Prof. Dr. Axel Plünnecke ist Leiter des Clusters Bildung, Innovation und Migration am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Zusammen mit internationalen Kolleg:innen hat der gebürtige Lengeder die Studie „The Transatlantic Subnational Innovation Competitiveness Index“ verfasst, die die Innovationsfähigkeit der Gliedstaaten der USA, Deutschlands, Kanadas und Italiens vergleicht. Im Interview erklärt er, warum die Region Braunschweig-Wolfsburg losleglöst von Niedersachsen einen internationalen Spitzenplatz belegen würde und wie sich dieser Status auch in Zukunft halten lässt.
Herr Plünnecke, Ihre Studie vergleicht die Innovationsfähigkeit der Gliedstaaten der USA, Italien, Kanadas und Deutschlands. Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Berlin belegen internationale Spitzenplätze, auch Bremen ist in den Top 10. Niedersachsen landet auf Rang 29. Warum fallen die Ergebnisse so unterschiedlich aus?
Baden-Württemberg schafft es im Ranking auf Rang drei, nur Massachusetts und Kalifornien schneiden besser ab. Dieser Wirtschaftsstandort zeichnet sich durch eine sehr starke Industrie aus, insbesondere die Metall- und Elektroindustrie lässt das Land gut dastehen und ist – international gesehen – Innovationstreiber. Die Region Braunschweig-Wolfsburg und ihr Umland ist damit tatsächlich sehr gut vergleichbar. Der große Unterschied: In Niedersachsen konzentrieren sich die starken, innovativen Unternehmen auf Braunschweig und Wolfsburg, wohingegen Baden-Württemberg mit Stuttgart, Karlsruhe und Heidelberg über mehrere dieser Regionen verfügt. Von Niedersachsen losgelöst wäre die Region Braunschweig-Wolfsburg auf den internationalen Spitzenplätzen.
Innerhalb Niedersachsens sticht unsere Region also heraus. Warum ist das so?
Wir messen anhand von Indikatoren, wie Patentanmeldungen, Forschungsausgaben und -personal. Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich Volkswagen mit seiner extremen Strahlkraft als eines der Unternehmen mit den weltweit höchsten Forschungsausgaben. Das wirkt sich auch regional aus, indem es Zulieferer in der Automobilbranche anzieht. Mit Ingenieurbüros, der TU Braunschweig, der Physikalisch-Technische Bundesanstalt und weiteren öffentlichen Forschungseinrichtungen, liegt dort außerdem ein starkes Forschungscluster rund um das Thema Mobilität.
Trotzdem hat man in der Region bisweilen das Gefühl, zumindest über die Ländergrenzen hinweg, nur wenig wahrgenommen zu werden. Gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Standing der Region und ihrem tatsächlichen Wirken?
In Deutschland liegt bei Forschung und Entwicklung eine besondere Fokussierung auf Bayern und Baden-Württemberg. Diese Bundesländer sind dort sehr stark und können das auch gut vermarkten. Der Großraum München etwa ist vielleicht auch deswegen ein Stück stärker, weil er von sich aus eine große Strahlkraft besitzt. Dort sitzen viele Unternehmen aus verschiedenen Branchen, die ähnlich stark wie VW sind. Das zieht wiederum viele Start-ups und Gründer an, gerade im IT-Bereich. In Berlin sieht es ganz ähnlich aus. Die TU Braunschweig ist zum Beispiel eine sehr gute Technische Universität. Aber die LMU in München oder die Humboldt-Universität in Berlin sind durch ihr Prestige überregional stärker sichtbar.
Wir müssen also über das Marketing und Branding unserer Region sprechen …
Auf jeden Fall! Das betrifft aber viele Hidden Champions in anderen Regionen Deutschlands ganz genauso. Ein Großteil davon sitzt in Baden-Württemberg. Kennt man die einzelnen Regionen? Nicht unbedingt. Aber Baden-Württemberg hat es geschafft, sich als Bundesland dahingehend stark zu positionieren.
Was bedeutet das also für unsere Region?
Die Region an sich ist eher klein, verfügt aber über ein starkes Mobilitäts- und Forschungscluster. Betrachten wir ganz Niedersachsen, gibt es weitere Stärken: Die Küsten, insbesondere im Westen des Landes, eine große Lebensmittelindustrie und eben die Automobilbranche im Osten. Das ist ein Bundesland der Vielfalt.
Neben der Automobil- gibt es bei uns auch klassische Schwerindustrie. Kann diese noch ein Innovationstreiber sein?
Auch die Salzgitter AG lebt von Innovation. Drumherum sitzen allerdings viele Unternehmen, die dort ausschließlich produzieren. Die Forschung und somit auch Innovation finden an anderer Stelle statt. Das heißt aber nicht, dass die Schwerindustrie nicht innovativ sein muss. Zukünftig wird sich das noch einmal verlagern, denn der IT-Sektor wird für die gesamte Region Braunschweig-Wolfsburg entscheidend werden. Aktuell ist dieser noch eng mit Berlin verknüpft, doch die Autoindustrie ist in Sachen Digitalisierung hoch innovativ. Es ist eine Chance, durch Dekarbonisierung, Elektromobilität oder autonomes Fahren, das Auto als Hightech-Produkt zu etablieren – und damit auch eine Zukunftsperspektive. Übrigens auch für andere Branchen.
Inwiefern stellt die starke Fokussierung auf einen einzelnen Wirtschaftssektor auch ein Risiko dar? Sollten wir in der Region wirklich nur auf das Pferd Mobilität setzen?
Das Auto wird mit IT-Implementationen, Elektromobilität und autonomem Fahren technologisch viel breiter. Früher hat der Verbrennungsmotor als Herzstück die Patentstruktur geprägt. Heute erfindet man das Auto nochmal neu. Über die Digitalisierung fließen ganze andere Technologien ein. Das heißt auch, dass sich die Infrastruktur und die Dienstleister vor Ort wandeln und neu aufstellen müssen.
Welche Bedeutung messen Sie demnach dem Individualverkehr in der Zukunft bei?
Das Mobilitäts-Cluster bleibt weiterhin attraktiv, wenn auch für eine andere Art von individueller Mobilität. Wie diese konkret aussehen wird, können wir heute nur vermuten. Anhand der Autostadt sehen wir, dass Automobile nicht nur die Funktion klassischer Mobilität erfüllen, sondern ein Erlebnis sein können, weil sich über die Jahre extrem viel gewandelt hat.
Aber bleibt neben VW und der Automobilindustrie überhaupt noch Platz für andere Branchen? Immerhin hat auch VW einen großen Fachkräftebedarf.
Sobald Hochlohnakteure in einer Region vertreten sind, wird es für kleinere Unternehmen schnell herausfordernd. Der Kampf um die Fachkräfte ist für sie schwieriger. Dem kann begegnet werden, indem die Forschungslandschaft gestärkt wird und gezielt Ausgründungen unterstützt werden. Dadurch entsteht im Idealfall eine Reihe kleiner Unternehmen in anderen Branchen. Das können dann auch Dienstleister sein, die unter anderem für VW im Bereich Digitalisierung arbeiten und KI-Dienstleistungen sowie weitere Produkte anbieten, aber nicht ausschließlich für diesen einen Auftraggeber arbeiten.
In vielen Rankings landen keine der niedersächsischen Universitäten unter den europäischen Spitzenplätze. Insgesamt schneiden die deutschen Hochschulen eher mittelmäßig ab. Woran hapert es?
Der Föderalismus ist hierzulande Stärke und Schwäche zugleich. Wir haben in Deutschland sehr viele Zentren und nicht einige wenige, auf die sich alles fokussiert, wie in anderen Ländern. Eine Ausnahme ist sicherlich Frankfurt als Finanzmetropole. Im Vergleich zu anderen Ländern sind in Deutschland außerdem die Lebensbedingungen gleichmäßig verteilt. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen einem ländlichen Landkreis in Sachsen-Anhalt und dem Speckgürtel Münchens. Die Unterschiede sind aber bei weitem nicht so stark ausgeprägt, wie etwa in vergleichbaren Regionen in den USA oder Frankreich. Was innerhalb Deutschlands als Stärke erscheint, kann global betrachtet ein Nachteil sein, denn wir haben nur wenige extrem starke Standorte. Mit dem Länderfinanzausgleich und weiteren Mitteln verteilen wir ein Stück weit um. Andere Staaten lassen hingegen mehr Ungleichheit zu, indem sie einzelne Universitäten gezielt unterstützen. Kleinere Hochschulen bleiben dort auf der Strecke.
Also gehen wir den falschen Weg? Unsere Unis schneiden offensichtlich nicht gut ab.
Bei den Forschungsausgaben dürfen wir nicht vergessen, dass viel Geld ins Max-Planck-Institut, die PTB oder das Helmholtz-Institut fließt. Die Max-Planck-Gesellschaft kann sich, gemessen an Nobelpreisen, durchaus mit Stanford oder dem MIT messen. Sie ist aber keine Hochschule. Dort fließen Bundesmittel in die Forschung, aber nicht in die Lehre. Wir sprechen also über zwei unterschiedliche Systeme. Die Fraunhofer-Gesellschaft etwa ist ein starker Partner für die Wirtschaft, um ganz konkret Forschung in die Praxis umzusetzen. Die zukunftsträchtigen Schwerpunkte Digitalisierung und IT werden in unserer Forschung bislang allerdings nicht so stark verfolgt wie in den USA. In der Region Braunschweig-Wolfsburg tut sich dort nun einiges, denn Volkswagen hat erkannt, dass dieser Schuh drückt und mehr in die Hochschulen und die Forschungslandschaft im Bereich Digitalisierung investiert werden muss.
Brauchen wir mehr Ausgründungen aus unseren Hochschulen?
Wenn man schaut, wie viel in Stanford und anderen amerikanischen Hochschulen tatsächlich ausgegründet wird, dann ist das sicher auch eine Mentalitätsfrage. Dafür fehlen uns ein Stück weit die Kultur und auch die Rahmenbedingungen. Wir haben in Deutschland nicht genug geeignete ITler, um unsere KI-Professuren selbst zu besetzen. Die müssen wir aus dem Ausland holen, um überhaupt eine ausreichende Ausbildungs- und Forschungsinfrastruktur aufzubauen, die ein Fundament für Ausgründungen und Innovation schafft.
Von welcher Kultur sprechen Sie? Coworking Spaces und Hubs sprießen auch hier aus dem Boden.
Es gibt aber keine Ausgründungskultur aus öffentlichen Einrichtungen. Gründungswillige erhalten nicht ohne Weiteres ein Budget von der Hochschule. Anders in den USA: Dort kommt mittlerweile Kritik auf, ob Stanford überhaupt noch eine Hochschule ist oder vielmehr ein Gründungsinkubator. Dort werden Gelder über Fonds gesammelt und in Ausgründungen investiert, die dann letztlich auch wieder Geld in die Universität fließen lassen, um die nächsten Gründungen zu unterstützen. Mit einem Coworking Space allein ist es nicht getan, aber sie sind ein Anfang, auf dem man aufbauen kann.