und
15. Mai 2023
Entscheider

„Wer Zukunft gestalten will, ist in Niedersachsen bestens aufgehoben“

Niedersachsens Minister Gerald Heere und Falko Mohrs im Doppelinterview

Finanzminister Gerald Heere und Falko Mohrs, Minister für Wissenschaft und Kultur, im Standort38-Titelinterview. Foto: Holger Isermann

Das „Bistro4u“ der Ostfalia in Wolfsburg, Fakultät für Gesundheitswesen. Es ist später Nachmittag und leer, nur im Hintergrund wird noch dezent mit Küchengeräten hantiert. Gerald Heere, niedersächsischer Finanzminister, und Falko Mohrs, Minister für Wissenschaft und Kultur, haben der Hochschule gerade feierlich den Schlüssel für einen 18,5 Millionen Euro schweren Neubau übergeben. Nun kommen beide mit ihren Pressesprecher:innen durch die Glastür des Außeneingangs herein.

Es ist ein bezeichnender Treffpunkt für dieses auch für die Minister erste Doppelinterview. Unaufgeregt und pragmatisch wirkt es hier, aber dennoch zeitgemäß. Das passt zu den beiden relativ jungen Ministern, die auffallend zugewandt und wertschätzend miteinander umgehen. Falko Mohrs antwortet auf Nachfrage: „Als jemand, der die Ampel in Berlin erlebt hat, kann ich sagen: Die Stimmung im Kabinett und zwischen den Fraktionen ist richtig gut.“ Und Gerald Heere ergänzt: „…genau diese vertrauensvolle Zusammenarbeit brauchen wir auch, um in Niedersachsen wirklich voranzukommen.“

Vorankommen, das haben sich beide fest vorgenommen – bei der Infrastruktur, der Energiekrise, der Integration und der Bildung zum Beispiel. Das Land habe im Streben nach der schwarzen Null zu viele wichtige Investitionen verschleppt und so letztendlich Schulden in Form eines riesigen Sanierungsstaus angehäuft. „Das geschah auf Kosten von zukünftigen Generationen“, betont Falko Mohrs. Die nötigen finanziellen Handlungsspielräume sollen unter anderem neue Investitionsgesellschaften schaffen, „was beispielsweise mein Vorgänger niemals getan hätte“, ist sich Gerald Heere sicher. Der zweifache Familienvater will in seiner Amtszeit zeigen, dass Grüne auch Finanzpolitik können. Er lacht und schaut zu Boden, als er das sagt.

Stephan Weil (SPD, M), Ministerpräsident von Niedersachsen, steht mit seinem Kabinett bei der Jahresauftaktklausur der Niedersächsischen Landesregierung für eine Gruppenfoto zusammen. (L-r) Daniela Behrens (SPD), Gerald Heere (Bündnis 90/Die Grünen), Falko Mohrs (SPD), Kathrin Wahlmann (SPD), Christian Meyer (Bündnis 90/Die Grünen), Stephan Weil (SPD), Miriam Staudte (Bündnis 90/Die Grünen), Julia Willie Hamburg (Bündnis 90/Die Grünen), Wiebke Osigus (SPD), Andreas Philippi (SPD) und Olaf Lies (SPD). Ziel der Klausur ist eine Verständigung auf wichtige politische Vorhaben der kommenden eineinhalb Jahre. Foto: Swen Pförtner/picture alliance/dpa

Dieses norddeutsch-nüchterne Wesen des gebürtigen Cuxhaveners ist uns bereits vertraut. Denn beide Interviewer haben eine gemeinsame Vergangenheit mit dem Minister – als Studenten beziehungsweise Mitarbeiter an der TU Braunschweig. Das erklärt auch das vertraute „Du“, zu dem wir Wissenschaftsminister Falko Mohrs nicht überreden müssen. Die spontane Idee, Gerald für ein Foto hinter die Cafeteria-Kasse zu setzen, winkt sein Pressesprecher aber doch ab. Dann lieber ganz offiziell vor dem gerade eingeweihten Neubau …

Gerald, welchen Anteil hat deine Zeit am Institut für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig an deiner Ernennungsurkunde zum Finanzminister?
Heere (H): (lacht) Meine Zeit an der Uni und damit im öffentlichen Dienst hat natürlich eine gewisse Bedeutung, weil ich damals viele Erfahrungen gesammelt habe – nicht nur mit den Professorinnen und Professoren, sondern auch mit sehr vielen Studierenden. Vor allem die sechs Jahre aktive Lehrtätigkeit haben mir viel gegeben.

Gab es eine inhaltliche Prägung?
H: Die internationale Politik, die Regulierung von internationalen Wirtschaftsbeziehungen und des Welthandels, das Weltfinanzsystem – das hat mir Grundlagen verschafft, auch wenn solche Fragen an der Uni vor allem akademisch diskutiert werden.

Hat deine finanzpolitische Spezialisierung eigentlich einen karrierestrategischen Hintergrund? Als Kompetenzschwerpunkt der Grünen gilt dieser Bereich ja bisher nicht …
H: Es war eher Zufall. Wie so vieles in der Politik. Minister wird man auch nicht, weil man das über Jahrzehnte geplant hat, sondern, wie in unserem Fall, tatsächlich das Finanzministerium für die Grünen gewinnen konnte.

Aber mit der Kompetenz hattest du ein Alleinstellungsmerkmal in der Partei, oder?
H: Als ich 2013 in den Landtag gekommen bin, gab es in der Tat nicht so viele Parteifreunde, die sich für das Thema Haushalt und Finanzen interessiert haben. Ich hatte auch aufgrund meiner Tätigkeit an der Uni und als Ratsherr in Braunschweig gewisse Vorkenntnisse. Strategisch war das aber nicht!

Falko, wie wichtig war dein Vater für deinen politischen Werdegang?
Mohrs (M): So wichtig, wie es Eltern immer irgendwie sind. Mein Vater hat uns vorgelebt, dass man sich interessiert für das, was links und rechts von einem stattfindet. In dieser Form war er auf jeden Fall prägend. Was aber die politische Arbeit angeht, waren bei mir eher die Pfadfinder entscheidend und dann auch die Zeit im Jugendhilfeausschuss und im Jugendring. Und meine erste politische Aktion war tatsächlich eine Demonstration gegen meinen Vater.

Das musst du genauer erzählen!
M: Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, wurde in Wolfsburg viel im Jugendbereich eingespart. Das war Anfang der 1990er-Jahre, Volkswagen ging es nicht so gut und wie immer geht es dann der Stadt auch nicht gut. Und so haben wir Pfadfinder damals im Jugendhilfeausschuss protestiert.

Hat der Name Mohrs deiner Karriere geholfen oder es schwerer gemacht?
M: Ich glaube, beides trifft zu. Natürlich gibt es Kontakte aus der persönlichen Bekanntschaft. Außerdem lernt man im Elternhaus die Sprache von bestimmten Gruppen kennen, das hilft. Gleichzeitig habe ich auch immer die Notwendigkeit verspürt, mich doppelt zu beweisen.

Niedersachsen könnte zum Gewinner der Energiewende werden, wenn der massive Ausbau der Erneuerbaren sowie die Transformation von Industriebetrieben, wie hier der Salzgitter AG, gelingt. Foto: SZ AG

Erinnerst du dich an den Moment, als du in der Familie den Entschluss verkündet hast, Minister werden zu wollen?
M: Mein Vater gehörte zu den kritischen Stimmen in meiner Familie. Denn es war ihm klar, was es heißt, wenn man Politik zu seinem Beruf macht. Man gibt schon eine ganze Menge an Selbstbestimmung auf. Und Anfeindungen in der Öffentlichkeit, das sind Dinge, die er selbst erlebt hat.

Jetzt seid ihr beide um die 40 Jahre alt und bereits Minister. Was kann da noch kommen?
H: Ich habe im Finanzministerium Portraits von 16 Vorgängerinnen und Vorgängern hängen. Wir sind jetzt in der 19. Wahlperiode in Niedersachsen, da kann man an einer Hand abzählen, wie groß die Chancen sind, dieses Amt länger als fünf Jahre zu machen (lacht). Politik ist immer eine Beschäftigung auf Zeit …

… das hast du selbst 2017 erlebt …
H: Genau, damals sind wir von 20 auf 12 Sitze geschrumpft und ich bin aus dem Landtag geflogen. Damals habe ich wieder von vorne angefangen und geschaut, wo ich gebraucht werde, wo ich einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Nach dieser Erfahrung bin ich inzwischen sehr entspannt.
M: Das zeigt eine gesunde Distanz zum eigenen Amt, finde ich. Die Leidenschaft für das Amt, die Freude am Gestalten, das verbindet Gerald und mich. Deshalb sind natürlich solche Positionen interessant. Aber es ist gut, dass in einer Demokratie die geliehene Macht auch immer wieder zurückgegeben wird.

Wofür würdet ihr gerne mehr Geld ausgeben und wo eher sparen?
H: Natürlich sind die Herausforderungen gewaltig. Wir haben zum Beispiel riesige Mengen an Infrastruktur, die wir nicht ordentlich erhalten. Da würde ich mir wünschen, dass wir mehr machen. Ebenso bei der Bildung, was relativ offensichtlich notwendig ist. Wir wissen aber auch: Geld ist nicht alles. Wir haben einen riesigen Lehrkräftemangel. Hier wurde viel versäumt.

Was sagt es über das politische System und unsere Gesellschaft aus, dass Politiker die Vergangenheit in der Regel als Zeit der Versäumnisse beschreiben?
M: Es ist doch ein ganz gesunder Antritt zu sagen, dass Dinge unzureichend waren und man sie gern besser machen würde, oder? Vielleicht liegt es auch daran, dass ich von Haus aus Betriebswirt bin: Ich würde mir wünschen, dass wir stark darauf schauen, was wir brauchen, um auch in Zukunft Handlungsspielräume zu haben.

Was meinst Du damit genau?
M: Niedersachsen ist ein extrem starkes Industrie- und Agrarland. Und das sind zwei Branchen, die in zehn Jahren völlig anders aussehen werden als heute. Unser Anspruch ist es, diesen Prozess nicht sich selbst zu überlassen, sondern ihn aktiv zu gestalten. Damit sich die Dinge so verändern, dass die Menschen mitkommen, damit wir weiterhin Arbeitsplätze haben und wir auch dann noch finanziell und wirtschaftlich stark sind. Deswegen ist eine der Prioritäten, die ich in meinem Haus setze, Innovationen nach vorne zu stellen. Wir müssen heute dafür sorgen, dass die Bereiche, wo wir stark sind, wo wir das Geld verdienen, wo Menschen Arbeit haben und Sicherheit finden, morgen auch noch existieren.

Verstanden! Die Frage zielte eher auf die Lösungskompetenz des Staates. Infrastruktur, Bildung, Gesundheit – hier gibt es doch eigentlich einen Konsens über alle politischen Lager hinweg. Und gleichzeitig sind sich fast alle einig, dass in diesen Politikfeldern zu wenig passiert …
M: Ich sehe schon, dass wir aus Jahrzehnten kommen, in denen viele einen schlanken Staat haben wollten, der schwarzen Null hinterhergelaufen sind. Das geschah auf Kosten von zukünftigen Generationen. Aber es war nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Entscheidung.

Gesellschaftlich?
M: Ja. Es gab einen gesellschaftlichen Trend, Dinge einem Spar-Diktat unterzuordnen. Aber es ist wichtig, dass wir eben strategischer darauf schauen, welche Investitionen uns nach vorne bringen. Und dann muss ich auch mal – hier scheint wieder der Betriebswirt durch – bereit sein, mich zu verschulden. Vor allem, wenn ich sehe, dass die Alternative eben auch eine Form von Verschuldung ist.

Kannst du das konkretisieren?
M: Es ist uns zum Beispiel ganz klar, dass eine Nichtinvestition in Gebäude am Ende einen Werteverlust darstellt. Was heute vielleicht eine kleine Baumaßnahme ist, wird morgen eine große Baumaßnahme und damit teurer.
H: Stimmt. Wir hatten in der Vergangenheit politische und gesellschaftliche Mehrheiten für einen schlanken Staat. Die spannende Frage ist, wie man das jetzt ändert. Wenn ich mir die Diskussionen anschaue, die wir auf Bundesebene und mit dem Bundesfinanzminister führen, sind das zum Teil immer noch rückwärtsgewandte Gedankenspiele, die dafür sorgen, dass wir nicht vorwärtskommen.

Das Gefühl, dass Politik tatsächlich spürbar gestalten kann, ist in bestimmten Teilen der Gesellschaft verloren ­gegangen …
H: Dass bestimmte politische Akteure, insbesondere aus CDU und FDP, immer noch an der Gestaltungsmacht sind, bedeutet für eine rot-grüne Koalition in Hannover, die sich andere Ziele setzt, erstmal schwierige Rahmenbedingungen. Wobei mir eins wichtig ist. Wir sagen nicht: Schulden machen ist egal! Wir haben uns klar verständigt, dass eine Begrenzung der Verschuldung sinnvoll ist. Aber nichtsdestotrotz gibt es Spielräume.

Die aber zunehmend kleiner werden …
H: Die europäischen Schuldenregeln zum Beispiel lassen mehr für alle anderen Staaten zu als die deutsche Schuldenregel in Deutschland. Diese Spielräume sollten wir nutzen, um die Zukunftsinvestitionen zu tätigen, die einfach zwingend notwendig sind.

Ist es eine seltene Chance, dass ein Grüner Finanzminister in Niedersachsen ist?
H: Erstmal ist es eine Frage des Stils der Zusammenarbeit. Und natürlich haben wir Chancen. Zum Beispiel, indem wir mit Landesinvestitionsgesellschaften andere Instrumente nutzen, was beispielsweise mein Vorgänger niemals getan hätte. Und ich würde auch für mich den Anspruch haben, dass wir diesen anspruchsvollen Weg konsequent zu Ende gehen und damit nach außen zeigen, dass Grüne auch Finanzpolitik können (lacht).

Falko Mohrs beim Standort38-Titelinterview. Foto: Holger Isermann

Wenn wir auf die Brüche in der Gesellschaft schauen, nicht nur zwischen Jung und Alt, auch zwischen Arm und Reich, zwischen hier Geborenen und Zugewanderten: Wie groß ist die Gefahr, dass in den nächsten Jahren das „Wir“ verloren geht?
M: Die Zeiten sind unsicherer geworden. Jeder schaut da natürlich erstmal auf sich selbst. Damit einher geht eine stärkere Trennung von „wir“ und „die“ und ich sehe schon die Gefahr, dass der Zusammenhalt verloren geht. Insofern ist es eine unserer Kernaufgaben, Menschen Sicherheit zu geben.

Das klingt nicht gerade optimistisch …
M: Das ist der Ausgangspunkt, aber klar ist auch: Unsere Gesellschaft kann sich eine Spaltung nicht leisten. Sehen wir uns nur einmal den Fachkräftemangel an: Wir schätzen, dass wir bis 2035 in Deutschland rund acht Millionen neue Fachkräfte brauchen bei heute 40 Millionen Erwerbstätigen. Jede fünfte Stelle könnte in den nächsten zehn Jahren unbesetzt bleiben. Wir werden unseren wirtschaftlichen Wohlstand nur erhalten, wenn wir uns öffnen.

Was überwiegt – die Chancen oder Herausforderungen der Zuwanderung?
H: Die gesamte Wirtschaft sagt: Wir brauchen Zuwanderung, um unseren Arbeitskräftemangel zu lösen. Es gibt fast keine Branche, die das anders sieht. Natürlich gibt es Risiken und Probleme, das will ich gar nicht schönreden. Wenn unterschiedliche Kulturen zusammenleben, aus denen einige sich etwa im Spracherwerb schwertun, entsteht auch Reibung. Das sind eben gesellschaftliche Herausforderungen, die wir angehen müssen. Aber die Chancen, die dahinterstehen, sind einfach bedeutend größer.

Sollten wir nicht trotzdem endlich anfangen, in der politischen Diskussion Flucht von Zuwanderung zu unterscheiden?
M: Schon, weil das Recht auf Asyl grundsätzlich ist und man Zuwanderung viel stärker steuern, anreizen und organisieren kann. Aber die Frage von Integration in die Gesellschaft unterscheidet natürlich erst mal nicht, warum jemand da ist.
H: Richtig. Bei der Durchsetzung von Recht darf es uns aber nicht egal sein, wie gut die Person integriert ist und ob wir sie auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Da müssen wir viel stärker chancenorientiert denken.

Themenwechsel: Für den Transformationsprozess im Energie- und Industriesektor ist Niedersachsen ein wichtiger Standort. Wie wird sich das für Bürger:innen auswirken? Windräder und Stromleitungen sind auch ein Reizthema …
H: Zunächst einmal hat Niedersachsen viel Potenzial bei der Erzeugung von Windenergie und Wasserstoff. Das bietet wirtschaftliche Chancen für gute Arbeitsplätze und damit am Ende auch für gute Steuereinnahmen, was dann wieder dem Landeshaushalt zugutekommt.
M: Wir sehen in der deutschen Geschichte, dass die Industrie oft der Energieerzeugung gefolgt ist. Im Ruhrgebiet konnte eine Schwerindustrie aufgebaut werden, weil die Montanindustrie mit der Stromerzeugung bereits dort war. Zukünftig wird der Norden und damit auch Niedersachsen zum Energieland.

Gegenwärtig hat man eher das Gefühl, dass die energieintensiven Branchen Deutschland verlassen …
M: Wir wollen, dass der Energiepreis in Zukunft dort geringer ist, wo viel Strom erzeugt wird, wo viele Netze notwendig sind. Insofern brauchen wir da eine Umkehr, auch wenn etwa Bayern das nicht will, weil sie keinen Ausbau hinkriegen. Grundlage für den regionalen Ausbau ist ein Bundesgesetz: Bis Ende 2032 müssen die Länder zwei Prozent der Bundesfläche für die Windenergie ausweisen. Wir sind Windland Nummer eins, da ist jede Region gefordert. Wir werden deshalb über die Regionalplanung so schnell wie möglich 2,2 Prozent der Landesfläche als Windenergiegebiete rechtsverbindlich ausweisen.

Da ist heftiger Streit vorprogrammiert!
M: Deshalb möchte ich an die Gesellschaft appellieren: Ich kann doch nicht wollen, dass sich mein Land im Sinne der Nachhaltigkeit und Wirtschaftsstärke umbaut und gleichzeitig dagegen vorgehen, wenn Veränderungen bei mir vor der Haustür anstehen. So funktioniert eine Transformation nicht.
H: Dafür braucht es Beteiligung. In dem Moment, wo sie selbst von den Windanlagen profitieren, wo die kommunalen Haushalte Einnahmen generieren und man zum Beispiel ein Schwimmbad bauen kann, sagen die Leute auf einmal: Ja, eine gute Idee, das wollen wir. Dann ändert sich häufig so eine Diskussion.

Kundgebung vor dem Schloss und Demo um die Innenstadt von Fridays For Future und Ver.Di

Also droht in diesen Fragen keine Stadt-Land-Kluft?
H: Natürlich ist das ein Zielkonflikt. Aber es betrifft ja immer beide Bereiche: Im ländlichen Raum muss man Überlandleitungen schaffen, in den Städten dagegen die Verkehrsprobleme angehen. Es gibt kein Optimum, jede Siedlungsform hat ihre Probleme.

Kann das gelingen? Aus Niedersachsen zu sagen: Liebe Bayern, jetzt müssen wir über Verteilung, Preise und Prioritäten nochmal neu diskutieren?
M: Wir haben dazu eine klare Erwartungshaltung. Natürlich darf man die Frösche nicht fragen, wenn man den Teich trockenlegen will. Wenn man die Bayern nach einer Neuausrichtung der Strompreisarchitektur fragt, werden die natürlich immer abwinken. Aber auch die Bundesnetzagentur sagt durchaus, dass man über unterschiedliche Strompreiszonen nachdenken müsse. Und ich erwarte, dass man das ernsthaft diskutiert. Ich kann den Leuten irgendwann nämlich nicht mehr erklären, warum sie Einschränkungen hinnehmen müssen, wenn am Ende kein Vorteil daraus entsteht.

Erwächst daraus ein neues niedersächsisches Selbstbewusstsein, das man möglicherweise auch im politischen Alltag spürt?
H: Wir rufen nicht in jedem Termin „Hurra, wir sind jetzt wieder wer“, weil es bald grünen Strom gibt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein großes gemeinsames Miteinander und wir profitieren natürlich auch davon. Aber wenn ein Bundesland wie Bayern bestimmte Rahmenbedingungen nicht nur verschläft, sondern aktiv behindert, dann kann man nur sagen: selbst schuld.
M: Ich finde, dass wir als Niedersachsen durchaus selbstbewusst sein dürfen und mache das mal an einem Punkt fest: Wir haben dank der Porsche-Dividende mit „zukunft.niedersachsen“ ein Forschungsprogramm in einer Größenordnung von weit über einer Milliarde für die nächsten fünf Jahre aufgelegt. Das ist eine Größenordnung, die selbst Bayern nicht hinbekommt. Insofern können wir sagen: Wer Zukunft gestalten will, ist in Niedersachsen bestens aufgehoben.
H: Das ist ein finanzpolitischer Leuchtturm in dieser Legislatur. Der niedersächsische Standort, die Forschungslandschaft und der Wirtschaftsstandort werden davon profitieren.

Ist die Forschungsregion Braunschweig Wolfsburg bezüglich ihrer Bedeutung sichtbar genug?
M: Nein. Ich glaube, dass wir noch zu oft unter dem Radar segeln. Gerhard Glogowski sagte einmal: Hier leben die klügsten Menschen im ganzen Land! Er meinte damit die höchste Dichte an Forschenden in ganz Europa. Das ist bei vielen noch nicht so im Bewusstsein.

Wirtschaftsvertreter aus der Region, zum Teil auch Vertreter aus der Politik, äußern manchmal das Gefühl, gegenüber der Landeshauptstadt in puncto Finanzausstattung und Repräsentanz benachteiligt zu sein. Könnt ihr das nachvollziehen?
M: Es gibt mit Sicherheit Dinge, die nicht in Balance sind. Aber keiner gibt uns am Ende Geld aus Mitleid, sondern da müssen wir in der Region deutlich machen, wofür wir es brauchen, was wir damit umsetzen wollen. Damit überzeugt man immer mehr.

Kommen jetzt vermehrt konkrete Anfragen aus der Region? Nach dem Motto: Kümmere dich bitte mal um das, was in der Vergangenheit von der Landesregierung versäumt wurde …
M: (lacht) Diese Meldungen und Anrufe kommen aus allen Regionen des Landes. Als Minister im Landeskabinett ist man aber für alle da.

Und aus der Heimatregion, gibt es da nicht eine gewisse Erwartungshaltung?
M: Klar, die gibt es, damit hat man aber immer in der Politik zu tun. Und wenn man manche Dinge und Akteure aus dem regionalen Zusammenhang kennt, macht es das manchmal auch einfacher.

Gerald, wird es eine eigenständige Braunschweiger Landessparkasse geben?
H: Wir werden das ergebnisoffen prüfen. Bestimmte Rahmenbedingungen müssen dafür gegeben sein und es darf eben keine Nachteile für die Nord/LB geben. Die befindet sich aktuell noch in der Restrukturierung und hat diverse Herausforderungen zu bewältigen. Im Laufe der Legislaturperiode wollen wir aber Überlegungen anstellen und prüfen, ob eine Herauslösung möglich ist.

Wundert ihr euch eigentlich manchmal, wie zahm die Jugend ist und auf bestimmte Entwicklungen reagiert? Oder seid ihr bei den Konservativen, die finden, dass die Jugend ihre Freitagsdemonstrationen doch lassen und lieber in die Schule gehen soll?
M: Das ist der Beweis dafür, dass auch die junge Generation sehr politisch ist. Politischer, als das in der Breite unserer Generation der Fall war.
H: Absolut. Wenn sich junge Leute engagieren, ist das super. Und man muss immer sehen, aus welcher Richtung Druck gemacht wird. In meiner Jugend, den 1990er-Jahren, kam der Druck eher aus neoliberalen Kreisen, aus der Wirtschaft.

Liegt das nicht auch daran, dass die einen Strukturen und Mittel haben, um sich politisch Gehör zu verschaffen, während den anderen vor allem die Straße bleibt?
H: Ich möchte nicht, dass nur die Gehör finden, die viel Geld und somit Einfluss haben. Viele Jugendliche, die bei „Fridays for Future“ mitlaufen, gehen zum Gymnasium und sind damit auch schon privilegiert. Wirklich schwierig ist es für Menschen in prekären Umfeldern, die noch weniger wirkmächtig sind. Unsere Aufgabe ist es, all diese Interessen zu einem Ausgleich zu bringen.

Ihr seid bereits ein paar Monate im Amt. Wie empfindet ihr den öffentlichen Druck?
H: Man muss lernen, damit umzugehen. Ich würde nicht sagen, dass der öffentliche Druck, der Stress oder die Belastung untragbar sind. Ich habe keine schlaflosen Nächte deswegen. Im Ministerium gibt es 350 leistungsfähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in ihre Themen tief eingearbeitet haben. Auf deren Einschätzung kann man sich erst einmal verlassen. Ich muss mir also nicht über jedes kleinste Problem selbst Gedanken machen.

Gibt es persönliche Angriffe?
H: Natürlich. Als Person des öffentlichen Lebens muss ich damit ein stückweit leben. Und ich finde, das kann man auch, wenn es bestimmte Dimensionen nicht überschreitet.
M: Die Zuspitzung auf die Person ist als Minister ganz anders als zu meiner Zeit im Bundestag.

Gerald, ich kann mich daran erinnern, wie du als Landtagsabgeordneter das Institut für Sozialwissenschaften besucht hast und man plötzlich ganz anders mit dir umgegangen ist, als zu deiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Wie sehr prägt das Amt euer Umfeld und die Menschen, die euch begegnen?
H: Ich verstehe das ein Stück weit. Da schwingt ja auch eine gewisse Wertschätzung mit, wenn die Menschen dich mit „Herr Minister“ ansprechen. Aber ich bin auch froh, dass es weiter Bereiche gibt, in denen ich einfach Gerald sein kann – zum Beispiel bei der Gartenarbeit und einem Plausch mit den Nachbarn oder wenn ich den Großen in die KITA bringe.

Kannst du denn überhaupt noch als normaler Vater zur Elternversammlung im Kindergarten gehen oder adressiert man dich nicht automatisch mit einer gewissen Erwartungshaltung als Finanzminister?
H: Das gibt es in jedem Fall, egal wo man hinkommt. Alle sprechen dich an und wollen über Geld reden oder dass ich dafür sorge, dass in ihren Umfeldern etwas passiert. Entweder ich reagiere humorvoll darauf oder, wenn Leute es ernst meinen, erkläre ich, dass ich nicht derjenige bin, der entscheidet, wo das Geld im Einzelnen hinfließt.

Hilft in solchen Situationen manchmal das Amt mit seinem professionellen Auftritt? Ihr fahrt mit großer Limousine, Fahrer und Pressesprecher vor – das schafft ja auch sichtbaren Abstand und dürfte Menschen abschrecken, euch direkt anzusprechen …
M: Natürlich gibt es dieses Umfeld und das braucht es auch, um den ganzen durchgetakteten Tag sinnvoll gestalten zu können. Aber als Schutz habe ich das nie empfunden oder gebraucht.
H: Es kommt auch vor, dass ich abends mit der Straßenbahn nach Hause fahre und dort wurde ich bisher nie angesprochen. Ich glaube übrigens nicht, dass der niedersächsische Finanzminister einen unglaublich hohen Bekanntheitsgrad besitzt (lacht).

Finanzminister Gerald Heere im Standort38-Titelinterview. Foto: Holger Isermann

Wir haben jetzt viel über die Transformation geredet. Wie seid ihr persönlich unterwegs?
H: Aktuell fahre ich noch den hoch motorisierten Diesel meines Vorgängers.
M: Das ist bei mir genauso.
H: Aber direkt nach dem Amtsantritt haben wir ein Elektroauto bestellt, das im Mai geliefert werden soll.

Wo findet ihr Ausgleich?
H: Auf jeden Fall in der Familie. Für viel anderes ist gerade ehrlicherweise auch kaum Zeit – Kultur oder Sport zum Beispiel.
M: Ich habe das Privileg, dass die Kultur Teil meines Jobs ist – und der umgibt einen ehrlicherweise 24 Stunden. Gerade deshalb ist es wichtig, abschalten zu können. Das passiert bei mir zu Hause in der Partnerschaft, beim Sport oder bei meinen Bienen.

Wie viele Völker hast du?
M: Aktuell neun, eigentlich waren es elf, aber zwei haben es nicht durch den Winter geschafft.

Letzte Frage: Ihr wirkt auffallend entspannt und wertschätzend im Gespräch miteinander. Ist das Ausdruck von persönlicher Sympathie oder generell der Kultur in der Landesregierung?
M: Beides. Als jemand, der die Ampel in Berlin erlebt hat, kann ich sagen: Die Stimmung im Kabinett und zwischen den Fraktionen ist richtig gut. So macht die Zusammenarbeit Spaß!
H: Stimmt, so ein Doppelinterview war für uns auch neu und es ist nicht so, dass wir ständig Termine miteinander hätten. Aber die Atmosphäre stimmt und genau diese vertrauensvolle Zusammenarbeit brauchen wir auch, um in Niedersachsen wirklich voranzukommen.

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