Dr. Christian Mölling ist der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Im Interview erklärt er, warum sich Deutschland so schwer mit seiner Rüstung tut – und weshalb das Sondervermögen in Deutschlands Rüstungsschmieden nicht die Sektkorken knallen lässt …
Herr Mölling, können Sie den Status quo der deutschen Rüstungsindustrie in wenigen Sätzen beschreiben?
Leider gibt es dafür einfaches Schema. Bei den großen Herstellern gibt es seit langer Zeit Duopole. Sie haben im Landbereich Rheinmetall als Aktiengesellschaft und Krauss-Maffei Wegmann (KMW) als Familienunternehmen. Ähnlich sieht es im Marinebereich aus: Es gibt Lürssen und die ThyssenKrupp Marine Systems als große Wettbewerber. Im Bereich Lenkwaffen wäre da Diehl, die durch die IRIS-T eine gewisse Bekanntheit erlangt haben sowie das tri-nationale Unternehmen MBDA, und in der Luft natürlich Airbus als transeuropäisches Unternehmen und globaler Akteur. Deutschland ist auch gar nicht mehr in der Lage allein Flugzeuge und Hubschrauber zu bauen. Dazu kommt eine Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, wie Hensoldt oder Renk, die eine große Bedeutung haben, aber auch neue Spieler, wie Helsing, die Software entwickeln. Alle eint, dass sie Privatunternehmen sind, keine Staatskonzerne. Es gibt Beteiligungen, die sind aber die Ausnahme.
Sie haben die deutsche Rüstungsbranche als Dschungel bezeichnet, den es zu entwirren gilt …
Den Dschungel habe ich eher auf den auf den ganzen Rüstungssektor bezogen, nicht allein auf die Industrie. Zentraler Spieler ist die Regierung, die durch Gesetze und Verordnungen wesentliche Rahmenbedingungen setzt. Exportbestimmungen gibt zum Beispiel der Staat vor. Der deutsche Staat ist außerdem immer noch der größte Einzelkunde und könnte Impulse setzen. Das tut er aber nicht. Neue Rüstungsgüter zu bestellen ist aktuell so gut wie unmöglich.
Woran liegt das?
Es gab in den letzten drei Jahrzehnten ein politisches Desinteresse, diese Industrie zu gestalten. Wenn, dann ging es oft nicht um den Erhalt einer militärisch sinnvollen Industrie, sondern um den Erhalt von Arbeitsplätzen im eigenen Wahlkreis. Auf der anderen Seite haben die Ministerien der Bürokratie freie Hand gelassen. Diese haben eine immer weiter steigende Anzahl an Vorschriften geschaffen. Die Gemeinschaftsleistung aller Beteiligten ist die sinkende Verteidigungsfähigkeit.
Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz nach Russlands Invasion in der Ukraine die Zeitenwende ausgerufen. Ist davon denn noch nichts zu spüren?
Die ersten Aufträge aus dem Sondervermögen gehen an US-amerikanische Unternehmen raus. Denken Sie an das Kampfflugzeug F35 oder den schweren Transporthubschrauber CH47 Chinook. Solche Sachen stellen wir hier nicht her. Man könnte die deutsche Industrie daran teilhaben lassen, nicht nur damit sie Geld verdient, sondern damit sie technologisches Know-how behält oder weiterentwickeln kann. Dafür braucht es aber politische Steuerung.
Die Sektkorken sind also trotz der 100 Milliarden Euro noch nicht geknallt?
Im Sondervermögen sind natürlich Anteile enthalten, die an deutsche Industrie gehen werden. Zahlen liegen uns aber noch nicht vor. Zumal das Sondervermögen erstmal nur für große, langfristige Projekte vorgesehen ist, nicht für kleine Beschaffungen. Da stehen wir noch vor großen Herausforderungen.
Können Sie diese konkretisieren?
Da wäre zunächst die Versorgung der Bundeswehr. Da reden wir vom Auffüllen der Bestände an Munition oder Ersatzteilen…
… im Sommer 2022 wurden von ukrainischer Seite 6.000 Artilleriegranaten am Tag verschossen, von russischer Seite sogar 20.000 bis 30.000. Sind solche Größenordnungen unter diesen Bedingungen überhaupt stemmbar?
Wenn wir den Aussagen der Industrie glauben können, dann ja. Die Unternehmen sagen: Es müssen nur die Aufträge erteilt werden.
Warum wird nicht mit der Produktion begonnen?
In Deutschland können Sie nicht einfach anfangen Munition zu produzieren. Viele Produkte sind rechtlich betrachtet Kriegsgüter und brauchen daher Produktionsgenehmigungen. Das Problem sind weniger die Kapazitäten. Rheinmetall hat gerade in Spanien eine Munitionsfabrik gekauft und baut ein Werk für Sprengstoff in Ungarn. Die Industrie fragt, warum keine Aufträge kommen, und die Politik erteilt keine Aufträge, weil kein Geld mehr da ist.
Wie sieht der Ausweg aus?
Da sind wir im Grunde bei der größten Krux angekommen: Wir leben noch in der Friedenswelt. Die Dramatik und die Dringlichkeit, die mit der Zeitenwende formuliert worden ist, wurde nicht in politisches und vor allem bürokratisches Handeln umgesetzt. Bei Munition ist es noch vergleichsweise einfach: Die Regierung hätte an den Bundestag herantreten und um einen Nachtragshaushalt bitten können, um die Ukraine und die Bundeswehr zumindest mit Munition zu versorgen. Das ist aber nicht passiert, trotz breiter Unterstützung der meisten Fraktionen. Jetzt ist kein Geld mehr da und alle zucken mit den Achseln.
Ist Aufrüstung der deutschen Bevölkerung denn zu vermitteln?
Streitkräfte zu unterhalten ist Verfassungsauftrag, Artikel 87a des Grundgesetzes. Dazu gehört, dass man diese Armee, nämlich die Bundeswehr, auch ausrüstet. Und wenn Sie das politische Interesse haben, die europäische Rüstungskooperation zu stärken, dann müssen Sie auch selbst eine Industrie vorhalten. Ansonsten sind Sie politische und industrielle Habenichtse und können keine Kooperationsangebote machen.
Wie könnte ein solcher europäischer Rüstungssektor entstehen?
Dazu gehört ein Anteil an der nationalen Rüstungsindustrie. Staaten wie Tschechien und Belgien haben diesen, wenn auch im kleineren Maß. Dann könnte man durch Kooperation eine Art Bestandsgarantie für die kleinen Akteure geben und die Bereiche sinnvoll aufteilen: Deutschland zum Beispiel könnte Europa mit Kampfpanzern beliefern, weil wir die Produktionskapazitäten und Patente haben.
Nun fliegen die meisten europäischen Armeen amerikanische Flugzeuge, Polen kauft Haubitzen und Kampfpanzer in Südkorea. Ist es für einen europäischen Weg nicht schon zu spät?
Das müssen Sie von Sektor zu Sektor betrachten. Die IRIS-T von Diehl ist zum Beispiel sehr wettbewerbsfähig. Aber dieser Markt ist politisch. Warum kauft man amerikanische Produkte? Erstmal weil sie gut sind, klar. Aber auch, weil Sie damit hoffen, ein sicherheitspolitisches Engagement zu kaufen. Sie haben immer die beiden Akteure Staat und Industrie mit im Boot. In unserem sicherheitspolitischen Schlaraffenland Deutschland haben wir uns in den letzten 30 Jahren darüber keine Gedanken gemacht. Die Welt hat sich aber weiterentwickelt. So werden die Chancen zur europäischen Kooperation immer weniger.
Fukuyamas Ende der Geschichte ist nach dem Kalten Krieg nicht eingetreten …
… und die Folgen sehen wir gerade. Wo westliche Unternehmen sich zurückgezogen haben, sind chinesische und russische nachgezogen und haben eben nicht nur Waffen verkauft, sondern das politische Komplettpaket. Das können wir so natürlich nicht machen. Aber das ist auch ein Argument der Industrie: Wenn wir uns mit Waffengeschäften zurückhalten, verlieren wir politische Steuerungsmöglichkeiten.
Wir reden im Rüstungsbereich oft über Leuchtturmprojekte, wie das Future Combat Air System (FCAS), den Nachfolger des Eurofighters. Verwehren die Staaten sich da marktwirtschaftlicher Logik?
Europa hatte ein europäisches Trägersystem für amerikanische Nuklearwaffen. Das war der Tornado. Hätte man dessen Nachfolger frühzeitig entwickelt, müßten wir nun nicht amerikanisch kaufen. Deutschland kauft nun die F35. Die daraus folgende Abhängigkeit ist selbstverschuldet. Das FCAS kann ein Weg raus aus dieser Abhängigkeit sein.
Wie sehen das die Partner?
Zum Teil anders. Die Franzosen haben zum Beispiel weniger ein Interesse daran, ein Kampfflugzeug sechster Generation zu entwickeln, sondern mehr daran, wesentliche Teile der heimischen Industrie aufrechtzuerhalten. Das leitet sich aus dem Kern französischer Verteidigungspolitik ab: den Atomwaffen. Dementsprechend stehen auch die Unternehmen, die die französische nukleare Fähigkeit sicherstellen, im Zentrum französischer Unabhängigkeitsbestrebungen.
Deutschland dagegen steht unter dem nuklearen Schutzschirm der USA. Warum sollten wir trotzdem aus der Technologieabhängigkeit raus?
Denken Sie an Donald Trump in der Vergangenheit und eine mögliche Wiederwahl. Da wären wir in einer Abhängigkeit wohl sehr unglücklich. Wir erklären immer, was wir nicht wollen, beschreiben aber keine realistischen Alternativen. Wir feiern Europa, haben einen gemeinsamen Rüstungssektor aber unmöglich gemacht. Und die Folgen sehen wir jetzt etwa in Polen. Das Land hat kein Vertrauen in Deutschland und kauft außereuropäisch. Der Markt zersplittert, wird kleiner und die europäischen Armeen fahren zunehmend unterschiedliche Geräte.
Wie viel Verantwortung trägt Deutschland für diese Entwicklung?
Nicht die alleinige. Das hat auch etwas mit Polens sehr ambitionierten Plänen für seine eigene Rüstungsindustrie zu tun. Denn diese soll perspektivisch möglichst viel selbst bauen. Ob das realistisch ist, sei dahingestellt, aber Deutschland hat nicht mit Kompromissangeboten geglänzt. So rutschte der Markt auf einmal weg und wir blicken auf den Scherbenhaufen von 30 Jahren deutscher Inaktivität im Rüstungsbereich.
Viele deutsche Unternehmen tun sich ohnehin sehr schwer damit, mit dem Rüstungsbereich in Verbindung gebracht zu werden. Woran liegt das?
Eine große Skepsis gegenüber der Rüstungsindustrie ist Teil der gesellschaftlichen DNA in Deutschland. Es gibt keinen Konsens sie abzuschaffen, wachsen soll sie aber auch nicht unbedingt. Hinzu kommen eine Reihe von Skandalen, die zu zeigen scheinen, dass Rüstung vor allem ein Steuergrab ist.
Was sind die Folgen dieses ambivalenten Verhältnisses der Gesellschaft zur Rüstungsindustrie?
Als die Bundeswehr in den 1990er-Jahren neu ausgerüstet werden sollte, haben wir viele große Gemeinschaftsprojekte angeschoben. Den NH90, die A400M, den Eurofighter und so weiter. Die kamen dann in den 2000er-Jahren nur schlecht oder gar nicht voran. Aus der Zeit stammt der Spruch, dass die deutsche Industrie immer zu spät liefert, zu teuer ist und nicht das bringt, was gebraucht wird.
Wie kam es dazu?
Damals sind rosa Zukunftsbilder gezeichnet worden, die zugleich mindestens risikobehaftet waren. Aber viele Projekte waren auf einmal zu groß, um sie aufzugeben, zudem wollte man ja ein guter Europäer sein und mehr Unabhängigkeit von den USA. Nehmen Sie den A400M. Das war der Versuch unabhängig von amerikanischen Transportflugzeugen zu werden. Das konnte man nicht fallen lassen. Aber die Skepsis der Bundeswehrbürokratie und der Truppe gegenüber der nationalen Industrie sitzt auch deshalb extrem tief. Für die Politik wurde Rüstung zum Skandalbereich. Die Schlussfolgerung vieler Minister: Besser, man trifft keine Entscheidungen für große Projekte. Dann kann auch nichts schiefgehen.
Findet überhaupt noch ein Dialog statt?
Es gibt Unkenntnis auf politischer Seite – das Ergebnis der jahrzehntelangen Entfremdung von einem Bereich, der nichts Gutes zu sprechen hat. Die Aussagen von Politikern zum Beispiel, dass die Industrie doch einfach produzieren solle, zeugen von wenig Verständnis dafür, wie die Branche überhaupt funktioniert. Die Probleme sind oft auch atmosphärisch. Wenn wie im Winter, als die Schützenpanzer Puma ausfielen, erst einmal die Industrie verantwortlich gemacht wird, obwohl die keine Schuld daran hat, dann fördert das nicht das Miteinander. Es zeigt vielmehr unreflektierte Reflexe.
Die Lage bleibt also verzwickt?
So entsteht dieser Dschungel, von dem ich eingangs sprach. Wir haben keinen englischen Garten, in dem alles gepflegt, erkennbar und geordnet ist, sondern ein wildgewachsenes Unterholz, weil viele kleine Beete angelegt wurden, die durcheinandergewachsen sind. Andere Teile wurden wiederum komplett trockengelegt. Jetzt ist die Frage: freischneiden oder mit einem neuen Beet einen Neuanfang wagen – ohne zu wissen, ob der nächste Ministergärtner das Beet pflegen wird.