und
14. April 2023
Entscheider

„Unternehmertum ist das wichtigste Vermögen“

Donata & Kaspar Haller, Unternehmerpaar und Eigentümer der Domäne Schickelsheim, im Interview

Das Unternehmerpaar Kaspar und Donata Haller. Foto: Holger Isermann

Eine Straße, 50 Einwohner, eine Whatsapp-Gruppe. In Schickelsheim kennt jeder jeden. Gänserich Gustav identifiziert uns an diesem Freitagmorgen eindeutig als Fremde. Laut schnatternd verteidigt er sein Revier rund um den Teich, als wir gemeinsam mit Donata und Kaspar Haller zu ihrem „Signature Walk“ aufbrechen. Bei einem kurzen Spaziergang über den Hof und durch den angrenzenden Park wollen sie uns die Domäne zeigen, ihren Dritten Ort, der voller Kontraste steckt.

Tiny-Cabins stehen am Rande eines Feldes – ein Kooperationsprojekt mit dem Berliner Start-up Raus.Life, wie wir erfahren. Insbesondere gehetzte Städter kämen hierher, auf der Suche nach Ruhe und Erholung. Etwa 200 Meter dahinter liegt der Friedhof auf einer kleinen Anhöhe, „unser letzter Ort“, sagt Kaspar. Ein Stück weiter deutet er auf ein Gebäude aus den 1950er-Jahren. Eine Drohne steigt gerade in die Luft auf, als wir erneut den Hof betreten.

Die Domäne Schickelsheim liegt rund vier Kilometer von Königslutter am Elm entfernt im Landkreis Helmstedt. Foto: Domäne Schickelsheim

„Wir sind progressiv und stehen in Schickelsheim an der Speerspitze einer Transformation“, erklärt Kaspar. Dass das keine Worthülsen sind verrät der Blick hinter die 150 Jahre alten Gemäuer: Neben Coworking Space, Event Location, Digitalem Ackerbau und 5G-Förderprojekten verbirgt sich dort ein reicher Fundus an Unternehmungen, die nur darauf warten, auf den Weg gebracht zu werden. Gemeinsam mit Partnern möchte das Unternehmerpaar einen Ort schaffen, an dem Menschen nicht nur leben, sondern sich bewusst auf Augenhöhe begegnen, zusammen arbeiten und Erfahrungen austauschen – von der Unternehmensgründung bis hin zur -nachfolge.

Warum gerade hier? „Sobald die Frage auftaucht, wo Menschen Kraft und Energie finden […] lauten 90 Prozent der Antworten: in der Natur. Das Landleben hat nach wie vor eine hohe Relevanz“, entgegnet Donata und Kaspar ergänzt: „Wir könnten das überall machen, aber wir besitzen nunmal Schickelsheim.“ Mit beiden sprachen wir über prägende Werte, Ausflüge in die Politik und den Kern ihres Handels: den Wunsch, Wandel aktiv zu gestalten …

Donata, Kaspar – wie würdet ihr euch abends an der Bar in einer fremden Stadt vorstellen, wenn euch jemand fragt: „Und, was macht ihr so?“
D: Ich bin gelernte Betriebswirtin und war lange Zeit angestellt in der Strategieberatung tätig. Inzwischen mache ich das selbstständig aus dem ländlichen Raum. Zusammen mit Kaspar transformiere ich etwas aus dem letzten ins nächste Jahrtausend.
K: Unsere Kinder fragen mich auch häufig: Papi, was machst du eigentlich? Unsere Berufsbilder sind eben nicht so eindeutig, wie Ärztin oder Krankenpfleger. Mein Pitch ist daher: Ich bin SchnittstellenBauer. Das verbindet den Ursprung mit unserer Zukunftsausrichtung.

Was ist eure Geschichte, die euch hier zusammen an diesen Ort auf die andere Seite des Tisches geführt hat?
D: Ich bin in Kanada geboren und Anfang der 1990er-Jahre nach Deutschland gekommen. Mit 16 Jahren bin ich für mein Abitur zurückgegangen und habe auch mein Studium genutzt, um möglichst viele Perspektiven auf unsere Welt kennenzulernen, Sprachen anzuwenden und zu sehen, welche Wege andere Länder finden, mit den täglichen Herausfordungen umzugehen. Dafür war ich in Hamburg, Shanghai, London, Paris und Berlin. Kaspar habe ich am Anfang meines Studiums auf einer Party in Göttingen kennengelernt und dann haben wir tatsächlich über das gesamte Studium eine Fernbeziehung aufrechterhalten.

Donata und Kaspar Haller beim Interview auf der Domäne Schickelsheim. Foto: Holger Isermann

Was hat euch miteinander verbunden?
D: Zwischen uns gab es sofort ein Grundvertrauen, weil wir auf einer Frequenz funktionieren. Wir haben eine ähnliche Vision, wie wir leben und Projekte umsetzen wollen. Wir wollen Dinge bewusst anders machen, als wir sie bisher erlebt haben und gemeinsam etwas Neues aufbauen …
K: … die Hack und Schaller GmbH (lacht). Das ist ein Wortspiel aus unseren Nachnamen, ein Studententraum des eigenen Firmennamens. Wir hatten damals schon den Wunsch, zusammen zu gründen.

Donata, kommst du aus einer Unternehmerfamilie?
D: Unternehmertum hat viele Facetten. Mich hat bei meinen Großeltern und Eltern besonders die Vision, Kraft und der Mut inspiriert etwas zu wagen oder sogar Gutes aufzugeben, um wieder neu anzufangen. Ich habe diesen Tatendrang ein Stück weit mitbekommen und stand gerade als ältestes Kind zu Hause früh in der Verantwortung.
K: Fun Fact: Dein Großvater war mal Geschäftsführer bei Fagus in Braunschweig. Es gab also Verbindungen in die Region. Und latent kennen wir uns übrigens sogar schon länger …
D: Das ist eine witzige Geschichte. Als wir das erste Mal durch das Tor auf den Hof gefahren sind, haben wir festgestellt, dass wir uns als Teenager schon einmal getroffen haben müssen. Wir haben auf dem Hof gezeltet, unter anderem mit dem Sohn der Organisatorin. Und das war Kaspar.

Seit wann ist deine Familie mit Schickelsheim verbunden, Kaspar?
K: Seit Mitte der 1920er-Jahre. Ein Teil meiner Familie kommt ursprünglich aus Hamburg. Meine Ururgroßmutter war dort Gemüsehändlerin auf dem Markt. Mein Urgroßvater hat dann bei jüdischen Kaufleuten Buchhaltung gelernt und insbesondere während der Weltwirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg durch kluge Entscheidungen die unternehmerische Substanz der Familie geschaffen. 1927 ist er, heute würde man sagen als Venture-Capitalist, in die Schleifmittelindustrie eingestiegen. Er war der Kaufmann, sein Geschäftspartner der Tüftler und Bastler. Die Zeiten waren damals schwer und in den Städten kam es zu Nahrungsengpässen. Mein Urgroßvater hat deshalb entschieden, dass der ältere Sohn in das Unternehmen einsteigt und der jüngere, Großonkel Martin, aufs Land geht und die Familie ernährt. Dafür hat er ein Darlehen von seinem Vater bekommen.

… und damit Land gepachtet?
K: Genau. Mein Großonkel damals schon für sich erkannt, das Land zu kaufen aufgrund der Verzinsung schlechtes Geschäft ist. Schickelsheim war damals noch eine Staatsdomäne der Weimarer Republik. Seitdem war Schickelsheim für meine Familie immer auch Zufluchtsort, zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs.

Wie bist du schließlich hier gelandet?
K: Mein Großonkel starb 1962 ohne eigene Kinder. Er hatte zwei Nichten und zwei Neffen. Erstere konnten die Session nicht antreten, weil sie Frauen waren. In unserer Familie spielte das Geschlecht für Unternehmertum keine Rolle, aber für das Land Niedersachsen war das damals undenkbar. Damit blieben die Neffen, einer hatte einen Herzfehler und so blieb mein Vater übrig. Und der hat sich aktiv dafür entschieden. Ich bin hier mit meinen Schwestern aufgewachsen.

Stand für dich immer fest, dass du den Betrieb einmal weiterführen wirst?
K: Als ich 16 Jahre alt war, kam diese Möglichkeit auf den Tisch und es erschien mit opportun. Ob ich eine Passion nur für die Landwirtschaft hatte? Nein, da würde ich ziemlich deutlich widersprechen. Ich hatte schon immer ein klares Interesse über die reine Landwirtschaft hinaus.

Inzwischen habt ihr mit der Landwirtschaft operativ nicht mehr viel zu tun …
K: Der landwirtschaftliche Betrieb liegt in der Domäne Schickelsheim Klostergut Hagenhof GbR, die meine Schwester Tessa seit 20 Jahren leitet. Seit drei Jahren bin ich dort operativ raus. Donata und ich haben 2019 die Domäne Schickelsheim als GmbH & Co. KG ausgegründet. Im Tagesgeschäft hat unsere Arbeit nur sehr wenig mit Landwirtschaft zu tun.

Viele Landwirte haben das Mindset, den eigenen Besitz zu verwalten und zu bewahren. Warum reicht es euch nicht, diese Geschichte fortzuschreiben?
K: Ein Stück weit ist das Mittel zum Zweck. Ein kleiner Exkurs: Alphabetisierung, Elektrifizierung, Industrialisierung, Digitalisierung, all die Megatrends kannst du hier in Schickelsheim sehen. Auf dem Feld dort hinten stehen vier Linden. Das ist die alte Trift Nord-Süd, in einer bestimmten Achse vor 1.000 Jahren gepflanzt, um Menschen Orientierung zu geben. Heute haben wir gelbe Straßenschilder und Google Maps. Für die Landwirtschaft gilt das Gleiche: Vor 150 Jahren waren 85 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig. Heute sind es gerade einmal ein bis zwei Prozent. Die Betriebe sind doch längst digitalisiert und automatisiert. Hier im Ort ist, ketzerisch gesprochen, ein einzelner Mensch im Ackerbau tätig.

Wenn der in 15 Jahren in Rente geht, haben wir keinen mehr …
D: Der Unterschied zu vielen anderen Industrien ist, dass die Landwirtschaft deutlich älter und extrem durchprofessionalisiert ist, weil es kaum Margen gibt. Das romantische Bauer-sucht-Frau-Klischee hat mit der Realität nichts zu tun. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass mit Professionalisierung nicht mehr besonders viel zu heben ist. Immer mehr Landwirte gehen deshalb deutlich über das Bewahren hinaus, experimentieren, etablieren neue Geschäftszweige und -modelle und handeln sehr unternehmerisch. Sonst würden sie nicht bestehen.

Wie sieht euer Ansatz aus?
D: Wir haben den ganzen Rest neben der Landwirtschaft genommen, der kein weißes Blatt Papier, aber auch kein besonders beschriebenes ist. Wir hatten schon immer Freude daran, Menschen zusammenzubringen, damit Neues entsteht. Diesem Spirit möchten wir in Schickelsheim ein Zuhause geben. Wir haben den Raum und möchten ihn mit konstruktiven Gestaltern teilen.

Warum?
D: Weil wir darin Potenzial sehen. Vielleicht übergeben wir Schickelsheim irgendwann der nächsten Generation. Aber spätestens dann wird es für den ländlichen Raum äußerst schwierig, wenn wir vorher nicht investiert und Leben reingebracht haben.
K: Das Trafo Hub in Braunschweig ist ein ähnliches Beispiel. Früher Produktionsstätte der BMA, heute kommen dort Menschen zusammen. Das machen wir transformatorisch auch. Wir könnten das überall machen, aber wir besitzen nunmal Schickelsheim und das ist mehr, als viele andere Menschen haben, wenn sie etwas anfangen.
D: Damit geht auch Verantwortung einher …
K: … aber eine, die wir bewusst übernehmen. Ein Punkt in unserer Zusammenarbeit ist dabei elementar: Kern unserer Arbeit, auch gemeinsam mit anderen Unternehmen, sind immer wieder Werte. Erstaunlicherweise stimmen Donatas und meine Werte vollkommen überein.

Welche Werte sind das?
K: Liebe, Freiheit, Vertrauen.

Viele Unternehmen tragen Werte vor sich her. Wie füllt ihr das mit Leben?
D: Funktionierende Beziehungen entstehen nur mit Vertrauen, sowohl privat als auch geschäftlich. Und das wiederum hat auch immer etwas mit Liebe zu tun. Ich wertschätze mein Gegenüber und bringe ihm oder ihr eine Form der Nächstenliebe entgegen. Und Mehrwerte und das Leben entstehen immer dort, wo menschliche Verbindungen aufeinandertreffen. Schickelsheim komplimentiert diese Werte als Ort, das bekommen wir auch von unseren Kunden bestätigt, die hier mitunter in sehr ungewöhnlichen Konstellationen zusammenarbeiten und an einem Strang ziehen.

Nun ist Business nicht immer nur nett und wertschätzend, sondern auch von harten Entscheidungen geprägt …
K: Aber auch die Liebe hat harte Elemente, Zerwürfnisse oder Stressoren. Für mich fängt es bei der Ansprache an: Bin ich per Du oder per Sie? Schaue ich meinem Gegenüber in die Augen und konzentriere die Aufmerksamkeit zu 100 Prozent auf diese Person? Viele Menschen haut es vollkommen aus den Socken, wenn ich sage, dass Liebe ein unternehmerischer Wert für mich ist. Doch wenn ich zwischenmenschlich positiv gestimmt bin, dann laufen die Dinge leichter und besser.

Die TU-Präsidentin Angela Ittel erzählte uns im Interview, dass sie ganz bewusst nicht zwischen Beruf und Privatleben trennt. Wie sieht das bei euch aus?
D: Das sind relativ fließende Übergänge. Wir versuchen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Prioritäten zu setzen, aber eine harte Trennung ist in unserer Konstellation nicht möglich. Ein Stück weit finde ich diese Unterscheidung zwischen den Lebensbereichen auch unnatürlich. Ich möchte meinen Kindern zeigen, dass arbeiten Spaß macht, ein Teil des Lebens ist und nicht nur ein Verdienstzweck.

Gibt es Fehler, die man vermeiden sollte, wenn man als Familie gemeinsam arbeitet?
D: Nicht miteinander zu reden. Zwischen all den Themen gibt es immer mal wieder Funktionspaarphasen, in denen wir wahnsinnig viel funktional gemeinsam abarbeiten müssen, sei es betrieblich, familiär oder mit den Mitarbeitenden. Sich in dieser Zeit als Familie nicht aus den Augen zu verlieren, ist herausfordernd. Grundsätzlich entspricht es aber nicht meiner Philosophie, in Fehlern zu denken. Auch schlecht Momente können immer noch ins Gute gedreht werden. Ich habe alle Fähigkeiten, Möglichkeiten und Menschen an meiner Seite, um jedes Projekt so zu gestalten, dass es am Ende gut wird.

Selbstwirksamkeit?
D: Total. Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung sind in meinen Augen unerlässlich. Gerade deshalb erscheint es mir so wichtig, im Rahmen unseres Handelns auf der Domäne den notwendigen Raum für eine fokussierte Zukunftsplanung und -umsetzung zu geben.
K: Für mich war ein außerordentlicher Moment im Leben, vielleicht sogar ein Game Changer, als eines unserer Kinder nach der Geburt schwer krank war. Wir waren etwas nach der Geburt für fünf Monate im Krankenhaus und wussten morgens nicht, wie der Abend ausgeht. Diese Zeit hat für mich viele meiner bisherigen Priorisierungen und Ziele im Leben in eine anderes Licht gerückt. In solchen Augenblicken fragst du dich, was am Ende bleibt, wenn du einmal vor deinen Schöpfer trittst.

Wie lautet deine Antwort?
K: The big hairy goal ist es, mit Donata zusammen irgendwann den hundertsten Geburtstag zu feiern. Und damit kommen wir zu einem wesentlichen Punkt: Im Leben und Job herrscht immer auch Wettkampfdruck. Man muss Erfolg haben und gewinnen. Das steht total avers zur Liebe. Ich möchte nicht besser sein als Donata, sondern sie unterstützen als Geschäftsfrau, Unternehmerin und Mutter. Wir sind ein Liebespaar und das ist die stärkste Motivation.

Die Sinnfrage klang bereits durch … welche Rolle spielt der Glaube für euch?
D: Das ist ein spannendes, viel diskutiertes Thema bei uns (lacht). Ich bin evangelisch getauft und glaube an viele dieser Grundwerte. Am Ende ist es mir aber egal, ob jemand einer Religion zugehört, solange er diese Werte lebt. Deswegen finde ich alles, was extrem ist, schwierig, weil es nicht viel Raum für Toleranz und Wertschätzung lässt.
K: Wenn ich mir die Kirche heute anschaue, ist das eine Vollkatastrophe, in einer brutalen Transformation begriffen. In den letzten drei Jahren habe ich diese Institution extrem vermisst. Die Kirche hat mich heute verloren, aber an meinen Gott glaube ich immer noch.

Kaspar, neben der Domäne Schickelsheim leitest du seit Oktober letzten Jahres als Geschäftsführer die Hermes Schleifmittel Gruppe, die weltweit rund 1.000 Mitarbeiter:innen beschäftigt …
K: Genau, dort bin ich seit zwölfeinhalb Jahren Gesellschafter, seit dreieinhalb Jahren im Beirat und jetzt in der Geschäftsführung.

Gibt es weitere familiäre Engagements?
K: Durchaus, global verstreut …

… aber?
K: Diese Beteiligungen sind Teil unserer Familiengeschichte. Aber ich habe diese nicht inititiert und trage heute nur Verantwortung dafür gemeinsam mit meiner Familie. Daher spreche ich ungern darüber.

Seid ihr Teil einer Unternehmer-Dynastie?
D: Das Wort ist mir zu groß und am Ende hat jede Familie ihren ganz persönlichen Auftritt. Der unsrige ist ein eher leiser. Für mich ist Vermögen auch kein Messgrad, im Vordergrund stehen immer Menschen. Wie wir unsere Möglichkeiten und unseren Gestaltungsspielraum nutzen, um die Zukunft zu gestalten, ist für mich der Messgrad.
K: Alles, was wir hier tun, tun wir aus uns selbst heraus. Wir wollen erfolgreich mit Schickelsheim sein und das funktioniert nur nachhaltig, wenn wir zielgerichtet investieren.

In den ehemaligen Ställen befinden sich heute unter anderem die Event Locations. Foto: Domäne Schickelsheim

Lass uns noch einmal über Hermes sprechen. Du dürftest auch vor dem neuen Job keine Langeweile gehabt haben. Warum der Schritt nach Hamburg?
K: Im Kern geht es um Verantwortungsübernahme. Ich saß dort bereits im Beirat und war dementsprechend nah dran, als die Möglichkeit und auch Notwendigkeit aufkam. Das Unternehmen befindet sich in einer Transformation und ich habe die Expertise und Fähigkeiten, die dafür notwendig sind.

Wie fandest du die Idee, Donata?
D: Ich kann mich mit dem Gedanken sehr gut anfreunden.

Erinnerst du dich an den Moment, als Kaspar dir gesagt hat, er wolle für das Oberbürgermeisteramt in Braunschweig kandidieren?
D: Ich kann mich gut an diesen Augenblick erinnern. Wir hatten gerade frisch gegründet und ich hatte gerade selbst für einen neuen Job on top unterschrieben. Insofern stand für mich initial ein Fragezeichen im Raum. Hinzu kommt die Tatsache, dass du als Einzelperson in der Verwaltung kaum Veränderung herbeiführen kannst, die Motivationsstrukturen und auch die Verpflichtungen sind gänzlich anders als in einem Unternehmen. Gleichzeitig halte ich es für umso wichtiger, dass es intrinsisch motivierte und fähige Menschen wie Kaspar gibt, die sich in die Politik wagen. Ich würde mir mehr davon wünschen! Deswegen habe ich ihn auch in seinem Vorhaben unterstützt.
K: Anfangs stand ja noch gar nicht fest, ob es überhaupt klappt. Ich musste ein Assessment Center durchlaufen, es gab eine Auswahlkommission zur Ernennung des Kandidaten.

Was hat dich dennoch angetrieben?
K: Die Möglichkeit mich in das kommunalpolitische System einzubringen. Carsten Müller hat mich damals gefragt, ob ich mir die Kandidatur vorstellen könne. Er kannte unsere Arbeitsweisen und progressiven Ansichten. Ich hatte gemeinsam mit unserem gemeinnützigen Netzwerk gerade auf Bundes- und Europaebene Lobbyarbeit für die Mehrwertsteuerbefreiung von Sachspenden gemacht. Am Ende war es ehrlicherweise ein Stück weit opportun. Irgendwann müssen wir mit dem, was wir hier tun, in die öffentliche Wahrnehmung kommen. Nicht um uns besser darzustellen, sondern um einen Impact zu haben.

Du warst der progressive Kandidat einer konservativen Partei. War die Niederlage im OB-Wahlkampf in dieser Grundkonstruktion bereits angelegt?
K: Ob ich im falschen Lager war? Ich weiß es nicht. Ich bin nach wie vor nicht Mitglied einer Partei und habe auch damals schon differenziert zwischen einem OB und einer Partei. Wir sind progressiv und stehen in Schickelsheim an der Speerspitze einer Transformation. Wir machen Dinge, von denen andere behaupten, es ginge nicht. Das kann auch in der Politik funktionieren.

Erhält der ländliche Raum eigentlich die Aufmerksamkeit, die er aufgrund seiner zunehmenden Bedeutung, beispielsweise für die Energiewende, verdient hat? Oder fühlt ihr euch manchmal abgehängt, wenn es um Mobilitätsstrukturen oder Gesundheitsinfrastruktur geht?
D: Ich weigere mich anzunehmen, dass das Land abgehängt ist. Natürlich gibt es strukturelle Vorteile in der Stadt. Aber sobald die Frage auftaucht, wo Menschen Kraft und Energie finden, wo sie wieder auftanken können, lauten 90 Prozent der Antworten: in der Natur. Das Landleben hat nach wie vor eine hohe Relevanz. Es ist eine bewusste Entscheidung, welche Vor- und Nachteile möchte ich in Kauf nehmen?

Das ist die individuelle Perspektive. Wie betrachtet ihr das gesellschaftlich?
K: Ich glaube, dass der ländliche Raum am Beginn einer Renaissance steht. Wenn wir die Mobilitäts- und Energiewende, sprich all die Krisen betrachten, haben wir auf dem Land lange von einer Zäsur geprägt durch die Industrialisierung profitiert. Vielleicht wurden wir in den letzten 100 Jahren abgehängt, aber wir haben auch vieles, was in den Städten an Mist passiert ist, nicht mitgemacht. Durch die Digitalisierung haben sich die Grundvoraussetzungen auf dem Land in meinen Augen deutlich verbessert.

Die Entwicklung spielt dem Land demnach in die Karten?
D: Absolut. Dank Remote Work ist es das erste Mal wieder möglich, attraktive Jobs auf dem Land auszuüben – mit einer hohen Lebensqualität.
K: Problematisch ist die Frage, wer sich das zunächst leisten kann. Für viele Menschen ist Remote Work keine Alternative und es bleibt zudem günstiger, für den Job nah am Arbeitsort zu wohnen. Unsere Region ist in diesem Kontext nicht repräsentativ, weil es hier viele gut bezahlte Schreibtisch-Jobs gibt.

Lasst uns noch einmal konkret über eure Pläne für die Domäne sprechen. Wie viel Prozent der Gebäude nutzt ihr derzeit?
K: 100 Prozent, davon nur noch 15 Prozent für die Landwirtschaft. Im Torhaus ist ein CoWorking-Space und seit 50 Jahren die Landwirtschaftskammer Niedersachsen, jetzt das Praxislabor Digitaler Ackerbau untergebracht. Zudem sind wir Partner zweier 5G-Förderprojekte. In den Scheunen nebenan ist die Technologie vom Ministerium untergebracht. Die beiden Ställe haben wir letztes Jahr zu Veranstaltungsräumen mit mehr als 800 Quadratmetern Fläche umgebaut. Im Ort drumherum herrscht aktuell noch Stillstand …

Gänserich Gustav verteidigt er sein Revier rund um den Teich. Foto: Holger Isermann

Was ist eure Vision für Schickelsheim?
K: Wir wollen einen nachhaltig funktionierenden Zukunftsort schaffen, der Gestaltern ein zu Hause gibt, an dem sie sich unternehmerisch entfalten, leben und arbeiten können. Im besten Fall lernen sie voneinander. Letztlich entstehen durch diesen Erfahrungsaustausch wertvolle Mehrwerte.

Wie setzt ihr diese Vision konkret um?
K: Der Ort soll sich in der Fläche verdoppeln. Wir wollen zusammen mit Partnern 35 Millionen Euro in Schickelsheim investieren. Die Konzepte sind geschrieben, sechs Jahre lang haben wir daran gearbeitet. Aber wir sind aktuell noch auf politische und planungsrechtliche Entscheidungen angewiesen. Ohne diese Leitplanken hat Schickelsheim keine Zukunft, dann sind wir dem Untergang geweiht.
D: Selbst auf dem eigenen Grund und Boden ist es sehr schwierig Ideen umzusetzen, da genehmigungsrechtliche Verfahren langwierig, kompliziert und teilweise auch intransparent sind. Da braucht es einen langen Atem und Frustrationstoleranz. Wir haben zum Glück einen sehr offenen und konstruktiven Austausch mit unserer lokalen Verwaltung, aber auch deren Handlungsspielraum ist begrenzt.

Die deutsche Bürokratie als massive Entwicklungsbremse …
D: Es ist die brutale Realität, dass du in anderen Ländern deutlich schneller und flexibler agieren kannst. Und das ist ein Wettbewerbsvorteil, der sich international bemerkbar macht.

Was glaubt ihr, warum wagen wir keinen Bürokratieabbau?
D: Wir haben einen Verwaltungselefanten aufgebaut und die Motivation ist originär anders strukturiert als im Unternehmenskontext. Dort wirst du dafür belohnt, dass du dein Budget ausgibst und mehr Mitarbeiter einstellst. Damit wächst der Verwaltungsapparat naturgemäß immer weiter.
K: Wichtig: Die Gemeinde Königslutter und der Landkreis Helmstedt unterstützen uns extrem. Wir sind auf Augenhöhe und sprechen immer offen miteinander. Die Entscheidungen hängen an höheren Ebenen. Länder wie Spanien machen es vor. Dort gibt es Open Social Innovation und Beteiligungs-Software. Diese Prozesse sind deutlich progressiver. In Schickelsheim probieren wir das im Kleinen aus. Im Ort wohnen etwa 50 Leute. Es gibt eine gemeinsame Whatsapp Gruppe. Partizipation wird hier gelebt.

Wie würdet ihr eure Rolle im Ort beschreiben?
K: Der Betrieb ist der Ort, der Ort ist der Betrieb. Schickelsheim gäbe es ohne die Landwirtschaft nicht.

Wie steht man euren Plänen gegenüber?
K: Grundsätzlich total aufgeschlossen. Natürlich kommen auch Befürchtungen auf. Muss man zukünftig vielleicht die Haustür abschließen und darf man den Schlüssel nicht mehr im Zündschloss stecken lassen, wenn wir neu bauen?

Kaspar, auf LinkedIn schreibst du, dass du bei deinem sozialen Engagement auf Ausgleich und Gerechtigkeit setzt. Ist das etwas, was euch beide umtreibt? Und: Wie gerecht empfindet ihr unsere Gesellschaft?
K: Gerechtigkeit ist ein Zielbild und außerdem eine Frage der Perspektive. Ich glaube, dass wir überall sehr ungerecht sind. Wenn wir uns beispielsweise das amerikanische oder angelsächsische Bildungssystem anschauen, ist das de facto deutlich gerechter als unseres. Was wir deshalb immer wieder versuchen, ist Gemeinnützigkeit im Kontext der Transformation auf eine andere Ebene zu bekommen.

Was bereitet euch Sorgen, wenn ihr auf unsere heutige Gesellschaft mit ihren Brüchen und Baustellen schaut? Vielleicht auch mit dem Blick auf die nächste Generation.
K: Wenn ich mir die Zahlen und bestimmte Wahlbewegungen und Statistiken anschaue, bin ich total gelassen. Denn wir haben trotz dieser dynamischen und auch emotionalen Radikalisierung eher eine Vereinigung in der Mitte. Ich glaube, für viele Herausforderungen, vor denen wir auch in der Politik stehen, brauchen wir eine Revolution.

Ein Ruck reicht nicht aus?
K: Nein. Es braucht eine Revolution, denn es muss schnell gehen. Durch Rumlamentieren wird nichts besser.
D: Aber vorher braucht es wohl mehr Leidensdruck. Wir leben in einer superkomfortablen Situation in Deutschland. Und je komfortabler die Situation, desto mehr Angst haben wir, etwas zu verändern. Warum ist wohl die Schweiz das am höchsten durchversichertste Land der Welt? Weil die absolute Panik haben, etwas zu verlieren. Wir sind die kleine Schwester …
K: Im Positiven geht es also gerade den Berg runter (lacht). Ich bin dennoch zuversichtlich, dass es in Deutschland auch für unsere Kinder weiter geht.

Woher nimmt die vierköpfige Familie in der Zweizimmerwohnung diese Zuversicht?
D: Das ist eine philosophische Frage – Gerechtigkeit bedeutet ja nicht Gleichheit für alle. Das funktioniert nicht. Die Zweizimmerwohnung mag der Ausgangspunkt sein. Aber das Ziel bestimmen wir selbst. Das weiß ich aus Erfahrung. Privilegien stellen eine Verpflichtung dar, sie auch zum Wohl der Gemeinschaft zu nutzen. Und damit verstehe ich als Privileg explizit auch die eigenen Fähigkeiten.
K: Wissen und Können verpflichtet, haben mir auch meine Eltern damals bei der Übergabe gesagt. Unternehmertum ist das wichtigste Vermögen. Und das kann uns keiner nehmen.

Kaspar und Donata Haller. Foto: Holger Isermann

Euer Kapital ist demnach euer Kopf?
D: Total. Die eigenen Fähigkeiten sind die Basis.
K: Der Rest ist Schall und Rauch.

Ist diese Geschichte eigentlich nur möglich, weil ihr sie zusammen schreibt?
D: Definitiv. Wir ergänzen uns und haben uns gleichzeitig mit den Jahren aufeinander zu entwickelt.

Was kann der eine besonders gut, was der andere nicht kann?
D: Kaspar kann wahnsinnig rational sein, immer gut mit Menschen und außerdem sehr gut das politische Klavier spielen.

Außen- und Innenminister – ist das die Aufteilung zwischen euch?
D: Nein, das geht auch gar nicht. Es gab immer Situationen, in denen jeder von uns beides sein musste. Die ersten zehn Jahre hat Kaspar hier gelebt und gearbeitet und ich war die meiste Zeit nicht vor Ort. Die letzten drei Jahre war es umgekehrt. So ergeben sich immer wieder neue Lebenswege.
K: Dabei geht es ganz individuell um Selbstverwirklichung. Ich glaube, das ist naturgemäß, auch wenn wir über Familie und Beruf oder Geschlechter sprechen, eine Riesenherausforderung. Wir haben unsere Entwicklungsrahmen immer wieder überprüft und hinterfragt, weil wir beide den Wunsch haben, im Leben weiterzukommen. Das ist eine ständige Evolution. Auch für Schickelsheim …

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