29. November 2019
Fundstücke

Traumfabrik USA

Neue Wirtschaftsdokus und -bücher im Standort38-Check

Foto: Netflix

American Factory
Netflix

In der ersten Netflix-Dokumentation, die von Barack und Michelle Obama präsentiert wird, treffen zwei Arbeitswelten aufeinander: die amerikanische und die chinesische. Die Dokumentation von Julia Reichert und Steven Bogner beginnt mit traurigen Gesichtern aus der Arbeiterklasse – Tränen fließen, als das General-Motors-Werk in Ohio geschlossen wird. Hoffnung naht, als ein chinesischer Investor dort eine neue Fabrik eröffnet, die Windschutzscheiben für Autos herstellt: Fuyao. Hier arbeiten Amerikaner und Chinesen Seite an Seite. Viele Arbeitslose erhalten wieder einen Job, die Firma gilt als neuer Hoffnungsträger der Region. Doch sehr harmonisch verläuft die Zusammenarbeit nicht: Kulturelle und sprachliche Unterschiede und zweierlei Arbeitsmoral stoßen aufeinander. Vor allem die Amerikaner leiden darunter, waren sie erst dankbar für einen neuen Job, schuften sie nun für die Hälfte des Gehalts, das von der ursprünglichen Firma General Motors ausgezahlt wurde. Unterstützung von Gewerkschaften? Fehlanzeige. Der „Vorgesetzte“, wie der Gründer Cao Dewang genannt wird und den die Chinesen wie einen König feiern, macht seine Position mehrfach deutlich: „Eine Gewerkschaft hätte eine negative Auswirkung auf unsere Leistung. Das schwächt unser Unternehmen.“ Wie Soldaten befolgen die chinesischen Arbeiter die Anweisungen des Vorgesetzten, in Reih und Glied zählen sie durch, ob alle Arbeiter anwesend sind, bevor es an die Schicht geht. Die amerikanischen Kollegen müssen sich daran erst gewöhnen. Dass es in anderen amerikanischen Unternehmen weniger gut läuft, belächelt ein chinesischer Fuyao-Arbeiter. Kein Wunder – „Ihr habt acht Tage im Monat frei, alle Wochenenden. Und ihr arbeitet nur acht Stunden am Tag. Das ist ein leichtes Leben.“ Für die Chinesen, die sich für zwei Jahre Arbeit in den USA verpflichteten, sind Zwölf-Stunden-Tage hingegen normal – ihre Familien leben meist in ihrem Heimatort, besuchen können sie diese oft nur einmal im Jahr. Die Dokumentation lässt das Bild des amerikanischen Traums bröckeln. Aus Angst vor Jobverlusten schuften die Arbeiter weiter und weiter – für wenig Geld und mit dem Wissen, dass der Job an Körper und Geist nagt. Das Ende des Films zeigt die Hoffnung der Konzerne für die Zukunft, die für die Arbeiter kaum eine schlechtere sein könnte: Roboter, die nach und nach die Mitarbeiter ersetzen sollen.

Foto: ZDF/Martin Kaeswurm

Schattenmacht BlackRock
ZDF Mediathek
Verfügbar bis 15.1.2020

Geld regiert BlackRock – BlackRock regiert die Welt. Der amerikanische Finanzinvestor BlackRock ist mit über sechs Billionen Dollar die weltweit größte Investmentfirma. Viel Geld bedeutet viel Macht – „BlackRock ist eine extrem gefährliche Firma“, heißt es zu Beginn der Dokumentation. Als Folge des Zusammenbruchs der Investmentbank Lehman Brothers im Jahr 2008 ist das Vertrauen in Banken gesunken. Auf der anderen Seite ist jedoch das Vertrauen zu großen Investmentfirmen stärker geworden – BlackRocks Chance. Schaut man auf die Geschichte der Firma, wird schnell klar, dass sie an viel Macht verfügen: Als Großaktionäre bei Facebook, Siemens, Apple, Microsoft und vielen weiteren großen Unternehmen und mit Kontakten zum Finanzminister und dem Staatschef stehen BlackRock die Türen zur Wirtschaftswelt offen. Ihr großer Einfluss und die angewandte Wirtschaftsweise bringen BlackRock nicht nur noch mehr Macht und Geld, sondern sorgen gleichzeitig dafür, dass sich der Finanzmarkt negativ verändert: Preise steigen – Menschen leiden. Ein Teufelskreis, der mit dem zunehmenden Erfolg der Firma nicht aufzuhören scheint.

Moonshots for Europe
Harald Neidhardt
futur/io

„We choose to go to the moon in this decade and do the other things, not because they are easy, but because they are hard, because that goal will serve to organise and measure the best of our energies und skills“, zitiert Harald Neidhardt, CEO und Curator Futur/io Institute, den ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy aus dem Jahr 1962. Die Landung auf dem Mond schien damals noch fern, doch Kennedy verfolgte das Ziel hartnäckig – und hatte Erfolg. Diesem Prinzip entspringt der Moonshots for Europe-Gedanke des Futur/io, dem European Institute for Exponential Technologies & Desirable Futures. Denn Neidhardt und sein Team glauben an eine Zukunft Europas, in der Unternehmen das volle Potenzial der zunehmenden Technisierung ausschöpfen. Wie? Mit dem Prinzip des Moonshot-Thinkings. „Moonshots for Europe call for visionary leadership in the next decades.“ Auf rund 260 Seiten gibt das Buch einen Einblick in die Historie des Moonshot Thinkings und erklärt anschaulich mit vielen prominenten Beispielen, wie Unternehmen das Prinzip umsetzen und so die Zukunft Europas gestalten können. Das Buch motiviert, nach den Sternen zu greifen – oder vielmehr einen Moonshot zu wagen.

Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird.
Patrick Bauer
Rowohlt

Diese berühmten Zeilen sang Rio Reiser im Oktober 1988 in der damaligen DDR – und wird grölend von seinem Publikum begleitet. Ein Jahr später planen rund 800 Theaterschaffende im Deutschen Theater die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration. Am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Fall der Mauer, stehen geschätzt 500.000 Menschen auf dem Alexanderplatz. 26 Redner sprechen an diesem Tag zu den Massen. Darunter Künstler, Studierende, Kirchenleute und Parteikader wie Günter Schabowski, Christa Wolf, Jan Josef Liefers und Gregor Gysi. Auf bunten Plakaten werden Politiker und die Stasi geschmäht und eine demokratischere Gesellschaft gefordert. Es geht um die Zukunft der DDR, die zu dieser Zeit am Ende zu sein scheint. Doch um eine Wiedervereinigung geht es nicht. „Dass diese Geschichte auf ein neues Kapitel zusteuert, ahnen, hoffen oder fürchten zu diesem Zeitpunkt alle, die an diesem Tag dabei sind. Dass diese Geschichte bald darauf beendet sein wird, ahnt dagegen niemand“, schreibt Patrick Bauer im Epilog. Auf 368 Seiten erzählt der Journalist von den Erinnerungen und Gedanken der damaligen Redner und weiterer Beteiligter vom Alexanderplatz – vor und nach der Wende. Das Buch endet im Juli 2019 und zeichnet ein eindringliches, fast intimes Bild von den Menschen, die damals träumten – aber eben doch nicht so weit voraus. Die Zeit nach dem 4. November beschreibt Schauspieler Tobias Langhoff so: „Da war ein Zug, der sehr lange gestanden hatte. Nun war er langsam in Bewegung gekommen, und dann, am 9. November, raste von hinten eine D-Lok an und schob den Zug schnell an, dass er entgleiste.“ Lesenswert.

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