12. Juni 2017
Management & Trends

„This Game is over!“

Andreas Weigend war Chief Scientist bei Amazon und unterrichtet heute an der Universität Berkeley. Von den Erfahrungen im Silicon Valley und dem Win-win-Game im Internet erzählt er in seinem Buch Data for the People. Standort38 hat als erstes deutschsprachiges Medium nachgefragt

Weigend ist Experte für mobile Technologien, Big Data und Kundenverhalten. Foto: Murmann


Herr Weigend, Sie waren Chief Scientist bei Amazon. Wie stark haben Sie persönlich das Unternehmen geprägt und auf die Datenspur gebracht?

Ich habe einiges ins Unternehmen eingebracht. Vor allem bei der Mentalität: wie wir Daten sammeln und welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen. Da hat mir mein Hintergrund als Physiker geholfen. Zu diesen Themen habe ich mich damals wöchentlich mit Jeff Bezos ausgetauscht und wir haben viele Brücken zu anderen Disziplinen geschaffen – zum Beispiel zur Kognitionspsychologie. Am Ende war es das Ziel, unsere Ideen an Millionen von Kunden auszuprobieren. Dafür benötigen Sie auch viel Domain-Knowledge und Wissen im Bereich Algorithmen.


Ging es in erster Linie darum, die Menschen zu verstehen oder, sie zu lenken?

Mir ging es immer um das Verständnis. Schon während des Studiums bei Terry Winograd in Stanford habe ich ein Essay mit dem Titel „Unterstanding understanding“ geschrieben. Die spannenden Fragen sind für mich, was die Achsen oder Dimensionen und die Werte oder Missionen sind, die zu einer menschlichen Entscheidung führen. Diese sollten aber weiterhin dem Kunden überlassen werden.


Was war damals Ihr Job?

Unter anderem die Methodologie hinter dem Unternehmen Amazon aufzustellen. Das Ziel war ein Handbuch, das zeigt, welches Bild wir von unseren Kunden haben. Dabei ging es um Ermächtigung für den Menschen als Teil der Gesellschaft, andererseits auch um eine Handlungsanweisung für Unternehmen, damit sie nicht Daten absaugen und dieses verschleiern, sondern sich als Datenmanufaktur positiv absetzen – und zwar nicht nur in der Frage, welche Daten gesammelt werden, sondern auch dahingehend, wie transparent man damit umgeht und welchen Wert man anschließend daraus für den Kunden erzeugt.


Wie wichtig ist es Ihnen, dass heute vor dem Chief Scientist ein Ex- steht?

Ich sehe Jeff Bezos noch regelmäßig und halte extrem viel von ihm als Menschen. Aber Amazon ist heute natürlich eine ganz andere Firma als zu meiner Zeit – viel diversifizierter. Wenn Leute an Amazon denken, denken sie an Online Retail. Es ist erstaunlich, was für einen kleinen Anteil E-Commerce heutzutage noch bei Amazon ausmacht. Aber das zeigt die Vision eines Genies, der die richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt getan hat.


Wie tickt Jeff Bezos? In was für einer Welt lebt er, wie denkt er über die Menschen?

Wenn man 400.000 Mitarbeiter hat ist es ganz klar, dass es manche gibt, die nicht zufrieden sind. Ich bewundere seine Frische, seine Offenheit. Jeder Tag ist für ihn Day One. To not get stuck. Das ist Jeffs Mentalität.


Haben Sie ein Beispiel?

Wir saßen damals mal in einem Meeting zu Personalangelegenheiten. Jeff kommt rein, hört sich das Ganze ein paar Sekunden lang an, sagt „Falscher Film“ und geht wieder. Sein Blick ist immer aufs große Ganze gerichtet. Die stetige Bereitschaft, Neues zu gestalten, ist allgegenwärtig.


In Ihrem Buch haben Sie ein Zitat von Marshall McLuhan abgewandelt: „Je mehr die Datenfirmen über jeden einzelnen von uns speichern, desto stärker existieren wir und desto mehr können wir über uns selbst erfahren.“ Für viele europäische Datenschützer dürfte das wie ein Zwischenruf aus der Hölle klingen …

McLuhan, den ich sehr schätze, sagte das Gegenteil. Deshalb fand ich das Zitat so bemerkenswert, denn entweder hat er das Datensammeln anders verstanden als wir heute, oder wir stimmen in der Bewertung nicht überein. Zum Inhalt: Ich bin überzeugt, dass wir das Datensammeln nicht abstellen können. Damit müssen wir leben.


Klingt nach Resignation…

Nein, ich sage aber, lasst uns die Energie auf etwas fokussieren, das wir wirklich verändern können.


Wie naiv ist die europäische Idee, das Internet doch noch zu einem regulierten Raum zu machen?

Ich finde es gut, dass die EU bestimmte Regeln anziehen will. Das Wichtige ist aber, dass die Verantwortlichen verstehen, was sie regulieren können, und wo der Zug bereits abgefahren ist.


Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe mal bei BMW einen Vortrag gehalten. Am Abend davor saßen wir mit Führungskräften beim Abendessen und einer meinte „In unseren Autos wird es kein Google geben. Dann wissen die ja immer, wo unsere Kunden sind und das wollen wir nicht“. Am nächsten Tag stand ich dann auf der Bühne und habe in den Saal gefragt, wer an jedem Tag Google Maps verwendet. Viele Hände gingen hoch. Google ist also schon im Auto, egal ob bei BMW, Mercedes oder VW – und ganz gleich, ob die Autobauer sich mit Here für ein Sekundärprodukt entscheiden oder nicht. Das ist ein Beispiel dafür, dass man versucht, Probleme zu lösen, die bereits keine mehr sind.


Viele Menschen nutzen die kostenlosen Angebote der Internetriesen und kritisieren zugleich das Geschäftsmodell dahinter? Sehen Sie darin eine Doppelmoral?

Ja!


Eine kurze Antwort…

Wir sollten einfach nicht davon ausgehen, dass alle unsere Entscheidungen rational sind. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass die Menschen für ein Bonbon oder Stück Schokolade bereit sind, Daten preiszugeben, die viel mehr wert sind. That’s not new. Ich habe gerade gestern mit Kollegen gesprochen, die aus Frankfurt kamen und von den Plakaten am Flughafen erzählt haben. Was die Consulting Firmen und Banken darauf zu erzählen versuchen, hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Aber wer schaut tiefer?

 

Lesen Sie weiter:

„This Game is over!“ – Von den Erfahrungen im Silicon Valley und dem Win-win-Game im Internet erzählt Andreas Weigend in seinem Buch „Data for the People“. Standort38 hat als erstes deutschsprachiges Medium nachgefragt… (2/3)

Auch interessant