21. November 2022
Impulse

Ankommen leicht gemacht

Wie ein Start-up Menschen von Braunschweig überzeugt

Vivienne Rentz und Jonas Seger sind Gründer des Start-ups Welcome Home Braunschweig

Die 24-jährige Vivienne Rentz kommt gebürtig aus der Region. Ihr Partner Jonas Seger (27) ist vor einem Jahr aus der Nähe von Darmstadt nach Braunschweig gezogen und hatte die allseits bekannten Probleme, als Zugezogener in einer unbekannten Stadt anzukommen.
Das Paar hat festgestellt, dass die fehlende soziale Anbindung gerade im Alter von 20 bis 35 Jahren nicht selten dazu führt, dass Berufstätige sich in ihrer neuen Umgebung nicht wohlfühlen. Um diesem Problem entgegenzuwirken und Firmen eine Chance zu bieten, ihre Mitarbeitenden langfristig in der Region zu halten, haben die beiden Gründer:innen das Start-up Welcome Home Braunschweig gegründet. Ihr Ziel: berufstätige Neuankömmlinge in Braunschweig sozial vernetzen. „Wir wollen Onboarding auf ein neues Level heben und eine langlebige Community aufbauen, in der man sich schnell zugehörig fühlt“, beschreibt es Vivienne.
Ihre Kund:innen sind nicht die Zugezogenen selbst, sondern die Unternehmen. Von ihnen wird das Programm finanziell unterstützt, um den neuen Mitarbeitenden neben der Arbeit auch eine soziale Verbundenheit zur Stadt zu ermöglichen.
Das gleichnamige Programm ist im September 2022 zum ersten Mal mit elf Teilnehmenden aus drei verschiedenen Unternehmen gestartet, die in Braunschweig willkommen geheißen werden sollen. Über einen Zeitraum von sechs Wochen werden bei jedem Termin neue Orte, regionale Vereine, Initiativen und Menschen vorgestellt. „Wir haben gemerkt, dass Tinder und Co. für viele nicht der geeignete Weg sind, um sich ein soziales Netzwerk aufzubauen. Mit dem Programm wollen wir die Menschen auf die „altmodische” Art zusammenbringen – nämlich persönlich, nicht virtuell.“

Hinter den Kulissen im Malort.

Jeder und jedem, der schon mal von Berufswegen aus in eine andere Stadt gezogen ist, muss nicht erzählt werden, wie schwer es sein kann, in einem neuen Zuhause anzukommen. Insbesondere, wenn außer der Arbeit nichts anderes auf einen wartet. Eine Vollzeittätigkeit lässt oft kaum Zeit, eigenen Interessen und Hobbies in der Freizeit nachzugehen. So großartig die Kolleginnen und Kollegen im Job auch sein mögen – bis sich die beruflichen Beziehungen aus dem Büro hinaus zu freundschaftlichen Kontakten entwickeln, braucht es seine Zeit. Und selbst dann stecken viele noch immer in der Work-Bubble fest, wo es schwerfällt, den Arbeitsalltag auszublenden und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.

Jedes der Treffen fand in einem anderen Viertel statt.

Flucht in die Heimat

Social networking ist genau das, was bei vielen Zugezogenen ein Problem darstellt – und die Corona-Pandemie war dabei keine Hilfe. Sich unter Menschen zu mischen oder Freizeitvereinen anzuschließen war lange Zeit nicht möglich. In einer neuen Stadt stellen sich dann Fragen wie: Wie lerne ich Leute kennen? Was kann ich in der Stadt allein unternehmen? Was mache ich am Wochenende? Und solange diese Fragen nicht beantwortet werden können, flüchtet man in der freien Zeit lieber wieder in die alte Heimat, zu den Freunden oder der Familie, Hauptsache weg aus dem Ort ohne Anschluss.
Ich selbst kenne diese Flucht nur zu gut. So bin ich als gebürtige Bonnerin während meiner Studienzeit in Düsseldorf, die stark von der Pandemie beeinträchtigt wurde, bei jeder Gelegenheit geflüchtet. Anstatt eines Zuhauses wurde Düsseldorf für mich der Ort für Uni und Arbeit. Wochenenden, Ausgehen, Spaß haben und meine sozialen Kontakte pflegen – dem bin ich anderswo nachgegangen. Im Umkehrschluss war es wenig überraschend, dass ich noch vor der virtuellen Zeugnisvergabe meine Wohnung gekündigt und so schnell wie möglich die Stadt verlassen habe, denn sie hat in den dreieinhalb Jahren nichts für mich getan. Und eins konnte ich feststellen: Ich bin nicht die Einzige, der es so geht.

Tanzen statt Tinder: Beim Let’s Dance e.V. durften die Teilnehmenden ihr Rhythmusgefühl testen.

Willkommen zuhause!

Nun ist Braunschweig von Bonn jedoch so weit entfernt, dass ich nicht jedes Wochenende Geld und Nerven aufbringen kann, um die knapp 400 Kilometer für anderthalb Tage Freunde und Familie hinter mich zu legen. Und das muss ich zum Glück auch nicht. In Braunschweig ist der Anschluss nämlich wesentlich besser geglückt als meine bisherigen Erfahrungen es mich haben vermuten lassen. Das liegt nicht zuletzt an Vivi Rentz und Jonas Seger. Denn die beiden haben mit ihrem Start-up das Welcome Home Braunschweig-Programm ins Leben gerufen und bieten Antwort auf die Fragen, die sich Neuankömmlinge stellen.
Als meine beiden Volontärskolleginnen und ich, allesamt von außerhalb zugezogen, ein paar Wochen vor Arbeitsantritt bei der Funke Mediengruppe die Mail erhielten, dass wir zu einem sozialen Onboarding-Programm angemeldet wurden – ich will nicht lügen – waren wir skeptisch. Insbesondere, weil das Projekt für einen Zeitraum von sechs Wochen angesetzt war und die Termine außerhalb der Arbeitszeiten stattfinden sollten. Das bedeutet eben, einen Tag pro Woche die Freizeit herzugeben für ein Treffen mit fremden Menschen, die alle neu in der Gegend sind. Nach und nach schwand unsere Skepsis aber und wandelte sich zu Neugier. Denn das Programm für die kommenden Wochen sah tatsächlich sehr vielversprechend aus. Nun musste bloß noch die Gesellschaft stimmen: Wir hofften auf entspannte Stimmung und ungezwungene Unterhaltungen – und wurden nicht enttäuscht.

Soziales Malen statt Sozialer Medien

Arbeitsbedingt – wie sollte es anders sein – konnte ich nicht an jedem der Termine teilnehmen. Dass ich das als schade empfinden würde, hätte ich im Vorhinein nicht gedacht. Doch schon vor dem ersten Treffen konnte ich in Form eines Willkommenspakets mit Kleinigkeiten aus den lokalen Boutiquen und Cafés erkennen, das hinter der Idee sehr viel Aufwand, Empathie, Erprobung und Liebe zum Detail steckte. Beim ersten Event bot das Start-up uns neben dem gegenseitigen Kennenlernen der Teilnehmenden eine Kultviertel-Tour durch den Kiez von Braunschweig, bei dem wir nicht nur die belebten Ecken und besondere Empfehlungen, sondern auch die Lokalitäten entdecken durften, von denen das Willkommenspaket zusammengestellt wurde.
Das nächste Event war etwas sportlicher – ein Tanzkurs beim Let’s Dance e.V. Vivienne und Jonas organisierten einen Crashkurs im Lindy Hop und Cha-Cha-Cha für Beginner, bei dem trotz unterschiedlichster Vorerfahrung im Tanzen alle Anwesenden großen Spaß hatten. Der nächste Programmpunkt folgte die Woche darauf, ein Traum aller kreativen Köpfe: intuitives Malen im Malort im Magniviertel. Was von meiner Kollegin wie Meditation empfunden wurde, war für mich der perfekte Ort, um das innere Kind freizulassen. Die Veranstaltungsorte selbst waren schon eine Erfahrung wert, letztendlich aber zweitrangig. Im Fokus der Abende stand die Gemeinschaft. Die Teilnehmenden waren geprägt von Vielfalt – sie vereinten unterschiedlichste Herkünfte, Berufe, Altersklassen und Lebensphasen, die sie nun binnen des letzten Jahres in die Stadt Braunschweig geführt haben. Jeder Austausch war angeregt, lustig, interessant. Die Events fanden bislang immer in einem anderen Viertel statt, bei einem anderen Verein, mit anderen Ortskundigen, verbunden mit Zeit für Gespräche untereinander, Catering oder noch einem Gang in die lokale Gastronomieszene.

Soziales Malen statt Sozialer Medien: Ein Event fand beim Malort im Magniviertel statt, wo die Teilnehmenden sich künstlerisch ausleben durften.

Gekommen, um zu bleiben

Die Idee des Programms bewährt sich. Nicht nur habe ich die Stadt innerhalb der wenigen Wochen auf eine Art kennengelernt, wie ich es ohne die Begleitung vermutlich nie getan hätte, ebenso füllt sich meine To-Do-Liste mit Aktivitäten in der Region, die mir ans Herz gelegt wurden, sowie Vereinen, die ich erneut besuchen möchte. Außerdem haben die ersten Kontakte es bereits aus dem Welcome-Home-Gruppenchat in den privaten Chat geschafft. Mit Blick auf das Abschlussevent kann ich schon sagen, dass mir das regelmäßige Treffen unter der Woche fehlen wird. Und mit den vielen neuen Kontakten, Ortskenntnissen und Empfehlungen stellt sich mir bloß noch die Frage, warum es ein solches Willkommen nicht in jeder Stadt gibt.

Willkommen an Bord!

 

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