Das erste Mal seit der Finanzkrise drohen, vom ersten Corona-Jahr 2020 einmal abgesehen, Deutschland und die EU in eine flächendeckende Rezession zu rutschen. Entsprechend sieht die Stimmung auch in der Wirtschaftsregion zwischen Harz und Heide aus. 2023 kann für die Wirtschaft ein Fischen im Trüben werden. Doch Ökonomen prognostizieren Licht am Ende des Tunnels.
Pandemie, Krieg, Energiekrise

Das Jahr 2022 war von Umbrüchen geprägt. Die fordern den Prognosen namhafter deutscher Wirtschaftsinstitute, internationaler Organisationen und Regierungsinstitutionen zufolge ihren Tribut: Lediglich der Internationale Währungsfonds und die Bundesregierung blicken schwach optimistisch auf das Wirtschaftsjahr und rechnen mit einem leichten Wachstum für das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Das Gros der Prognosen bewegt sich zwischen Stagnation und Rezession, geht von einem Negativwachstum zwischen -0,1 bis -0,75 Prozent aus. Auf eine Depression steuert Deutschland demnach nicht zu. Im Gegenteil: Die Institute sehen Licht am Horizont.
Das ifo Institut für Wirtschaftsforschung etwa geht davon aus, dass die Inflation ihren Gipfel bereits überschritten hat. Laut ifo-Jahresprognose soll die Teuerungsrate 2023 auf 6,4 Prozent sinken und sich 2024 bei 2,8 Prozent einpendeln. Damit würde sich der Wert den zwei Prozent annähern, die die Europäische Zentralbank (EZB) als Stabilitätsziel im Jahr 2021 ausgegeben hat. Auch die Rezession soll laut des Instituts auf 2023 beschränkt bleiben: 2024 rechnen die Ökonomen erneut mit einem leichten Wachstum von 1,6 Prozent.
Wachstumsprognosen für die Entwicklung des deutschen Bruttoinlandsprodukts 2023
- Bundesregierung: 0,40%
- EU-Kommission: -0,60%
- IWF: 1,50%
- OECD: -0,30%
- Bundesbank: -0,50%
- Sachverständigenrat Wirtschaft: -0,20%
- Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute: -0,40%
- ifo: -0,10%
- ifw kiel: 0,30%
- Institut für Wirtschaftsforschung Köln: -0,75%
- Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut: -0,50%
- iwh Halle: 0,00%
- Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung: -0,30%
- RWI Essen: -0,10%
VW rechnet mit Preisanpassungen
Viel Wind um nichts für die regionale Wirtschaft also? Der Volkswagen Konzern zumindest blickt mit gemischten Gefühlen auf das neue Jahr. Durch Inflation, hohe Energiepreise am Verbrauchermarkt und das Ende der Niedrigzinspolitik der EZB, so erklärte der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen Financial Services Christian Dahlheim im Dezember gegenüber der dpa, würden potenzielle Kund:innen vom Kauf eines Neuwagens abgeschreckt. Das Geschäft mit Fahrzeugen frisch aus der Fabrik könnte also leiden. Gebrauchtwagen dagegen, so VW-Vertriebschef Anthony Bandmann, könnten wieder eine größere Rolle spielen. Das Preishoch der letzten Jahre würde enden, Bandmann rechnet sogar mit sinkenden Kosten am Gebrauchtwagenmarkt.

Volkswagen hofft, mit dem Absatz von Jahreswagen aus dem Leasing und dem Mietgeschäft temporär die gröbsten Einbußen im Neuwagengeschäft auffangen zu können. Nichtsdestotrotz schrumpfe die Zahl der abgeschlossenen Finanzierungsverträge bei VW Financial Services und damit ein wichtiger Indikator für den tatsächlichen Absatz. Bislang sei durch den ungewöhnlich hohen Wert von Gebrauchtwagen auch der Abschluss höher bewerteter Finanzierungsverträge für VW-Kund:innen möglich gewesen. Das drohe nun wegzufallen. Am Ende, so VW-Finanzchef Frank Fiedler, könne der zweitgrößte Autokonzern der Welt wegen der wackligen Konjunktur keine belastbare Prognose für 2023 wagen. Sicher sei nur das Risiko, glaubt Fiedler: „Alles wird teurer. Es wird nicht gelingen, dass man das alles durchpreist.“
Bürokratie als Rezessionstreiber?
Ähnlich blicken die regionalen Verbände auf das laufende Jahr. Florian Bernschneider, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Braunschweig, prognostiziert auch 2023 signifikant steigende Arbeitslosenzahlen. 2023 würde von Abschwung und Fachkräftemangel gleichzeitig geprägt: „2023 wird eine Entkopplung von Arbeitsmarkt und Wirtschaftsentwicklung unterstreichen; heißt: Wir erleben Arbeiterlosigkeit trotz möglicher Rezession.“ Tatsächlich scheint der Arbeitsmarkt trotz drohender Rezession weiterhin überhitzt zu bleiben. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, waren Ende 2022 noch 1,8 Millionen Stellen bundesweit nicht besetzt, im Berichtsbereich der Bundesagentur für Arbeit Wolfsburg-Helmstedt wuchs die Zahl der offenen Stellen bis Dezember 2022 um 13,7 Prozent auf 821.
Bei den Familienunternehmer:innen löst die gesamtwirtschaftliche Lage Skepsis aus. Laut Werner Bösemann, Regionalvorsitzender des Bundes der Familienunternehmer, rechnen 40 Prozent seiner Verbandsmitglieder mit einem Wachstum für 2023. Es sind allerdings nicht Energiekosten und Inflation, die Sorgen bei den Mittelständlern füttern. Bösemann gibt an, dass besonders die zunehmende Bürokratie durch Berichtspflichten als wachsendes Problem betrachtet wird: „Die Politik verspricht Bürokratieabbau, aber die Anforderungen steigen. Entsprechend reduzieren Unternehmen Investitionen oder investieren in Regionen mit besseren Standortbedingungen.“
Industrie- und Handelskammern mit gemischten Gefühlen
Die Industrie- und Handelskammern in Braunschweig und Wolfsburg fangen ein anderes Bild ein. In ihrer gemeinsamen Studie zur Stimmung in der regionalen Wirtschaft blicken sie auf ein, gemessen an den Erwartungen, erfolgreiches Jahresende 2022. „Nach den enormen Belastungen durch die Coronapandemie und die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine hat sich die Stimmung der regionalen Wirtschaft zum Winter hin stabilisiert“, erklärt IHK-Konjunkturreferent Berndt von Conradi von der IHK Braunschweig die Situation. Laut den von den IHK gesammelten Daten, lagen die tatsächlichen Geschäftszahlen in der Region teils deutlich über den Erwartungen der Befragten.

Der Blick auf die Geschäftserwartungen trübt den leicht optimistischen Blick auf 2023. 39 Prozent erwarten ein schlechteres Geschäft als im Vorjahr, rund zwölf Prozent blicken optimistisch in die Zukunft. Die Investitionserwartungen dagegen bleiben positiv: Fast ein Drittel der Befragten wollen mehr investieren als im vorherigen Geschäftsjahr. Hinsichtlich der Bewertung der aktuellen Geschäftslage und den Einstellungsabsichten rechnet mehr als die Hälfte der Entscheider:innen mindestens mit einer Stagnation. Die Lage bliebe schwer prognostizierbar, sagt auch von Conradi: „Die schlimmsten Befürchtungen, die im Herbst Ängste vor einer massiven Rezession geschürt hatten, haben sich bisher nicht bewahrheitet. Dennoch bleiben erhebliche Abwärtsrisiken präsent und drücken auf die geschäftlichen Perspektiven für 2023.“

Für die vom Export abhängige Industrie in der Region kann dabei die Weltlage zum Entscheidenden Faktor werden. Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine geht derzeit unvermittelt weiter und die Lieferketten bleiben durch eine ungewohnt schwierige Lage in China unter Druck. Zumindest die Erdgaspreise am Großmarkt sind laut Bundesnetzagentur bis Januar 2023 wieder auf das Niveau des Vorjahresmonats gefallen und damit auf Vorkrisenlevel. Das durch die Zerstörung von Nord Stream 1 ausbleibende russische Gas wird zunehmend durch andere Quellen ersetzt. Insbesondere Belgien, die Niederlande und Norwegen haben sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes seit Beginn des Winters als Deutschlands wichtigste Gasexporteure etabliert. Wie nachhaltig diese Preisentspannung ist, bleibt jedoch abzuwarten.
Auch inwieweit die gesunkenen Energiepreise letztlich an Verbraucher:innen in Haushalten und Unternehmen weitergegeben wird, ist noch offen. Laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft waren im zweiten Halbjahr 2022 trotz sinkender Preise Beschaffung, Netzentgelt und Vertrieb die größten Kostentreiber beim Strom für die Industrie. Die Weitergabe des gesunkenen Großmarktpreises wird wohl mittelfristig möglich sein, wie verschiedene Energieunternehmen angeben. Ob diese Entlastung rechtzeitig kommt, um die optimistischen Prognosen für 2024 zu stützen, kann ohne den Blick in die Glaskugel nicht gesagt werden.
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