Die Stahlstadt erfindet sich mit dem Einsatz regenerativer Energiequellen neu. Zusammen mit der Stadt, dem Projektbüro Südostniedersachsen und dem Fraunhofer Institut für Schicht- und Oberflächentechnik arbeiten die größten Salzgitteraner Industriebetriebe an einem gemeinschaftlichen Wasserstoff-Campus.
Als Alstom 2016 seinen Coradia iLint vorstellte, stand Salzgitter mit im Fokus der Aufmerksamkeit: Der erste mit Wasserstoff-Brennstoffzellen betriebene Personenzug kam aus dem Werk in der Stahlstadt. Mit mehr als 2000 Mitarbeitenden gehört es zu den größten Werken des Zugherstellers. Der Coradia iLint zeichnet sich durch mehrere Eigenschaften aus: saubere Energieumwandlung – bei der Erzeugung von Energie aus Wasserstoff entstehen nur Wasser und Wasserdampf als Emissionen –, Energiespeicherung in Batterien sowie intelligentes Management von Antriebskraft und verfügbarer Energie. Dazu kommt, dass die Züge leiser sind als ihre Vorgänger mit Dieselantrieb.
Wasserstoff als Energieträger ist kein neues Konzept. Bereits der Romanautor Jules Verne beschrieb in seinem Werk „Die einsame Insel“ von 1870 Wasser als die Kohle der Zukunft. Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden sei. Aber Fossile Energieträger einzusetzen, um Wasserstoff zu gewinnen, der wieder in Energie umgewandelt wird, erschien über Jahrzehnte nicht wirtschaftlich genug, um eine komplette Wirtschaft darauf aufzubauen. Aber Wasserstoff lässt sich, auch wenn er hoch entzündlich ist, gut speichern. Und mit dem Einsatz Erneuerbarer Energien – Wind- und Solarenergie – wird eine Wasserstoffwirtschaft denkbar. Vor dem Szenario des Klimaschutzplans 2050 der Bundesrepublik, dem Plan zur Umsetzung des Pariser Abkommens von 2015, erscheint Wasserstoff als emissionsfreier Energieträger der Zukunft.
„Für Unternehmen wie die Salzgitter AG, deren Anlagen und Maschinen eine Bestandszeit von Jahrzehnten haben, ist die Umsetzung einer solchen Szenerie ein herausforderndes Unterfangen“, erklärt Bernhard Kleinermann, Leiter der Konzernkommunikation. Bis 2050 muss das Unternehmen Wege gefunden haben, um seinen jährlichen CO2-Ausstoß von rund acht Millionen Tonnen zu vermeiden. Kleinermann ergänzt: „Es war für uns immer klar, dass Carbon Leakage, die Verlagerung der Emissionen an andere Standorte, auf einen anderen Kontinent, nicht die Lösung sein kann.“ Daher verfolgt die SZAG einen innovativen Weg: Unter dem Projektnamen SALCOS – Salzgitter Low CO2 Steelmaking – soll die komplette Stahlherstellung letztlich elektrifiziert werden: mit elektrolytisch erzeugtem Wasserstoff und Strom aus regenerativen Quellen.

sowie die PEM-Elektrolyse. Foto: Stadt Salzgitter.
Emissionsverlagerung ist keine Lösung
Der Konzern will die C02-Emission des Hüttenwerkes stufenweise um 95 Prozent reduzieren. Ein Teil des Umwandlungsprozesses ist für Außenstehende schon jetzt sichtbar: Im Sommer 2020 errichtete Avacon auf dem Gelände der Salzgitter AG einen Windpark mit sieben Anlagen für rund 50 Millionen Euro. Ein zweiter Baustein für die Reduktion von Eisenerz entsteht gerade. Im August lieferte das Unternehmen Sunfire einen Hochtemperatur-Elektrolyseur (HTE) zur Wasserstofferzeugung an die Salzgitter Flachstahl GmbH. Im Rahmen des EU-Forschungsprojekts GrInHy2.0 – Green Industrial Hydrogen – wird die HTE mit einer elektrischen Nennleistung von 720 Kilowatt erstmals im industriellen Umfeld eingesetzt. Zusätzlich entsteht eine sogenannte PEM-Elektrolyse mit 2,5 Megawatt, die Ende des Jahres in Betrieb gehen soll. Der so produzierte Wasserstoff kann sofort als Schutzgas in der Stahlproduktion zum Einsatz kommen.
Direktreduktion statt Hochofen
Nach und nach sollen in den kommenden Jahren die Hochhöfen und Konverter des Unternehmens durch Direktreduktionsanlagen ersetzt werden, in denen Wasserstoff den Kohlenstoff als Reduktionsmittel ersetzt. „Die Direktreduktion mit Erdgas ist ein erprobter Prozess, der mit reinem Wasserstoff ebenso gut funktioniert. Man kann stufenlos variieren. Das gewonnene Eisen (DRI) ist allerdings nicht flüssig und muss deshalb im Anschluss in Elektrolichtbogenöfen geschmolzen und dann unserer Weiterverarbeitung zugeführt werden“, so Kleinermann. Bis 2050 könnte Salzgitter Flachstahl, je nach Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auch früher, alle Hochöfen ersetzt haben. Der Umbau muss allerdings im laufenden Betrieb erfolgen.
Aus technischer Sicht steht das Projekt auf einer stabilen Basis, wirtschaftlich gesehen birgt es Risiken: Die erforderlichen Investitionen sowie höhere Betriebskosten machen den Stahl teurer. Wettbewerber auf dem globalen Markt, die weiterhin konventionell produzieren, haben diese finanziellen Belastungen nicht. „Wir leisten gerade viel politische Überzeugungsarbeit, dass wir – wie auch die anderen Stahlhersteller in Deutschland – Unterstützung brauchen, wenn wir grün produzieren sollen. Dafür setzt sich unser Vorstandsvorsitzender Prof. Dr.-Ing. Heinz Jörg Fuhrmann in Berlin und Brüssel ganz maßgeblich ein.“
Grüner Stahl ist ein Politikum
Kleinermann führt aus: „Es muss ein Markt für CO2-armen Stahl geschaffen werden. Denn wenn unsere Abnehmer auf günstigere Produkte aus weiterhin CO2-emittierenden Anlagen ausweichen, können wir nicht bestehen.“ Denkbar wäre es, die Einfuhr von Stahl aus konventioneller Herstellung mit Abgaben zu belegen oder wirtschaftliche Anreize für die Verwendung des „grünen“ Stahls in den verarbeitenden Branchen – wie der Autoindustrie – zu schaffen. „Wir sind stolz darauf, Vorreiter der industriellen Nutzung von Wasserstoff in der Stahlindustrie zu sein. Wie mit unserem Salcos-Projekt aufgezeigt, sind wir technologisch in der Lage, mittels Wasserstoff signifikante CO2-Reduzierungen zu erzielen. Jetzt ist die Politik am Zug, die richtigen Rahmenbedingungen für die Transformation hin zu einer CO2-armen Industrie zu setzen“, so Prof. Fuhrmann.
Mit der Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung zwischen der Salzgitter AG, MAN Energy Solutions, Bosch, Alstom, WEVG, dem Fraunhofer Institut für Schicht- und Oberflächentechnik und dem Projektbüro Südostniedersachsen, in dem das Amt für regionale Landesentwicklung und die Allianz für die Region GmbH gemeinsam agieren, und der Stadt Salzgitter entstand im September 2020 ein lokalpolitischer Meilenstein. Geplant ist ein gemeinsamer Wasserstoff-Campus. Schon im Herbst 2019 entstand die Idee für die Kooperation verschiedener Unternehmen, die sich mit der Nutzung von Wasserstoff in ihren Produktionsketten oder für ihre Produkte beschäftigten, sowie der regionalen Forschung und der Verwaltung. „Es ist ja für alle Unternehmen eine Herausforderung, die Anforderungen an umweltfreundliche Prozesse zu erfüllen, wirtschaftlich zu handeln und die Arbeitsplätze in der Region zu halten“, erzählt Salzgitters Wirtschaftsdezernent Jan Erik Bohling.

Wasserstoff-Campus als gemeinsames Projekt
Im Vorfeld der Vertragsunterzeichnung hatte es vereinzelte Meldungen in verschiedenen Zeitungen über den Campus gegeben: Niedersachsens Wissenschaftsminister Björn Thümler besuchte auf dem Bosch-Gelände die Baustelle, an der in Zukunft an Verfahren zur Lagerung und Nutzung von Wasserstoff geforscht, sowie Möglichkeiten zu entwickeln, Wasserstoff als Energieträger für die Produktion von Bosch einzusetzen. „Wie die Zusammenarbeit genau aussehen kann, ist noch nicht definiert. Aber wir sehen es als wünschenswerten Prozess, dass die Erfahrungen, die bereits mit dem Thema Wasserstoff und neuer Mobilität gemacht wurden, gemeinschaftlich auf lokaler Ebene weiter entwickelt werden“, so Bohling. Die Büros auf dem Gelände seien bereits bezugsfertig, erklärte Michael Gensicke, Mitglied der Geschäftsführung der Robert Bosch Elektronik GmbH, anlässlich der Vertragsunterzeichnung. „Für Bosch stellt Wasserstoff einen wichtigen Baustein in der Energiewende dar. Am Wasserstoff-Campus werden wir speziell den Einsatz von Wasserstoff zur Reduktion des CO2-Footprints von Fabriken erforschen und implementieren.“
Langfristig gehöre es zu den Zielen des Campus, die Erfahrungen und Vorhaben der Industrieunternehmen in die Entstehung von marktfähigen Produkte und Lösungen einfließen zu lassen – aber auch Fördergelder für die Region zu generieren. Sieben Millionen Euro stellt das Land Niedersachsen der Stadt Salzgitter dafür in einem Strukturhilfeprogramm zur Verfügung. Insgesamt erhält Salzgitter 50 Millionen Euro zur Bewältigung verschiedenen Problemlagen aus dem Jahresüberschuss 2018, etwa acht Millionen sind für wirtschaftliche Strukturen vorgesehen. Die verbleibende Million geht in die Entwicklung des Stadtteils Watenstedt, in dem neben der SZ AG und Alstom auch MAN Nutzfahrzeuge und ein Ikea-Distributionszentrum angesiedelt sind.

Büros für Startups im ehemaligen Wohnheim
Bestandteil des Wasserstoff-Campus ist ein Gebäude an der Hans-Birnbaum-Straße, das 2016 als Flüchtlingsunterkunft entstand. Da die Wohneinheiten nicht genutzt werden, soll aus dem Gebäude ein Schulungs- und Informationszentrum entstehen, in dem auch Startups ihren Platz finden könnten. „Das Zentrum soll allen offen stehen – Bürgern genauso wie Unternehmen. Es soll ein Ort werden, an dem sich Schulklassen und Besuchergruppen genauso mit der Thematik Wasserstoff befassen können, wie Firmen die Räume als Schulungs- und Konferenzort nutzen können“, beschreibt Bohling. Durch die Schaffung von Büros für junge Unternehmen, die im Bereich neue Mobilität, Wasserstoff oder CO2-Minimierung wirken, sollen Verknüpfungspunkte zu den Bestandsunternehmen entstehen. Der Vernetzungsgedanke des Wasserstoff-Campus soll zudem nicht an den Stadtgrenzen enden. „Konkret können wir da Gespräche mit dem Kohlekraftwerk in Mehrum, also im Landkreis Peine, nennen. Dort könnte eine große Produktions- und Speicherstätte für Wasserstoff entstehen. Auch die Entwicklungen im Landkreis Helmstedt beobachten wir.“
Auf dem Gelände von MAN Energy Solutions ist der Bau einer industriellen Power-to-X-Anlage geplant, mit der Wasserstoff in CO2-neutrale synthetische Kraftstoffe umgewandelt werden kann. „Synthetische Kraftstoffe haben das Potential die CO2-Emissionen in den Sektoren Industrie, Mobilität und Gebäudewärme maßgeblich zu senken und sind somit für das Gelingen der Energiewende unverzichtbar“, betont Marc Grünewald, Head of Business Development, Power and New Energies, bei MAN Energy Solutions in seinem Statement zur Kooperationsvereinbarung. „Der Wasserstoff-Campus in Salzgitter schafft hier vor allem aufgrund seiner Nähe zu industriellen Abnehmern beste Voraussetzungen.“

Jointventure für die Batteriezukunft
Zwischen den Stadtteilen Beddingen und Thiede entsteht ebenfalls ein Zukunftsprojekt mit Leuchtturmcharakter für die Region: Das 1970 gebaute VW-Werk feierte in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag; fast zeitgleich lief das 60-millionste in Salzgitter gefertigte Triebwerk vom Band. Mit rund 6.500 Beschäftigten und 400 Auszubildenden gehört VW zu den Big Five, den fünf größten Unternehmen in Salzgitter.
In mehr als 80 Fertigungslinien bauen die Mitarbeitenden Motoren und Komponenten für rund 60 verschiedene Fahrzeugmodelle. Vor rund einem Jahr lief die Pilotlinie zur Batteriezellenfertigung an. Produziert werden Lithium-Ionen-Batteriezellen in Versuchsgröße für Forschungs- und Entwicklungszwecke; in Kooperation mit dem US-amerikanischen Unternehmen QuantumScape wird die Feststoffzelle erforscht.
VW´s eigenes „Center of Excellence Batteriezelle“ in Salzgitter ist konzernweit für die Entwicklung, Beschaffung und Qualitätssicherung der Batteriezellen zuständig. „Die Batteriezellfertigung in Salzgitter ist ein wichtiger Schritt für die Transformation in die E-Mobilität“, sagt Thomas Schmall, CEO der Volkswagen Group Components, anlässlich der Ankündigung, das VW das geplante Werk für die Batterieproduktion selbst bauen werde. Durch ein Joint Venture mit dem schwedischen Batteriehersteller Northvolt AB entsteht in Salzgitter für 450 Millionen Euro die „Northvolt Zwei“-Fabrik zur Herstellung von Lithium-Ionen-Batteriezellen. Northvolt und VW gründeten das Gemeinschaftsunternehmen im September 2019, um die Serienfertigung von Lithium-Ionen-Batterien in Deutschland vorzubereiten.