und
13. März 2023
Entscheider

„Wir stehen am Anfang einer dramatischen Entwicklung“

Bettina Tews-Harms führt ein Pflege-Unternehmen mit fünf Standorten im Kreis Gifhorn und Wolfsburg.

Bettina Tews-Harms beim Titelinterview in Wahrenholz. Foto: Holger Isermann

Bettina Tews-Harms ist vor rund 30 Jahren aus dem Krankenhaus in die Selbstständigkeit geflüchtet und führt mittlerweile ein Pflege-Unternehmen mit fünf Standorten. Wir haben sie in einer Tagespflegeeinrichtung in Wahrenholz im Landkreis Gifhorn getroffen – zu einem Gespräch über Fachkräfte aus dem Ausland, gutes Sterben und einen Notstand, der gerade erst richtig sichtbar wird …

Als Bettina Tews-Harms sich 1994 entschließt wegen der „unzureichen­den Arbeitsbedingungen“ im Krankenhaus zu kündigen, gibt es die Pflegeversicherung noch nicht, außerdem keine Fallpauschalen oder einen nur annähernd vergleichbaren Fachkräftemangel. Von 1999 bis 2019 verdoppelt sich die Anzahl der Beschäftigten in der ambulanten und stationären Pflege beinah – auf knapp zwei Millionen Menschen.

Ein wachsender Markt, weil immer mehr Ältere Hilfe benötigen, die Angehörige nicht leisten können oder wollen, dabei immer weniger potenzielle Arbeitskräfte und ein zunehmend enges Finanzierungskorsett – das sind die Bedingungen, unter denen sich die Bettina Harms GmbH vom Ein-Frau-Unternehmen mit Faxgerät im Schlafzimmer zu einem Pflegedienstleister mit rund 400 Mitarbeiter:innen entwickelt.

Diese unternehmerische Erfolgsgeschichte ist sicher eine Teamleistung, aber ohne Bettina Tews-Harms nicht denkbar, die als auffallend reflektierte Unternehmerin die Richtung vorgibt. „Ich wollte nie der Billiganbieter sein, sondern in erster Linie gut“, betont sie, als wir sie an einem Freitagmittag Anfang Februar in der überaus wohnlichen Tagespflegeeinrichtung in Wahrenholz zum Interview treffen. Ihr Ziel: „… mit guten Ideen und engagierten Mitarbeiter:innen das Beste aus den Möglichkeiten herauszuholen.“

Dieser Weg war rückblickend durchaus steinig. Denn Tews-Harms hatte mit Männernetzwerken und dem engen Draht der Wohlfahrt zur Politik genauso zu kämpfen wie mit Finanzierungslücken aufgrund des schnellen Unternehmenswachstums. Heute sei vieles leichter. „Man kommt nicht mehr an uns vorbei“, sagt die 61-Jährige eher beiläufig. Uns gegenüber sitzt eine Frau, die sich ihren Weg erkämpft hat, die das eigene Alter(n) überaus gelassen nimmt und die trotz sich verschärfender Herausforderungen optimistisch auf den Pflegenotstand blickt: „Es muss klappen, weil es keine Alternative gibt. Und Innovation entsteht vor allem dann, wenn Mangel herrscht oder Druck auf dem Kessel ist. Daran fehlt es sicher nicht!“

Bettina Tews-Harms

Frau Tews-Harms, vor rund 30 Jahren haben Sie Ihr Unternehmen gegründet. Wie kam es dazu?
Ich war Krankenschwester und fand die Rahmenbedingungen damals schon so unzureichend, dass ich nicht einfach weitermachen wollte. Im Nachtdienst mussten Sie sich ständig zwischen 34 Patienten entscheiden, obwohl alle Ihre Hilfe gebraucht hätten. Also habe ich überlegt, welche Alternativen es gibt. Eine Idee war es, ein Fitnessstudio zu eröffnen, aber weil damals gerade die Pflegeversicherung diskutiert wurde und ich die Arbeit mit Menschen mag, habe ich 1994 einen ambulanten Pflegedienst gegründet…

Als One-Woman-Show…
Genau. Damals ging das noch, ich musste nur eine Vertretung benennen, für den Fall, dass ich ausfalle. Mein Büro war die Wohnung, das Faxgerät stand im Schlafzimmer…

… und Sie sind mit dem Auto von Haus zu Haus gefahren?
Ja, wobei es in dieser Zeit relativ schwierig war, Zugang zu potenziellen Kunden zu bekommen. Die Wohlfahrtsverbände waren die dominierenden Akteure und als privater Anbieter wurden Sie erst einmal kritisch beäugt. Es ging also anfangs relativ langsam voran. Aber durch Mund-zu-Mund-Propaganda kamen dann immer mehr Kunden zusammen.

Wie sah der Markt damals aus?
Es war ein ganz anderer als heute. Der Wettbewerb drehte sich nicht um die Pflegekräfte sondern um die Kunden.

Und dennoch waren die Bedingungen besser als im Krankenhaus?
Mit Einführung der Pflegeversicherung gab es feste Sätze für bestimmte Tätigkeiten. Davor gab es zwar einen geringeren Anspruch des Pflegebedürftigen, aber das Budget konnte bedarfsgerechter eingesetzt werden. Und ich konnte mich auf einen einzigen Patienten konzentrieren. Diese Möglichkeit hatte ich damals im Krankenhaus nicht. Man musste also von Anfang an wirtschaftlich denken oder immer schnell, schnell machen. Aber das ist nicht sinnvoll, wenn Sie den Job erst nehmen und fachlich denken. Ich wollte nie der Billiganbieter sein, sondern in erster Linie gut.

Hatten Sie Vorbilder für diese unternehmerische Denke?
Nein, in meiner Familie gab es keine Unternehmer:innen. Ich habe mir dieses Wissen nebenbei durch Fortbildungen angeeignet.

„Diese Menschen haben es einfach verdient, dass man anständig mit ihnen umgeht“, betont Tews-Harms. Foto: Rainer Erhard

Wann kamen die ersten Angestellten dazu?
Ich hatte neulich einen Zeitungsartikel in der Hand, in dem stand, dass ich nach einem Jahr schon zehn Mitarbeiter:innen hatte. Es haben sich immer wieder Leute gemeldet, die bei ihren Arbeitgebern unzufrieden waren. So kam richtig Schwung in die Sache…

… und Sie sind Schritt für Schritt aus der Pflege- und die Managerrolle gerutscht?
Auch das musste ich lernen. Ich habe mich mit dem Rollenwechsel zuerst sehr schwer getan, weil ich sehr gerne als Krankenschwester gearbeitet habe. Aber ich musste erkennen, dass ein Unternehmen in der Führung andere Kompetenzen braucht. Ich musste irgendwann durchaus schmerzvoll erfahren, dass mein Job ein anderer war und habe das dann auch angenommen.

Gab es Meilensteine in der Unternehmensentwicklung?
Das lässt sich ganz gut an den Standorten verdeutlichen. 1996 haben wir das erste eigenständige Büro eröffnet – in Hankensbüttel, 1999 kam der Standort in Wesendorf dazu, 2001 sind wir nach Wittingen gegangen, 2006 nach Wolfsburg und 2008 nach Gifhorn. Wir haben alle zwei bis vier Jahren einen neuen Standort eröffnet, weil die Nachfrage stetig stieg.

Haben Sie auch Unternehmen übernommen?
Nein, wir haben immer neu angefangen. Es gab zwar immer wieder Angebote, aber damit übernehmen Sie ja auch ein Stückweit die bestehende Kultur und das hat nie wirklich gepasst.

Heute haben Sie rund 400 Mitarbeiter:innen. Welche Stellung hat Ihr Unternehmen damit auf dem Markt?
Wir sind der größte ambulante Träger im Landkreis Gifhorn. Vor einigen Jahren wurden wir mal als einer der größten zehn ambulanten Pflegedienstanbieter Deutschlands unter den Privaten ausgezeichnet. Aber seitdem gab es einige Fusionen und die Aussage dürfte nicht mehr stimmen.

Ist Größe eine Chance oder Herausforderung?
Ich hatte immer den Eindruck, dass Wachstum notwendig ist, um den Herausforderungen unserer Branche begegnen zu können. Heute bin ich überzeugt, dass es uns noch gibt, weil wir so groß sind. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir seit einigen Jahren gar nicht mehr wachsen, weil dafür schlichtweg die Mitarbeiter:innen fehlen.

Nicht nur die Zahl Ihrer Mitarbeiter:innen, auch das Angebot ist stetig gewachsen …
Stimmt. 2006 haben wir hier im Landkreis Gifhorn die erste Tagespflege eröffnet, als es noch gar keine richtigen Finanzierungsmöglichkeiten dafür gab. Für viele Angehörige war das ein Segen, denn mit der ambulanten Pflege waren wir am Tag vielleicht 30 Minuten vor Ort und den Rest des Tages saßen die Patienten allein zu Hause. Das ist gerade bei Menschen mit Demenz wirklich schwierig. Mittlerweile haben wir sechs Tagespflegeeinrichtungen, seit 2007 auch ambulant betreute Wohngemeinschaften. Das ist gerade für Menschen interessant, die zu Hause nicht mehr betreut werden können und die trotzdem nicht gleich in ein klassisches Seniorenheim ziehen wollen. Wir fragen uns immer: Was brauchen die Menschen und versuchen dann Angebote zu entwickeln.

Sind Sie so auch zum Hospiz gekommen?
Es fehlte eine solche Einrichtung hier in Gifhorn und als Dienst sind wir schon sehr lange in der palliativen Versorgung engagiert. Daher lag es nahe, sich zusammen mit einem Palliativmediziner für den Aufbau und Betrieb eines Hospizhauses zu bewerben. Dabei war überhaupt nicht klar, dass wir die Ausschreibung gewinnen. Dass man uns als Privatunternehmen die Einrichtung anvertraut hat, war wie ein Ritterschlag.

Wie wichtig ist welcher Bereich in Ihrem Unternehmen heute?
Wenn ich es wirtschaftlich betrachte, ist die ambulante Pflege in der Häuslichkeit der Menschen unterfinanziert. Ohne die anderen Bereiche wären die hohen Kosten für die Gehälter der Pflegekräfte, die weiten Wege auf dem Land und die dafür gezahlten Vergütungen ruinös. Hier ist es auch am schwierigsten Mitarbeiter:innen zu finden, weil die Arbeitszeiten relativ unattraktiv sind. In der Tagespflege hingegen arbeiten Sie montags bis freitags von acht bis 16 Uhr. Das haben Sie sonst in der Pflege nirgendwo.

Sie sprechen von desaströser Finanzierung – wie gesund ist Ihr Unternehmen denn?
Wenn wir nicht gesund wären, wären wir nicht mehr am Markt. Im Gegensatz zu den Wohlfahrtseinrichtungen kann uns nämlich niemand quersubventionieren. Das bekommen Sie übrigens auch gern von den Kostenträgern zu hören: Frau Harms, Sie sind doch noch da, so unwirtschaftlich kann das doch alles nicht sein.

Und – was würden Sie antworten?
Wir sind innovativ und kreativ, deshalb optimieren wir stetig unsere Prozesse – und das ist ja auch gut so. Aber die Möglichkeiten sind irgendwann ausgereizt. Und dann haben Sie noch die Stellschraube Personal, weil das der größte Kostenblock in Dienstleistungsunternehmen ist. Nur bin ich selbst Krankenschwester und weiß, dass bestimmte Dinge eben Zeit brauchen, wenn man sie in einer guten Qualität anbieten möchte.

„Bei uns macht den Mitarbeitenden Pflege noch wirklich Spaß“, ist sich die Geschäftsführerin sicher. Foto: Rainer Erhard

Der Spagat zwischen Menschlich- und Wirtschaftlichkeit. Wo stehen wir hier als Gesellschaft und wo Sie mit Ihrem Unternehmen?
Das Bild ist bunt. Es gibt ja offensichtlich Einrichtungen, die es trotz der Rahmenbedingungen hinkriegen besser zu sein als andere. Genau das hat mich immer gereizt – mit guten Ideen und engagierten Mitarbeiter:innen das Beste aus den Möglichkeiten herauszuholen. Dazu gehört, die Mitarbeiter:innen so zu befähigen, dass sie sich mental, fachlich und von Ihrer Konstitution her sicher genug fühlen, gute Entscheidungen zu treffen, die auch mal vom Standard abweichen können. Standards sind zwar wichtig, aber das Leben ist eben auch individuell.

Wir nehmen mit, es ist sportlich, aber menschenwürdige Pflege immer noch möglich?
Das würde ich so sagen. Bei uns macht den Mitarbeitenden Pflege noch wirklich Spaß und sie können sich selbst abends noch im Spiegel in die Augen schauen.

Wie passt das zu den öffentlichen Diskussionen um Pflege im Minutentakt und unhaltbare Zustände in einigen Einrichtungen?
Ich will mich wirklich nicht rühmen, aber es ist schon wichtig, dass ich als Chefin eines mittelständischen Unternehmens vor Ort bin und einen Zugang zu unseren Mitarbeiter:innen habe. Nur so ist es möglich gegenzusteuern. In Konzernstrukturen – ganz egal ob in der Wohlfahrt oder bei den privaten Akteuren – ist das so nicht gegeben. Der Vorstand ist dort weit weg. Und natürlich gibt es auch strukturelle Probleme …

… zum Beispiel?
In der Pflege stehen die Einrichtungen in den Verhandlungen einem Monopol der Kostenträger gegenüber und die Preise werden zumeist für ein Jahr festgelegt. Risiken und Gewinne bleiben weitgehend unberücksichtigt. Das führt dazu, dass plötzliche Preissteigerungen etwa bei den Benzinkosten nicht weitergegeben werden können. Das bringt die Einrichtungen in finanzielle Schieflagen.

Was schlagen Sie vor?
Ich muss die Personalkosten bis auf zwei Nachkommastellen im Cent-Bereich nachweisen, das ist absolut transparent. Also wäre es doch nur anständig mit einem Wagnis von sechs bis acht Prozent zu rechnen und wir bräuchten ganz andere Qualitätsmaßstäbe. Das, was diese gerade prüfen, hat mit Qualität wenig zu tun. Und es fehlen Anreize im Versicherungssystem.

Das müssen Sie erklären!
Aktuell bekommen der Patient mehr Geld also Leistung, wenn er einen höheren Pflegegrad hat. Kosten und Maßnahmen der Rehabilitativen Pflege werden unzureichend angereizt, was für den Patienten jedoch eine Verbesserung der Gesundheit bedeutet. Es wäre also umgekehrt richtig und müsste belohnt werden, wenn es jemand aus Pflegegrad vier in die drei schafft, oder?

Die freien Wohlfahrtsverbände waren bereits einige Male Thema. Wie ist Ihr Verhältnis zueinander?
Anfangs war es besonders schwierig, denn wir Privatanbieter wurden von den Kostenträgern genutzt, um die Preise zu senken. Ich musste immer schon identische Leistungen anbieten, wie die Wohlfahrt, habe dafür aber weniger Geld bekommen. Die Kassen waren in der Vergangenheit gegenüber den privaten Trägern nicht bereit, die notwendigen Personalkosten für Tarifverträge zu refinanzieren. Trotzdem wurde suggeriert, dass wir Private schlecht bezahlen wollen. Nur – wie blöd müsste ich sein, das in einem Wettbewerb um Personal zu tun?

Die Wohnungsgesellschaft Neuland bietet mit Partnern wie der Bettina Harms GmbH auch einen Nachbarschaftstreff an. Foto: Rainer Erhard

Wie ist die Situation heute?
Nach erheblichem Druck der Pflegeeinrichtungen hat die niedersächsische Landesregierung endlich das Problem erkannt und uns bei der Durchsetzung der Forderungen unterstützt. Und der Bund hat das Tariftreuegesetz verabschiedet. Anbieter müssen also entweder ein durchschnittliches Entgelt wählen oder sich für einen Tarif entscheiden. Wir haben den TVöD-Tarif gewählt, den höchsten, den es gibt.

Also spielen heute alle nach denselben Regeln?
Zumindest nach ähnlichen. Für die Wohlfahrt ist das nur bedingt eine gute Nachricht, denn sie konnte lange Zeit mit höheren Löhnen werben. Das ist Vergangenheit. Nun sollten die tatsächlichen Personalkosten für die Preise entscheidend sein, trotzdem gibt es für Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege in Teilen weiterhin die höchsten Vergütungen, obwohl sie teilweise deutlich geringere Tarifverträge anwenden als wir. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass steigende Löhne in der Pflege zu steigenden Kosten für die Pflegebedürftigen führen. Und wir müssen uns immer fragen, wer das bezahlen soll. Hier wünsche ich mir von der Politik insgesamt mehr Ehrlichkeit und die Rufe nach dem staatlichen Gesundheitssystem sehe ich insgesamt kritisch.

Warum?
Schauen Sie mal nach England, da ist es ein staatliches System und ich habe nicht den Eindruck, dass es dort besonders gut läuft. Der Staat kann es oft nicht besser als der Markt, das haben wir in ganz vielen Situationen gesehen. Unternehmer:innen sind schon allein deshalb mit viel Herzblut dabei, weil sie persönlich haften. Eins ist mir aber noch wichtig …

… bitte …
Die praktische Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege ist jenseits des theoretischen Spannungsverhältnisses vertrauensvoll und an der Versorgung der Menschen orientiert. Wir haben uns vernetzt, tauschen uns aus – denn wir stehen alle vor den gleichen Herausforderungen und die Kassen spielen uns weiterhin gegeneinander aus. Deshalb haben wir uns zusammengetan und klar gesagt: gleiche Pflege, gleiches Geld.

Was verdient eine Pflegekraft bei Ihnen direkt nach der Ausbildung?
Etwa 3.200 Euro Grundgehalt plus Zuschläge …

Gar nicht so schlecht, oder?
Das finde ich auch. 2011 lag der Stundenlohn in der Pflege bei 11,20, heute bei etwa 18 Euro. Das ist schon eine positive Entwicklung. Zum Vergleich: Mein Sohn ist Informatiker mit Bachelorstudium und verdient etwa so viel, wie eine Pflegekraft mit Weiterbildung bei mir.

Woran erkenne ich als Privatperson eigentlich einen guten sozialen Dienstleister?
Eine bestimmte Größe und der damit einhergehende strukturelle Unterbau helfen. Trotzdem sollte man unmittelbar an eine:n Entscheider:in gelangen, wenn es Gesprächsbedarf gibt und dann auch merken, dass sich Dinge schnell ändern. Wichtig ist natürlich auch Sympathie, funktioniert es menschlich. In der ambulanten Pflege gilt es häufig als Qualitätsmerkmal, dass dieselbe Pflegekraft zur selben Zeit kommt. So lesen Sie es auf den Internetseiten von sehr vielen Anbietern, aber das können Sie getrost vergessen – denn das geht in der Wirklichkeit gar nicht.

In der Wohnanlage „Neue Burg“ in Wolfsburg soll ein selbstbestimmtes Leben im Alter in den eigenen vier Wänden sowie bei Pflege- und Betreuungsbedarf ermöglicht werden. Foto: Rainer Erhard

Wir haben viel über die Vergangenheit und herausfordernde Gegenwart der Pflege gesprochen, schauen wir in die Zukunft: Unsere Gesellschaft überaltert zunehmend, auf welche Situation steuern wir zu?
Wir stehen am Anfang einer dramatischen Entwicklung. Ich habe ja bereits erwähnt, dass wir seit einigen Jahren nicht mehr wachsen – und das obwohl der Markt wächst. Die Mitarbeiter:innen, die ich nicht bekomme, sind nicht bloß woanders, sondern schlichtweg nicht da. Ohne Pflege- und Hilfskräfte aus dem Ausland werden wir den Notstand nicht bewältigen können.

Nun ist die Demographie eigentlich wunderbar kalkulierbar. Ist die Debatte über den Pflegenotstand mit der zur Klimaerwärmung vergleichbar? Obwohl die dramatischen Folgen schon auf der Türschwelle stehen, schieben viele das Thema weit weg, weil man selbst noch nicht wirklich betroffen scheint …
Das ist ein ganz guter Vergleich. Denn selbst wenn wir heute richtig handeln, dauert es, bis die positiven Folgen spürbar sind. Ein Ausbildungszyklus dauert drei Jahre und und obwohl wir als Unternehmen 18 Azubis haben, ist die Anzahl der Ausbildungen insgesamt für die Gesellschaft zu gering. Außerdem brauchen wir nicht nur Fach-, sondern auch Hilfskräfte. Die Pflegeausbildung ist mittlerweile ja generalistisch und auch relativ schwer geworden. Wir sehen schon früh bei einigen Auszubildenden, dass sie große Mühe mit den Anforderungen haben. Es wäre gut, ihnen einen Abschluss als Pflegehelfer zu ermöglichen.

Wie gut klappt das Recruiting im Ausland?
Es müsste viel schneller gehen. Und die Unternehmen sind völlig auf sich gestellt und auf Vermittlungsagenturen angewiesen.Dabei entstehen ernorme Kosten, ohne dass diese refinanziert werden. Hinzu kommt, dass ich mich um eine Wohnung kümmern, die Sprache beibringen, für die Integration sorgen muss. So werden wir es nicht schaffen ausreichend Personal ins Land zu holen, das hat offensichtlich auch die Bundesregierung mit ihrer Zuwanderungspolitik erkannt.

Dann mal konkret: Wie ist die Lage, wenn wir zehn oder sogar 20 Jahre so weitermachen, wie bisher?
Schon heute kennt jeder von uns Menschen, die lange nach einem Pflegeplatz suchen oder diesen nur weit entfernt finden. Aber meist gibt es eben noch Lösungen – so wie bei einem Unwetter, das vorbeizieht und hinterher wird wieder aufgeräumt. Der Klimavergleich gefällt mir (lacht). Wenn die Anbieter bei wachsendem Markt kleiner und weniger werden, wird es allerdings nicht mit Wartelisten getan sein. Dann wird es Menschen geben, die nicht mehr gepflegt werden können.

Wird es sich dann über den Preis regeln?
Aktuell gibt es ja ein Dreiecksverhältnis und Sie verhandeln nicht direkt mit dem Kunden über den Preis, sondern mit den Kassen. Aber es wäre denkbar, dass sich ein Markt für Menschen bildet, die mehr zahlen können – vergleichbar mit Privatpatienten in der Medizin.

Es gibt bereits heute viele Menschen, die sich selbst eine osteuropäische Pflegekraft organisieren …
Stimmt, das wird von der Politik toleriert, weil es wirklich viele Graubereiche gibt. Und zwar deshalb, weil sonst unser Pflegesystem längst zusammengebrochen wäre …

Was sind Ihre größten Kritikpunkte?
Dass teilweise illegale Beschäftigungsverhältnisse toleriert, Arbeitszeitgesetze und das Bezahlen von Mindestlöhnen nicht eingehalten werden, um einer real existierenden Notlage der Pflegebedürftigen irgendwie gerecht zu werden. Ganz zu schweigen von der persönlichen Not der Osteuropäischen Helfer, die häufig darunter leiden getrennt von der Familie in Deutschland in einem fremden Haushalt zu leben.

Als Gesellschaft professionalisieren wir die Pflege auch, damit die Angehörigen weiterhin arbeiten können und der Wirtschaftsmotor nicht ins Stottern gerät. Ist es für Sie denkbar, dass wir uns zukünftig wieder stärker selbst um unsere Angehörigen kümmern werden?
Auf der einen Seite sagen wir, dass wir den Anteil von Frauen in der Erwerbsarbeit erhöhen müssen, dass die Kinderbetreuung sich verbessern sollte, und dann wollen wir wieder anfangen die Eltern oder Schwiegereltern zu pflegen?

Eine Folge der Professionalisierung ist, dass Krankheit, Leid und Tod aus der Mitte der Gesellschaft verschwunden sind. Viele Menschen haben kaum Berührungspunkte mit diesen Themen …
Das stimmt und ich halte es für einen ganz großen Fehler, wenn sich Menschen nicht damit auseinandersetzen. Sie können nur gut alt werden und sterben, wenn Sie sich mit beidem beschäftigen und mit Ihrer Familie darüber reden.

Sind Sie persönlich in diesem Punkt ein gutes Vorbild?
Ich habe darüber neulich ein längeres Gespräch mit meinem Mann geführt. Er findet schon, dass ich ihn pflegen könne, wenn es irgendwann nötig sein sollte, denn ich sei ja schließlich Krankenschwester (lacht). Und ja, das kann ich mir auch vorstellen – aber es gibt Grenzen.

Welche?
Ich werde nicht seine Windeln wechseln. Er ist mein Lebens- und Sexualpartner und ich möchte auch nicht, dass er das bei mir macht. Also benötigen wir gegebenenfalls jemanden, der unterstützt. Und genau darum geht es – sehr konkret zu besprechen, was man sich wünscht und was nicht.

Gut Sterben, was braucht es dazu?
Zunächst hilft die Erkenntnis, dass wir alle sterben werden. Und wenn ich das für mich akzeptiert habe, ist es wichtig, sich mit den eigenen Unsicherheiten und Ängsten zu beschäftigen. Ich habe zum Beispiel tierisch Angst vor Schmerzen, aber ich weiß, dass sich diese heute durch Medikamente behandeln lassen. Dazu ist eine gute Fachlichkeit nötig.

Was haben Sie im Laufe Ihrer Karriere über den Tod gelernt?
Ich habe schon wirklich viele Menschen beim Sterben begleitet – und auch, wenn es wie eine Phrase klingt: so, wie man gelebt hat, stirbt man auch. Menschen, die Dinge angepackt haben, machen das auch mit dem Tod. Wer im Leben verdrängt, lässt sich auch auf den Tod nicht ein. Nur, wer das eigene Sterben tabuisiert – wie wollen Sie diesen Menschen gut begleiten?

Wir leben in einem Land mit einigen Großbaustellen. Was stimmt Sie optimistisch, dass wir die Herausforderung Pflege meistern?
Es muss klappen, weil es keine Alternative gibt. Und Innovation entsteht vor allem dann, wenn Mangel herrscht oder Druck auf dem Kessel ist. Daran fehlt es sicher nicht!

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, aus der Wirtschaft in die Politik zu wechseln, um Ihre praktischen Erfahrungen einzubringen?
Ich war einige Zeit in der Kommunalpolitik aktiv, aber das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich bin zu lösungsorientiert für die Machtkämpfe zwischen den Parteien und kann nicht sagen, dass ein Vorschlag blöd ist, nur weil er von der CDU oder der SPD kommt (lacht). Ich bin jemand, der gerne Menschen aufbaut – das ist meine Stärke.

Welche Rolle spielt Nächstenliebe für Sie?
Eine Große. Mich haben schon immer ältere Menschen fasziniert. Da sitzt jemand vor einem, der am Ende seines Lebens ganz faltig und klein zusammengefallen ist. Und plötzlich erzählt dieser Mensch, was er alles erlebt hat. Superspannend! Diese Menschen haben es einfach verdient, dass man anständig mit ihnen umgeht.

Haben Sie beruflich ein dickes Fell?
Auf jeden Fall. Das habe ich auch gerade am Anfang gebraucht, um mich durchzusetzen. Obwohl auf der Mitarbeiterebene in der Pflege überwiegend Frauen arbeiten, ist es in den Chefetagen anders. Das war nicht immer leicht.

Inwiefern?
Ich musste erst lernen, dass Männer tatsächlich anders miteinander umgehen und nicht alles persönlich zu nehmen. Es geht oft auch um den Wettkampf und zu sagen: „Okay, heute habe ich verloren, aber das nächste Mal trete ich besser vorbereitet noch einmal an.“ Ich hatte es ja mit zweierlei fremden Netzwerken zu tun, den Wohlfahrtsverbänden auf der einen und den Männernetzwerken auf der anderen Seite.

Wie ist das heute?
Man kommt nicht mehr an uns vorbei, weil wir mit unserer Arbeit überzeugen und mittlerweile auch die Größe haben. Das macht vieles einfacher.

Können Sie sich an konkrete Situationen erinnern, in denen Ihnen Männer unfair gegenübergetreten sind, weil Sie eine Frau sind?
Solche Dinge vergesse ich Gott sei Dank. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es sehr viele Situationen waren und ich für mich den Schluss daraus gezogen habe, dass es mir nicht weiterhilft, dazusitzen und rumzuheulen. Ich habe mir immer gesagt, wartet mal ab … ich komme wieder!

Bettina Tews-Harms beim Titelinterview in Wahrenholz. Foto: Holger Isermann

Rückblickend lesen sich Unternehmens- oft wie stetige Aufstiegsgeschichten. Gab es auch Tiefpunkte?
Um 2011 herum sind wir sehr stark gewachsen und musste plötzlich sehr hohe Personalkosten vorfinanzieren, obwohl die Rücklagen überschaubar waren. Im gleichen Zeitraum haben wir das Einzelunternehmen in eine GmbH umgewandelt und die Bank, bei der wir schon von Anfang an waren, hat uns wie einen neuen Kunden behandelt. Es gab also keine Zwischenfinanzierung.

Und dann?
Ich habe sehr offen mit den Mitarbeitenden geredet und das Feedback war sensationell. Da ist mir auch noch mal bewusst geworden, was ich politisch oft vermisse: Wenn man den Menschen erklärt, was das Problem ist, sind viele auch bereit, ihren Teil zur Lösung beizutragen.

Wo finden Sie einen Ausgleich zum Job?
Ich bin unheimlich gerne draußen. Morgen geht es in den Urlaub zum Wandern nach Gomera. Außerdem habe ich einen Hund, mit dem ich viel spazieren gehe. Dabei höre ich gern Podcasts, ich mag kluge Gespräche.

Auch interessant