gegen das Meer bestimmt später die Aktivitäten der Theelacht. Kriegerisch oder nicht, der Männerbund gilt heute als weltweit erster genossenschaftlicher Zusammenschluss überhaupt.

Das alte Rathaus von Norden ist Heimat der Theelacht. Foto:, Wikimedia.
Die Genossenschaftsidee ist als erste deutsche Nominierung überhaupt in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden. Foto: BVR.

Die Gemeinschaft vom Rammelsberg
Frühe Spuren finden sich auch direkt vor unserer Haustür – im Harz. Dort wird bereits seit der Römerzeit Erz abgebaut, sicher lässt sich das dank archäologischer Ausgrabungen am Herrensitz Düna auf das 3. Jahrhundert n. Chr. datieren. Von dort an sollte es noch einmal gut 900 Jahre dauern, bis sich Bergleute in Goslar zu ersten Bruderschaft zusammenschließen. In einer Urkunde vom 28. Dezember 1260 sichert Bischof Johann I. von Brakel der „Sankt Johannes Bruderschaft“ am Rammelsberg seinen Schutz zu. Diese kümmert sich um die Unterstützung kranker Bergleute und hilft, Hinterbliebene verstorbener Bergleute, wie Witwen und Waisen, vor schweren Notlagen zu bewahren. Spuren an der St. Johanneskirche vor den Toren Goslars sprechen für ein erstes Krankenhaus vor 1290, eine Urkunde aus dem Jahr 1294 bestätigt die Existenz. Mit diesem Zusammenschluss zur Selbsthilfe haben die Brüder in Goslar frühzeitliche Genossenschaftsgeschichte geschrieben und ganz nebenbei die erste Sozialversicherung weltweit gegründet.

Die Ideen des britischen Unternehmers Robert Owen haben Schule gemacht … Foto: BVR.

Eine visionäre Modellfabrik in den Lowlands
Nicht nur bei der Industriellen Revolution ist England den Deutschen Anfang des 19. Jahrhunderts voraus. Auch die negativen Begleiterscheinungen des ungebremsten wirtschaftlichen Fortschritts treffen zuerst auf die Ärmsten der Insel, die auf der Suche nach Arbeit zu Hunderttausenden in Städte strömen und dort die prekäre Lage weiter verschlimmern: Kinderarbeit, menschenunwürdige Wohnsituationen und Hunger sind die Folge. Einer, den dies nicht kalt lässt, ist der britische Unternehmer Robert Owen. 1799 beginnt er in seiner Baumwollspinnerei in Schottland ein Experiment: Er will zeigen, dass diese moderne Form der Sklaverei auch wirtschaftlich nicht erstrebenswert ist und verkürzt die Arbeitszeit, richtet Kranken- und Rentenversicherungen ein, sorgt für bezahlbare Waren und lässt Arbeiterwohnungen bauen. Und in der Tat: die Produktivität in seiner Fabrik erhöht sich drastisch, Diebstähle gehen zurück. Owens Fabrik in New Lanark wird zum Modellbetrieb, den Fürsten und Politiker aus aller Welt besuchen. Seine Idee findet außerdem zahlreiche Nachahmer.

… und auch Vordenker, wie Hermann Schulze-
Delitzsch inspiriert. Zusammen mit … Foto: BVR.

Zwei Männer und eine Idee
So beispielsweise in Deutschland, wo sich der Richter und linksliberale Parlamentarier Hermann Schulze-Delitzsch für die zunehmend von der Industrialisierung abgehängten Handwerker einsetzen will. Weil er sich auf der politischen Ebene nicht mit seinen Ideen durchsetzen kann, gründet er 1849 in seiner Geburtsstadt Delitzsch, dessen Namen er aus Verbundenheit und entsprechend der parlamentarischen Gepflogenheiten später selbst trägt, mit Tischlern und Schuhmachern die erste Einkaufsgenossenschaft auf deutschem Boden. Später kommen Vorschuss- und Kreditvereine dazu, die Vorgänger der heutigen Volksbanken. Schulze-Delitzsch prägt als Vordenker das preußische Genossenschaftsgesetz von 1867 und das allgemeine Genossenschaftsgesetz von 1889, dessen Einführung er selbst nicht mehr erlebt. Das gilt auch für den Beamten Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der im strukturschwachen Westerwald zur gleichen Zeit das Genossenschaftsprinzip vorantreibt. Zunächst gründet er einen Hilfsverein, um den Hunger der Bevölkerung zu lindern, und später den Flammersfelder Hilfsverein, den Heddesdorfer Darlehnskassenvereins und die Rheinische Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank zur Unterstützung unbemittelter Landwirte. Aus seinen Initiativen gehen die Raiffeisenmärkte und -banken hervor, die sich später mit den Volksbanken zu einer Organisation zusammenschließen. Zusammen mit Schulze-Delitzsch gilt Raiffeisen heute als Gründervater der modernen Genossenschaftsidee.

… Friedrich Wilhelm Raiffeisen gilt er als Gründervater der deutschen Genossenschaftsidee. Foto: BVR.

Die Macher aus dem Bergbau
Noch bevor die beiden Sozialreformer den geistigen Unterbau für die Genossenschaftsbanken entwickeln, gründen Bergleute 1770 im Harz die Gnadenkasse zu Lerbach, das heute zur Stadt Osterode gehört. Aus ihr geht 1825 die Privat-Sparkasse Lerbach hervor, die 75 Jahre später ganz offiziell die Rechtsform einer Genossenschaft annimmt und heute zur Volksbank im Harz eG gehört. Damit gilt sie als älteste historisch belegte Genossenschaftsbank der Welt. Relativ schnell nach den ersten Gründungen Mitte des 19. Jahrhunderts, bilden sich auch in der Region weitere Banken nach dem Genossenschaftsprinzip. So etwa die Volksbank Hankensbüttel von 1865, auf die sich heute die Volksbank eG Südheide – Isenhagener Land – Altmark beruft. Sechs Jahre später entsteht eine Volksbank in Fallersleben, das heute zum Geschäftsgebiet der Volksbank BraWo gehört. Die Volksbank Nordharz geht auf den „Goslarer Spar- und Darlehensverein“ von 1898 zurück und die Volksbank Wolfenbüttel auf die 1902 gegründete „allgemeine Spar- und Kredit-Genossenschaft GmbH“. Bereits seit 1872 gibt es in Braunschweig einen Post-, Spar- und Vorschuss-Verein, der sich 1992 für alle Privatkunden öffnet und in PSD Bank Braunschweig umbenennt. Eine Genossenschaft ist die Regionalbank seit 1999.

Gemeinsam Einkaufen für faire Preise
In der Region zwischen Harz und Heide ist heute die Raiffeisen Waren GmbH mit Sitz in Kassel aktiv, deren Gründung auf das Jahr 1895 zurückgeht und die sich auf Produkte und Dienstleistungen im Agrarbereich konzentriert. Die erste Edeka-Genossenschaft entsteht 1898 in der Hauptstadt des Deutschen Reiches. 21 Kaufleute schließen sich damals zur Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin – kurz E. d. K. – zusammen. Als Regionalgesellschaft in unserer Region agiert heute die Edeka Minden eG von 1920, deren Geschäftsgebiet sich von der niederländischen bis zur polnischen Grenze durch fünf Bundesländer erstreckt.
Ausgangspunkt der aus Hamburg stammenden Mega eG ist der 1901 gegründete „Einkaufsverein der Maler zu Altona und Umgegend“. Das Großhandelsunternehmen ist heute an mehr als 120 Standorten aktiv. In Oldenburg entsteht zwei Jahre später eine Einkaufsgenossenschaft für das Bäckereihandwerk, aus der nach mehreren Fusionen die Bäko Weser-Ems-Mitte eG entsteht. In Braunschweig unterhält die Genossenschaft unter anderem ein Logistikzentrum. 1910 entsteht in der Löwenstadt die „Verwertung von Fleischerei-Nebenprodukten eGmbH“, aus der später der Fleischer-Dienst Braunschweig eG hervorgeht. Heute beliefert die Genossenschaft rund 700 Fleischerfachgeschäfte mit Waren und bietet Dienstleistungen, wie die Erstellung von Werbung an. Und gut 50 Jahre später gründen 17 selbständige Dachdeckermeister die Dachdecker-Einkauf Braunschweig eG, um ihren Mitgliedern beim Einkauf faire Preise zu sichern. Heute ist sie als Dachdecker-Einkauf Ost eG in Niedersachsen, Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt aktiv.

Die Privat-Sparkasse Lerbach ist die älteste historisch belegte Genossenschaftsbank der Welt. Foto: Stiftung GIZ.

Das unregulierte Spiel des (Wohnungs-)Marktes
Ende des 19. Jahrhunderts ist die Situation auf dem städtischen Wohnungsmarkt von extremen Preisanstiegen, Spekulationen mit Bauland und extremer Überbelegung gekennzeichnet. Erste Versuche eines sozialen Wohnungsbaus nach englischem Vorbild werden zunächst von der unbegrenzten Haftung von Genossenschaftsgründern ausgebremst, die erst durch das Genossenschaftsgesetz von 1889 aufgehoben wird. Von da an breiten sich Wohnungsgenossenschaften schnell in ganz Deutschland aus. So auch in Braunschweig, wo 1887 die Braunschweiger Baugenossenschaft gegründet wird, die mit heute rund 22.000 Mitgliedern zu den größten ihrer Art in Deutschland gehört.
Acht Jahre später trifft man sich nach einem Aufruf im Wolfenbütteler Kreisblatt im Bayrischen Hof und initiiert die „Spar- und Bauverein eGmbH“, die 1941 mit der 1926 gegründeten Baugenossenschaft „Eigenhilfe eGmbH“ zur Gemeinnützigen Wohnstätten eG fusioniert. Die Vereinigte Wohnungsgenossenschaft eG in Braunschweig geht aus der am 1923 gegründeten Hausgenossenschaft eGmbH und der drei später ins Leben gerufenen Baugenossenschaft der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen eGmbH hervor.
Die Baugenossenschaft Helmstedt entsteht 1924. Weitere Gründungen erfolgen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 1947, Wolfsburg steckt noch mitten im Aufbau, entsteht die Bau- und Siedlungsgenossenschaft Gifhorn. Anfangs versucht man noch die vorhandenen Baracken aufzuwerten, später setzt man auf Neubau und nimmt den Namen Allertal an. Ein Jahr später gründet sich in Braunschweig die Bauen + Wohnen eG, Ende 1949 aus dem Kreis der Handwerkerschaft die Handwerker-Wohnungsbau-Genossenschaft und zwei weitere Jahre später die Baugenossenschaft ›Wiederaufbau‹ eG, die mit über 9.000 Wohnungen das größte genossenschaftlich organisierte Wohnungsunternehmen Niedersachsens ist.

Steuern, Sauberkeit, Energie
1966 schließen sich 65 Steuerbevöllmächtigte aus Nürnberg zusammen und gründen eine Genossenschaft mit dem Namen Datev – das Ziel: für den einzelnen unbezahlbare Computer im Genossenschaftsverband gemeinsam zu nutzen. Im Jahr 2006 initiierten Arbeitslose in Braunschweig mit Hilfe der Diakonischen Werke die Wir eG, um sich selbst Beschäftigung zu verschaffen. Das Unternehmen bietet seitdem haushaltsnahe Dienstleistungen an.
Eine deutlich längere Tradition haben in Deutschland Energiegenossenschaften. Sie bilden sich bereits im 19. Jahrhundert vor allem in ländlichen Regionen, die für größere Unternehmen wirtschaftlich uninteressant sind und realisieren notwendige Infrastruktur. Im Zuge der Energiewende erlebt diese Branche einen regelrechten Gründungsboom von Bürger:innen, die gemeinschaftlich in eigene Anlagen investieren. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die im Oktober 2015 auf Initiative der Stadt Wolfsburg gegründete Energiegenossenschaft Region Wolfsburg eG. Sie besteht aus mehreren Unternehmen und Gemeinden und hat das Ziel, die Energiewende unter Beteiligung der Bürger:innen zu gestalten.

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