Als Ferdinand Piëch 1993 Volkswagen-Chef wird, herrscht Krisenstimmung an der Aller. Die deutsche Automobilindustrie steckt in der Rezession, Volkswagen macht fast zwei Milliarden D-Mark Verlust. Ein Jahr später verhindert wohl nur die Einführung der Vier-Tage-Woche die Entlassung von bis zu 30.000 Beschäftigten. Weil mehr als 80 Prozent der Wolfsburger:innen bei Volkswagen arbeiten und es kaum Mittelständler oder Jobs jenseits der Industrie gibt, wird die Krise des Autobauers automatisch zu einer städtischen. Folgerichtig beschließen Politik, Verwaltung und Wirtschaft die strukturellen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. In dieser Zeit, die Beobachter rückblickend mit dem Niedergang Detroits vergleichen, entsteht das Konzept „AutoVision“. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität der Stadt zu steigern, unter anderem durch Unternehmensgründungen und -ansiedlungen, die Schaffung einer Erlebniswelt und damit einhergehend mehr Jobs im Dienstleistungssektor.
Für die Umsetzung gründen die Stadt Wolfsburg und Volkswagen 1999 als Public-private-Partnership die Wolfsburg AG – ein Wendepunkt: Denn heute, 23 Jahre später, sind viele der damaligen Visionen Wirklichkeit geworden: Es gibt sichtbare Freizeit-Leuchttürme, wie die Autostadt oder den Allerpark, rund 700 neu gegründete Unternehmen und jüngst wieder eine Top-Platzierung im Prognos Zukunftsatlas. Wolfsburg landet auf Platz fünf und ist sogar Spitzenreiter im Bereich Innovation. Wegweisende Projekte, wie den Bau des Trinity-Werks, haben die Wirtschaftsforscher:innen übrigens noch nicht einmal „eingepreist“. Auch das regionale Engagement etwa über die 2013 gegründete Allianz für die Region zeigt Wirkung: Braunschweig werden sehr hohe und dem Landkreis Gifhorn hohe Zukunftschancen attestiert.
Es wundert also nicht, dass Wolfsburg AG- und Allianz für die Region-Chef Wendelin Göbel die Karte mit den Ergebnissen der Prognos-Studie unter den Arm geklemmt zum Titelinterview auf dem Forum AutoVision der Wolfsburg AG erscheint und diese sichtlich erfreut mit Volkswagen-Personalvorstand Gunnar Kilian begutachtet. „Die Städte und Gemeinden hier tragen wesentlich dazu bei, dass sich die Menschen, die bei uns arbeiten, wohl fühlen“, betont Kilian und ergänzt später: „Wir bei Volkswagen stehen zu unserer Heimatregion.“
In zehn Jahren, so ist sich Göbel sicher, sei die Region Braunschweig-Wolfsburg im Zukunftsatlas komplett rot hinterlegt: „Wenn es unsere Region nicht schafft, welche dann?“ Starke Statements von zwei Männern, deren Wort zwischen Harz und Heide Gewicht hat und von denen jeder einzeln genug zu sagen hätte, um die folgenden Seiten spannend zu füllen. Dass wir beide für ein Doppelinterview gewinnen konnten, ist so auch Fluch und Segen zugleich. Knapp 50 Minuten nach dem Beginn dieses Gesprächs eilen Gunnar Kilian und Wendelin Göbel bereits zum nächsten Termin. Der Fachkräftemangel, die digitale Neuerfindung – Prognos hin oder her – es bleibt viel zu tun …
Laut „Zukunftsatlas 2022“ des Forschungs- und Beratungsunternehmens Prognos belegt Wolfsburg Platz fünf der zukunftsfähigsten Städte Deutschlands, auch Braunschweig reiht sich in den oberen Reihen ein. Mit München, Stuttgart und Ingolstadt befinden sich gleich mehrere Standorte großer Automobilhersteller unter den Top Ten. Wie fühlt es sich an, wenn man so wichtig ist?
Kilian (K): Als größter Arbeitgeber der Region und einer der größten Europas ist klar, dass wir auch eine gewisse Verantwortung für die Region tragen. Das tun wir gerne. Das ist Fakt. Ebenso klar ist aber auch, dass die Region über Volkswagen hinaus viel zu bieten hat. Beispielsweise das starke Wissenschaftscluster in Braunschweig.
Als großes Manko äußerte Prognos-Projektleiterin Kathleen Freitag gegenüber der Braunschweiger Zeitung: „Alles hängt vom Volkswagen-Konzern ab.“ Was würden Sie der mitschwingenden Kritik entgegnen?
K: Ich würde eher zu einem Perspektivenwechsel einladen. Die Menschen, die in dieser Region leben und bei Volkswagen arbeite, haben das Unternehmen zu dem gemacht, was es heute ist: ein Global Player. Und die Städte und Gemeinden hier tragen wesentlich dazu bei, dass sich die Menschen, die bei uns arbeiten, wohl fühlen und die Region ihr zu Hause nennen.
Fehlt Ihnen trotzdem bei solchen Feststellungen die Wertschätzung?
K: Ganz gewiss nicht. Volkswagen ist integraler Bestandteil dieser Region. Wir engagieren uns hier vielfältig etwa bei Sport, Kultur und sozialen Projekten. Auch mit Spendenaktionen unserer Belegschaften. Und diese Verbundenheit kommt an. Das spiegelt sich in vielen Gesprächen wider, die ich hier führe. Gleichzeitig entwickeln wir das Unternehmen weiter hin zum softwareorientieren Anbieter nachhaltiger Mobilität. Gerade die Standorte unserer Region tragen dabei eine entscheidende Rolle. Und diese Weiterentwicklung sichert zudem nachhaltig Beschäftigung, Kaufkraft und Zukunftsfähigkeit.
An welchem Beispiel wird das deutlich?
K: Braunschweig steht dafür exemplarisch. Als einen der ersten Standorte überhaupt haben wir hier mit der Transformation begonnen und dort unser Batterie Packaging verortet. Ebenso Salzgitter, wo wir früh mit der Produktion für E-Mobilität gestartet sind. Mittlerweile haben wir dort das Center of Excellence für die Batterie und die neu gegründete PowerCo etabliert. Als nächster Schritt folgt die erste Zellfabrik. Zudem zeigt die Entwicklung unseres Stammsitzes Wolfsburg das enorme Potenzial unseres Unternehmens. Mit der Einrüstung des Werks für den ID.3, mit dem neuen Technologie Campus Sandkamp und dem Zukunftsprojekt Tritity setzen wir das klare Statement: Wir bei Volkswagen stehen zu unserer Heimatregion. Und hier entwickeln wir auch die Zukunft der globalen Mobilität.
Wo zwischen Ihren beiden Aussagen, „Wir sind gar nicht so wichtig“ und „Wir transformieren die gesamte Region“, bewegen wir uns? Wie abhängig ist die Wirtschaftsregion von Volkswagen wirklich?
K: Das habe ich bewusst anders formuliert. Denn der Anspruch von Volkswagen ist es nicht, der dominierende Player zu sein. Wir verstehen uns als Teil der Region, setzen also auf Teamplay.
Göbel (G): Es ist auch eine Herausforderung der Region, dass wir zu sehr auf das Thema Mobilität und die Fahrzeugindustrie beschränkt werden. Von Recycling über Wasserstoff, Batterieforschung, Stahlindustrie, Energieerzeugung bis hin zum Zentrum der Landwirtschaftstechnologie Deutschlands ist die gesamte Region unglaublich vielfältig und damit auch zukunftsfähig.
Dennoch gibt es Nachholbedarfe in einigen Gebietskörperschaften. Die Landkreise Wolfenbüttel, Peine, Helmstedt und Goslar fallen im Prognos-Ranking deutlich zurück. Bereitet Ihnen das Sorgen?
G: Ganz und gar nicht, denn auch dort tut sich viel. In Clausthal-Zellerfeld beispielsweise mit der Recycling-Industrie im Bereich Metall und Chemie, die bisher nichts mit der Fahrzeugindustrie zu tun hatte und jetzt im Zentrum des Transformationsprozesses steht. Für die zukünftige Entwicklung der Region werden die Themen Kreislaufwirtschaft, Ressourcenschonung und klimaneutrales Wirtschaften von großer Bedeutung sein.
K: Klar gibt es bei der Größe auch Unterschiede. Braunschweig und Wolfsburg besitzen sicherlich eine besondere wirtschaftliche Strahlkraft, aber blicken wir mal nach Salzgitter: Neben unseren Aktivitäten gibt es hier große Player wie die Salzgitter AG. Mit klimaneutraler Stahlherstellung nimmt das Unternehmen eine Pionierrolle für die Dekarbonisierung ein. Das bietet große Zukunftschancen, und auch neue Arbeitsplätze.

Immer wieder wird diskutiert, ob unsere Region gegenüber Hannover strukturell benachteiligt ist, weil die politischen Drähte in der Landeshauptstadt kürzer sind. Was sagen Sie?
G: Eine Landeshauptstadt hat immer einen besonderen Status. Doch Nachteile kann ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Auch Hannover ist sich um die Stärke unserer Region bewusst. Denn bei uns arbeiten Institutionen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Politik gemeinsam an der Zukunftsfähigkeit unserer Region.
Ist die Region Braunschweig-Wolfsburg die eigentliche Nummer eins in Niedersachsen?
G: Ich mag keine „Wer hat die Nase vorn“-Wettbewerbe. Schon gar nicht unter Ländern und Regionen. Halten wir doch fest: Unsere Region besitzt eine Stärke, die über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist und geschätzt wird. Ich durfte in der Vergangenheit in drei Regionen arbeiten. Die Region Ingolstadt mit etwa halb so vielen Einwohner:innen, die sich mittlerweile als eine Art München-Nord sehr dynamisch entwickelt. Und dann die Region Heilbronn, Neckarsulm – auch ein sehr attraktiver Standort. Und in diesen Regionen wird oft in puncto Entwicklung in den Norden in unsere Region Braunschweig-Wolfsburg geschaut.
Das heißt im Prognos Zukunftsatlas 2034 ist die gesamte Region komplett rot, sprich zukunftsfähig?
G: Wenn es unsere Region nicht schafft, welche dann?
Wie sehr müssen Sie in der Region damit kämpfen, dass die Landkreise und kreisfreien Städte vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen?
G: Politiker:innen, die gewählt werden, müssen diesen Wähler:innen natürlich Rechenschaft darüber ablegen, was mit dem eigenen Geld passiert. Insofern ist unsere Organisationsform an dieser Stelle durchaus eine Herausforderung. Aber wir dürfen nicht von unten – aus der Kleinteiligkeit heraus – nach oben schauen, sondern sollten umgekehrt aus der europäischen Perspektive auf ein starkes Zentrum blicken. Und dann spielen die Grenzen zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften kaum eine Rolle mehr.
Sehen das die Menschen auch so?
G: Fragen Sie mal 50 Jugendliche zu den Grenzen zwischen Braunschweig, Wolfsburg und Helmstedt. Man wird natürlich wissen, in welchem Ort man lebt, aber die Grenzverläufe spielen für das Leben der Menschen doch kaum noch eine Rolle. Man überwindet sie ständig, auf dem Weg zur Arbeit, zu Freunden oder zur Freizeitbeschäftigung.
Wir haben gelernt, die Region ist leistungs- und zukunftsfähig. Gleichzeitig gibt es das Mantra, sie sei besser als ihr Ruf. Warum kommen wir an dieser Stelle eigentlich seit Jahren nicht vorwärts?
G: Zum einen, weil wir in der Vergangenheit oft auf VW und eine Mobilitätsregion reduziert wurden. Dass es auch eine traditionsreiche und wohlhabende Region ist und dass es hier getreu dem Regionalmarketing-Slogan „Alles da“ wirklich alles gibt, ist einerseits positiv, führt andererseits aber auch zu einer gewissen Beliebigkeit.
Herr Göbel, empfinden Sie die Aussage, die Region sei besser als ihr Ruf, eigentlich als Kritik an der eigenen Arbeit?
G: Das ist vor allem Ansporn. Ich kenne diese Region jetzt seit fast 40 Jahren. Und wenn ich sehe, was andere Regionen mit viel weniger Potenzial verkaufen und wie zurückhaltend wir mit unserem Riesenpotenzial sind, weil das auch die niedersächsische Art ist – wir dürfen lauter sein.
Warum ist das nicht längst passiert?
G: Weil die Notwendigkeit nicht da war. Ich dachte immer, das Zentrum der Landwirtschaft sei in Bayern – von wegen, das ist hier. Deshalb auch der niedersächsische Weg. Wir müssten in Deutschland führend sein, denn wir sind das Agrar-Land, hier werden Lebensmittel erzeugt, hier sitzen die Institute. Die Landwirtschaft ist in der autonomen Mobilität weiter als die Automobilbranche. Das weiß bloß niemand. Aber, die Welt ist transparenter geworden. Das Helmholtz-Zentrum etwa ist durch die Entwicklung des Corona-Impfstoffs in den Fokus gerückt. Es gibt viele Themen, die jetzt auch außerhalb sichtbarer werden. Das hilft uns im Regionalmarketing.
K: Für uns war es eine längere Diskussion, ob wir aus der Allianz für die Region heraus Regionalmarketing betreiben. Wir benötigen viele Talente und wir bekommen sie auch. Aktuell stellen wir beispielsweise zusätzlich im Bereich IT für unsere Fahrzeugelektronik bei der Marke Volkswagen ein – spannendes Projekt, wenig Zeit. Und an dieser Stelle muss Regionalmarketing liefern. Es muss beweisen, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse der Fachkräfte in dieser vielfältigen Region erfüllt werden können. Aus meiner Sicht verwenden wir noch zu viel Zeit auf alte Diskussionen. Wie die über eine mögliche Namensgebung.
Zurecht?
K: Die Frage ist doch, ob uns das weiterbringt. Was uns weiterbringt, sind Lösungen, um beispielsweise weiter Talente anzuziehen. Aktuell suchen wir sie auf entscheidenden Feldern – und diese Talente interessieren sich nicht für Kunstnamen, sondern für Orte, die man auf dem Navi findet.
Auf welchen Feldern fehlen die Talente konkret?
K: IT und Zellentwicklung sind zwei Bereiche, in denen Talente begehrt sind. Zum anderen ist aber auch ein Fachkräftemangel in der Pflege, Logistik und Gastronomie spürbar. Auch eine der Folgen von Corona. Deshalb ist es wichtig, Fachkräften und Talenten ein gutes und vor allem realistisches Bild der Region zu vermitteln. In puncto Arbeitgeberattraktivität ist das entscheidend.
… mit welchem Ergebnis?
K: Talente nachhaltig gewinnen und halten zu können. Das geht nur, wenn unsere Standorte und das Umfeld auch tatsächlich attraktiv sind und sich weiterentwickeln. Beschönigen bringt nichts. Realität ist was zählt. Und wenn ich in einer Region gerne arbeite und lebe, dann ist klar, dass ich gerne bleibe. Und darum geht es. Daher verfolgen wir die Regionalentwicklung mit unseren Partnern aus den Kommunen auch so intensiv.

Mittelständler loben uns gegenüber oft die Zusammenarbeit mit Volkswagen und wenn das Aufnahmegerät aus ist, klagen sie über die Abwerbung von Fachkräften. Bekommt der Großkonzern die Talente, die die KMU gerne halten würden?
G: Es heißt immer, dass Volkswagen sowieso alle Leute bekommt, weil der Konzern attraktiv ist und entsprechend hohe Entgelte zahlt. Aber auch wir stehen zunehmend im Wettbewerb um Fachleute. Dabei behaupten wir uns am Markt erfolgreich. Die kleinen und mittelständischen Betriebe und das Handwerk entwickeln sich gleichermaßen weiter. Deshalb ist es entscheidend, die Vernetzung zwischen den technologischen Entwicklungen aus der Fahrzeugindustrie heraus, der Region und den Universitäten zu sehen.
Was bedeutet das konkret?
G: Detlef Bade, Präsident der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade, hat es gesagt: Ohne das Handwerk wird es keine Transformation und keine Energiewende geben. Als Allianz für die Region stehen wir mit beiden IHKen, mit dem AGV und der Handwerkskammer im Austausch. So können wir gemeinsam den Transfer sicherstellen, Industrie und Forschung zusammenbringen und diskutieren, wie vor allem kleine und mittelständische Industrien und das Handwerk von diesen Veränderungen profitieren.
Was fehlt Ihnen denn in der Region?
K: Da fällt mir nicht viel ein. Ich lebe wirklich gerne hier. Und das gut mein halbes Leben lang. Was ich hier sicherlich nicht in dem Maße bekomme, ist das Leben einer Metropole wie Berlin. Aber wer das zwischendurch braucht, ist ja auch dank der guten Infrastruktur in einer guten Stunde dort.
Wir hören häufig, dass gastronomische Angebote fehlen. Insbesondere in den Ortschaften außerhalb Braunschweigs und Wolfsburgs kommt diese Kritik auf, wenn beispielsweise Kundentreffen anstehen.
K: Diese Kritik kann ich persönlich nicht nachvollziehen, auch wenn nicht alles direkt vor der eigenen Haustür liegt. Trotzdem: Vom Beefclub in der Autostadt über kulinarische Angebote in Braunschweig bis zu meinem Lieblingsitaliener in Lehre, bietet mir die Region alles. Nehmen Sie doch meine Heimatgemeinde Lehre. Da gibt es gleich drei gute Restaurants, die ich regelmäßig besuche. Aber selbstverständlich ist das alles eine Frage des individuellen Geschmacks. Und über den lässt sich bekanntlich nicht streiten.
Vom Hochgenuss zur Transformation: Thomas Sattelberger, ehemaliger Personalvorstand bei Continental und der Deutschen Telekom, sagte im Standort38-Interview: Volkswagen steht für mich symptomatisch für die alten deutschen Konzerne und die Frage, ob man sie überhaupt erfolgreich transformieren kann. Kann man?
K: Hat er das wirklich so gesagt? Er ist sonst immer gut informiert. Fakt ist: Wir können Transformation. Und das nicht erst seit heute. Denn nur weil Volkswagen sich immer wieder verändert hat, ist Volkswagen auch erfolgreich Volkswagen geblieben.
Haben Sie ein Beispiel?
K: Unsere Gegenwart. Wir sind aktuell auf dem Weg zum führenden Anbieter nachhaltiger Mobilität mit Produkten, die Elektromobilität für jeden und jede erfahrbar machen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Vom Käfer, über den Golf zum ID. und weiter zum Trinity beispielsweise zeigen wir immer wieder Flexibilität und Innovationskraft in den Fertigungsprozessen unserer Produkte an über 126 Standorten weltweit. Zeitgleich erschließen wir neue Geschäftsfelder, wie die Zellfertigung und beweisen finanzielle Widerstandskraft in globalen Krisenzeiten, wie diesen. Vor allem dank der Veränderungsbereitschaft und dem Know-how unserer Belegschaft.
G: Und dieser Veränderungswille trifft auch auf die Big Five in Salzgitter zu. Wie oft wurde gesagt, die seien zu alt, um zu überleben. Jetzt schauen Sie sich die Initiative grüner Stahl an. MAN Energy Solutions kann jetzt schon aus Sonne und Wind Wasserstoff erzeugen. Siemens entwickelt die Bahntechnologie von Morgen, Alstom den Wasserstoffzug. Bei Bosch ist der Wasserstoff Campus zuhause. Wir dürfen die Old Economy nicht gegen die Start-ups ausspielen. Denn, was dort passiert, ist für die Region überlebensrelevant.
K: Und deshalb müssen wir unsere Erfahrungen bündeln und zur Basis unserer Beschleunigung machen. Denn wenn wir eines ganz genau wissen. Die Transformation ist eine Daueraufgabe, deren Entwicklungszyklen immer schneller werden.
G: Unsere gesamte Region wird die Transformation erfolgreich meistern. Dazu stellen wir auch mit unserem neuen Förderprojekt ReTraSON (Regionales Transformationsnetzwerk Südostniedersachsen zur Entwicklung einer regionalen Transformationsstrategie in der Fahrzeug- und Zulieferindustrie) die notwendigen Weichen.
Zu einer Transformation gehört neben dem technologischen auch ein kultureller Wandel. Thomas Sattelberger attestierte dem VW-Konzern im Zusammenhang mit dem Diesel-Skandal, dass er für ein autoritäres Regime steht und für eine Fäulnis der Kultur. Sind diese Zeiten überwunden?
K: Wenn ich nur annähernd das Gefühl hätte, in einem autoritären Regime zu arbeiten, wäre ich nicht seit 20 Jahren im Konzern. Klar ist, dass sich Kultur permanent weiterentwickelt und wir als Unternehmen diesen Wandel aktiv fördern.
Wie stellen Sie sicher, dass kritische Stimmen zu Ihnen durchdringen?
K: Das ist neben der kulturellen Frage, die wir mit Workshops und einer offenen Diskussionskultur fördern, eine Frage der Instrumente. Wenn es um die Einhaltungen der Regeln geht, haben wir viele zusätzliche Prozesse aufgesetzt. Zudem haben wir für jeden und jede auch Möglichkeiten geschaffen, schnell und anonym auf begründete Verdachtsmomente hinzuweisen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, eine Kultur der Offenheit positiv zu beleben. Das heißt Kritik offen anzusprechen und Feedback daraus zu saugen, Handlungsmaßnahmen abzuleiten und das als Team dann umzusetzen. Das fordere ich auch von unseren Führungskräften. Kritik darf nicht wehtun. Sie muss es aber geben, wenn wir uns weiterentwickeln wollen. Und das wollen wir.
„Wir dürfen die Old Economy nicht gegen die Start-ups ausspielen. Denn, was dort passiert, ist für die Region überlebensrelevant.“
Und Sie persönlich?
K: Ich tausche mich sehr regelmäßig mit Beschäftigten aus – auch ohne ihre Führungskräfte. Vom Recruiting bis zur Service Factory. Vor Corona haben wir uns abends auf eine Pizza getroffen. Jetzt finden die Runden Tische leider digital statt, werden, sobald es aber möglich ist, wieder in Präsenz sein. Das ist mir wichtig. Denn so bauen wir Berührungsängste zwischen Führungskräften und Beschäftigten weiter deutlich ab.
Wie würden Sie sich selbst als Vorstände beschreiben? Was für Chefs sind Sie?
K: Das kann eher mein persönlicher Referent Johannes Hofsommer beantworten (lacht).
G: Gute Idee, sollte bei mir auch mein Team übernehmen (lacht). [Beide verlassen den Raum.]
Na dann los …
Nadine Muthmann, Leiterin Kommunikation und Regionalmarketing der Allianz für die Region: Wendelin Göbel ist unheimlich wertschätzend im Umgang mit seinen Mitarbeiter:innen. Er hat ein offenes Ohr und eine Hands-on-Mentalität.
Johannes Hofsommer, Vorstandsreferent Personal und Truck & Bus Volkswagen AG: Gunnar Kilian verkörpert einen neuen Spirit und lebt das auch vor. Offen, transparent und immer auf Augenhöhe. Das erlebe ich in der täglichen Arbeit und das zeigt sich auch in seinen Gesprächen mit allen Beschäftigten. Die Kehrseite der Medaille: Um diese Wertschätzung zu leben – parallel zu seinen Vorstandsfunktionen und Aufsichtsratsmandaten – muss sein Team im Hintergrund alle Register ziehen, um das zeitlich zu managen. Ein Husarenritt, da können Sie sicher sein (lacht).
Also keine reine Kosmetik für Ihren Chef?
Hofsommer: Nein. Authentizität hat bei uns oberste Prio.
[Gunnar Kilian und Wendelin Göbel kehren in den Raum zurück.]
K: Was für mich zählt, ist authentisches Teamwork. So habe ich von Anfang an die Veränderungen im Personalbereich gestaltet. Gemeinsam mit der Mannschaft. Auch wenn es zu meinem Job gehört, Orientierung zu geben, muss ich dazu nicht durchregieren. Das ist nicht meine Sache. Ich überzeuge lieber und lasse mich auch überzeugen. Nur so können Veränderungsprozesse in einem Unternehmen wirksam und nachhaltig funktionieren.
Wenn man mit Menschen in der Region spricht, dann sagen viele, Sie seien ein Brückenbauer, Herr Göbel. Ist das Ihr großes Lebensthema?
G: Das ist mir immer schon wichtig gewesen. Kommunikation, Kompromisse finden, Verständnis füreinander haben und Gräben überwinden. Das ist für mich hier in der Region vielleicht ein bisschen einfacher, weil ich von außen komme und nicht hier geboren bin.

Sie beide blicken auf eine Medienvergangenheit zurück. Wir haben jetzt viel über Sie und Ihre Branche geredet. Wie blicken Sie auf den Zustand des Journalismus in Deutschland?
K: Qualitativ hochwertiger und gut recherchierter Journalismus ist die Basis einer wertvollen Meinungsvielfalt. Diese ist prägend für unsere Gesellschaft. Deshalb müssen wir uns alle dafür einsetzen, dass diese öffentlichen Stimmen vielfältig bleiben. Ich glaube fest daran, dass gerade regionale Print- und Digitalmedien das Potential haben, genau das zu liefern.
Was stimmt Sie zuversichtlich?
K: Regionale News bekomme ich nicht ohne Weiteres im Internet. Und wenn ich eine Zeitung oder eine regionale App zur Hand nehme, finde ich oft Geschichten, die ich nie gesucht hätte, die aber enorm bereichernd sind. Zudem ist es das Korrektiv, das meinungsstarke Medien in einer Demokratie unverzichtbar machen. Das ist wichtig und das sollten wir auch generationsübergreifend weitervermitteln.
G: Junge Menschen müssen wieder erkennen, dass Informationen etwas Werthaltiges sind, das kostet. Und ich wünsche den Medienhäusern, dass das erkannt wird, dass sie investieren und dass ausreichend Kraft vorhanden ist, bei all den Schwierigkeiten, die es momentan gibt. Es braucht wieder mehr Wertschätzung – und vielleicht ist das ein Ergebnis aus den aktuellen Krisen, dass die Menschen nachdenklicher werden und erkennen, dass nicht alles vom Himmel fällt.
Gibt es etwas, bei dem Sie beide abseits der Arbeit gemeinsam abschalten könnten?
K: Definitiv. Wir haben uns neulich erst zu einem gemeinsamen Abendessen getroffen. Wir sind seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Funktionen gemeinsam im Konzern unterwegs. Da gibt es rund um den Konzern und die Menschen genug Themen, über die wir gerne auch mal jenseits der aktuellen Tagesordnung reden.
G: In unseren Funktionen interessieren uns immer beide Seiten des Unternehmens – die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite – und außerdem die Rahmenbedingungen. Diese werden in einem Technologiekonzern vielleicht manchmal unterschätzt, aber gemeinsamen haben wir immer einen Weg gefunden, egal ob im Sport, in der Kultur, der Belegschaft oder der Stiftung, damit es unserer Region gut geht. An allererster Stelle interessieren uns aber immer die Menschen, die bei uns arbeiten.
K: Kurz gesagt: Wir sind Menschen-Menschen.