25. Oktober 2022
Impulse

Bildung muss Niveau haben

Es sind ganz unterschiedliche Geschichten, die Bildungsmanager und Coach Samir Roshandel sowie Autor Volker Schulz mit Salzgitter verbinden. Wir haben uns mit ihnen zum Gespräch über Netzwerke, Bildung und lebensverändernde Entscheidungen getroffen …

Bei einer Veranstaltung für Unternehmer lernten sich Volker Schulz und Samir Roshandel kennen. Im Gespräch mit Unser Salzgitter tauschten sie sich über Bildungsförderung, Mut und Netzwerke aus. Foto: Gesa Lormis

Herr Roshandel, was sind die Bildungshelden?
Roshandel: Die Bildungshelden gibt es fünf Mal in Salzgitter, in Kassel entsteht ein weiterer Standort. Wir helfen Kindern aus Familien, die sich kein Nachhilfeangebot leisten können durch kostenfreien Unterricht.

Warum ist das wichtig?
Roshandel: Wir haben in Deutschland drei Millionen Kinder, die von Bildungsarmut betroffen sind. Und die Pandemie hat Armut verstärkt. Das betrifft sowohl Familien mit deutschen Wurzeln – oft Hartz4-Empfänger, die sich nicht um ihre Kinder kümmern – als auch Menschen mit Migrationshintergrund und Eltern, die selbst noch nicht gut Deutsch sprechen und zum Teil aus ländlichen Räumen kommen, in denen Bildung keine so große Rolle spielt.

Was bedeutet das?
Roshandel: In den ländlichen Räumen, aus denen sie kommen, gibt es intakte Gemeinschaften. Wir dagegen leben in einer Gesellschaft – wer seine Beiträge beim ADAC bezahlt, kann dafür eine bestimmte Leistung erwarten. In einer Gemeinschaft rufen sie ihren Nachbarn oder einen Verwandten an, der hilft. Unser System, dass eines auf das andere aufbaut, müssen sie erst lernen. Aber Schulen können diese Art der Aufklärung nicht zusätzlich leisten. In Salzgitters Grundschulen haben wir keine umfängliche Unterrichtsabdeckung. Deswegen sehen wir das als unsere Aufgabe. Meine Kolleg:innen können das richtig gut, ich bin eher im Hintergrund und kümmere mich um Fördergelder.

Schulz: Wie alt sind die Kinder, die hierherkommen?

Roshandel: Von der 1. bis zur 13. Klasse. Aber ich würde sagen, 70 Prozent sind Grundschüler.

Wie viele Kinder bekommen hier Nachhilfe?
Roshandel: Momentan haben wir insgesamt rund 350 Kinder, hier in der Berliner Straße sind etwa 60 Kinder.

Ist Nachhilfe eigentlich der richtige Begriff?
Roshandel: Wir versuchen, davon wegzukommen. Nachhilfe bedeutet oft, dass mit den Kindern eine Aufgabe geübt wird. Aber es bringt nichts, ihnen Lösungswege beizubringen, wenn sie den Weg dahin nicht verstanden haben. Deswegen starten wir immer mit einer Lernstandsanalyse und arbeiten daran, Lücken zu schließen.

Und der Unterricht ist für die Kinder kostenfrei?
Roshandel: Ja, das gehört zum Geschäftsmodell. Besondere Projekte wie diese Bilder an den Wänden, bei denen syrische Kinder Friedensmotive für ukrainische Kinder gemalt haben, realisieren wir über das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Der Unterricht wird meistens über die Finanzmittel Bildung & Teilhabe finanziert. Viele betroffene Familien und Lehrer der Kinder wissen aber gar nicht, dass es das gibt …

… und was man damit machen kann …
Roshandel: Genau, das ist alles kein Selbstläufer, die Buchhaltung ist enorm. Die Eltern müssen erst einen Antrag von der Lehrkraft ausfüllen und unterschreiben lassen, die Schulleitung muss es ebenfalls unterschreiben, dann muss es zur Prüfung ans Jobcenter und dann muss noch der Bescheid, den die oft nicht deutschsprechenden Familien bekommen, zu uns. Das dauert oft mehrere Monate.

Schulz: Was hat das Jobcenter damit zu tun?

Roshandel: Die Mittel für Bildung & Teilhabe stehen Hartz4-Empfängern zu, dafür ist das Jobcenter zuständig. Bekommt die Familie Wohngeld oder ähnliches, ist die Stadt zuständig. Leider sind unsere Vorschläge, den Prozess zu vereinfachen, bisher abgelehnt worden. Dafür können die Mitarbeitenden nichts, die wollen auch das Wohl der Kinder, aber das System ist … kompliziert.

Schulz: Wahnsinn. Und das auf Kosten der Kinder.

Roshandel: Wir unterrichten die Kinder oft bevor alles genehmigt und finanziert ist. Bei der Stadtverwaltung und dem Jobcenter bin ich nicht der beliebteste – aber wenn wir heute nicht in die Kinder investieren, wundern wir uns in zehn Jahren über schlechte Schulabschlüsse, Fachkräftemangel und Jugendkriminalität.

Woher kennen Sie beide sich eigentlich?
Schulz: Meine Frau hat hier in der Nähe ein Unternehmen – manchmal helfe ich dort aus – wir sind beide für den Verein „Wir helfen Kinder“ aktiv, dazu ist sie bei den LionSZ. Bei einer Veranstaltung habe ich vor kurzem Samir kennengelernt.

Roshandel: Und wir haben uns sofort super unterhalten! Deine Geschichte, wie du zum Schreiben gekommen bist, enthält so viel Mut. Mut, den wir alle viel mehr brauchen.

Inwiefern?
Schulz: Zum Schreiben bin ich erst 2005 gekommen. Vorher war ich jahrelang in leitenden Funktionen in verschiedenen Industrieunternehmen tätig, hatte ein gutes Gehalt, Firmenwagen und bin um die Welt gejettet. Das fand ich alles total toll. Das Umdenken kam erst mit 44 oder 45 Jahren: Will ich dieses Leben tatsächlich? Nein! Ich bin bewusst aus dem Hamsterrad ausgestiegen.

Und seitdem sind Sie Romanautor?
Schulz: Nicht ganz. Gemeinsam mit einem Geschäftspartner habe ich mich im Bereich Breitensportförderung selbstständig gemacht, aber habe nebenbei geschrieben. Mittlerweile bin ich beim Rowohlt-Verlag unter Vertrag; habe dort sechs Bücher veröffentlicht und arbeite gerade an dem Konzept einer neuen Serie. Aber anfangs hätte ich nie gedacht, dass ich 2019 ausschließlich Thriller-Autor sein könnte. Vielmehr hat der Prozess des Aussteigens einen Dominoeffekt ausgelöst: Ein Stein nach dem anderen fiel und glücklicherweise in eine positive Richtung.

Weil Sie jetzt Vollzeit einer Leidenschaft nachgehen können?
Schulz: Ich habe mich verändert. Ich bin offener und emotionaler geworden, habe meine Frau kennengelernt, wir sind Eltern geworden. Dieser Moment, so ein kleines Kind im Arm zu halten, hat mich nochmal komplett umgekrempelt.

Aber Sie kommen aus der Industrie, sind kein Ermittler. Wie schaffen Sie es, dass Ihre Figuren und Szenarien authentisch sind?
Schulz: Mein Ziel ist es, dass Fachleute beim Lesen nicken und sagen „Ja, das könnte so ablaufen“. Dafür habe ich mir Netzwerke aufgebaut – es geht nichts über Expertenwissen. Dafür rufe ich auch mal die Oberstaatsanwaltschaft, das Bundeskriminalamt oder Forschungsinstitute an. Die sind manchmal irritiert, aber wenn sie merken, dass ich es ernst meine, entsteht ein toller Austausch.

Roshandel: Und da sehe ich Überschneidungen zum Unternehmertum! Wer mit seinem Unternehmen vorwärtskommen möchte, muss auf Menschen zu gehen. Netzwerke aufbauen. Das braucht etwas Mut, aber es ist der Wahnsinn, wie hilfsbereit Menschen sind, wenn man sie richtig anspricht.

Spielen denn Netzwerke für die Bildungshelden eine große Rolle?
Roshandel: Ja, sehr. Ich bin ja überall schon drin – an der TU, habe Kontakte zur Ostfalia und verschiedenen Unis. So haben wir viele helfende Kontakte und erste Coaches gefunden.

Bereitet unser Schulsystem ausreichend darauf vor, selbst ein Unternehmen zu gründen und zu führen?
Roshandel: Wir haben in Niedersachsen verschiedene Programme, um das Thema Entrepreneurship in den Schulen zu platzieren. Das ist meine Aufgabe. Eigentlich müssen wir bereits die Lehramtsstudierenden dafür sensibilisieren – die gehen nach der Schule an die Uni und wieder zurück an die Schule. Sie kennen die Wirtschaft nicht, aber sollen Kinder dafür ausbilden. 75 Lehrkräfte nehmen gerade an einem Programm zur Qualifizierung teil.

Was lernen sie dort?
Roshandel: Es gibt zwei große Bausteine beim Thema Gründen: Einmal Psychologie und das Methodenwissen. Gute Ideen werden oft nicht umgesetzt, weil wir Angst haben, ein bestehendes Leben dafür aufzugeben. Aber wer sich die Biografien von Menschen anschaut, die Geschichte geschrieben haben, sieht: Für alles, was sie aufgegeben haben, kam etwas Besseres.

Es geht also darum, Mut zu vermitteln.
Roshandel: Genau. Ein weiteres Thema, dem ich mich widme, ist das Thema Migrant Entrepreneurship, also Gründungen von Einwanderern. Wer im Schlauchboot übers Mittelmeer kommt, hat keine Angst vor unternehmerischen Risiken. Aber wir müssen dahin kommen, dass es nicht der fünfzehnte Dönerladen wird. Wir haben doch so viele gut aufgestellte Unternehmen, die einen Nachfolger suchen. Beide Seiten müssen sich dessen aber noch bewusst werden.

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