24. Oktober 2022
Impulse

Salzgitter auf der Überholspur

Salzgitter hat keinen guten Ruf. Angesprochen darauf, in welcher Kategorie Salzgitter wohl gerade eine bundesweite Statistik anführt, reagierte ein regionaler Unternehmensberater fast sarkastisch: Das werde wohl mal wieder irgendetwas mit Kriminalität, Arbeitslosigkeit oder Migration sein.

Obwohl Salzgitter zu den 81 größten Städten in Deutschland gehört, ist sie auch eine der grünsten: Zwischen den einzelnen Stadtteilen, die sich selbst zum Teil weiterhin als Dörfer verstehen, liegen weite landwirtschaftliche Flächen und Naturschutzgebiete. Foto: EuroVisionMedia Ltd./AdobStock

Nein, das war es nicht. Ohne die Probleme mancher Brennpunkte verharmlosen zu wollen: Salzgitter ist mehr. Einen ihrer Beinamen – Stahlstadt – trägt sie nicht umsonst, die Salzgitter AG mit ihren Tochterunternehmen ist eines der prägenden Unternehmen der Stadt. Aus Richtung Braunschweig und Wolfenbüttel ist es die Silhouette des Hüttengeländes, seit 2020 ergänzt um einen Windpark, der den Betrachter anzieht. Ob wir wollen oder nicht – Besucher aus anderen Orten fragen nicht nach den Dörfern zwischen den grünen Hügeln, sondern nach den Schornsteinen und dem rötlichen Glimmen, das nachts die Umgebung des Werks erhellt.

Alexander Stein (von links, Geschäftsführung Salzgitter Flachstahl), Ulrich Grethe, Konzerngeschäftsleitung Salzgitter AG; Aashish Gupta, Executive Vice President Primetals und Dr. Jan Friedemann Paul, Senior Vice President Primetals, bei der Vertragsunterzeichnung für den ersten Elektrolichtbogenofen. Foto: Salzgitter AG

Diese Kombination aus Grün – landwirtschaftlichen Nutzflächen – und Industrie hat das Bundesamt für Statistik bereits mehrfach in Pressemitteilungen aufgegriffen: Auf fast 50 Prozent der Stadtfläche werden landwirtschaftliche Güter produziert. Damit gehört Salzgitter zu den drei grünsten (Groß-)Städten in Deutschland, nur Erfurt und Hamm hatten 2021 mehr landwirtschaftliche Flächen. Das Schlusslicht dieses Rankings ist Berlin mit vier Prozent.

Geheimsache: Energieverbrauch

Ein statistischer weißer Fleck ist der industrielle Energieverbrauch. Denn Salzgitter gehört zu den Industriestandorten, deren genauer Verbrauch in den bundesweiten Statistiken nicht aufgeschlüsselt aufgeführt wird. Auf den interaktiven Online-Karten fehlt zwischen Hildesheim, Braunschweig und Goslar ein Tortendiagramm. Ein Vorgehen, dass die Angaben einzelner Unternehmen schützen soll. In Deutschland unterliegen die Verbrauchsdaten von 45 Landkreisen und kreisfreien Städten der statistischen Geheimhaltung – auch Wolfsburg gehört dazu.
Wenn das rote Leuchten in ein paar Jahren erlischt, muss das kein schlechtes Zeichen sein. Im Gegenteil: Seit 2018 arbeitet die Salzgitter AG mit dem Projekt Salcos – Salzgitter Low CO2 Steelmaking – an der Kohlendioxid-neutralen Produktion. Spätestens 2033 will das Unternehmen alle Produktionsschritte entsprechend umgerüstet haben; statt fossile Energieträger kommt dann Wasserstoff zum Einsatz. Grüner Wasserstoff, der mit Erneuerbaren Energien produziert wird.

Der erste neue Ofen kommt

Von Bremervörde in Niedersachsen fuhr der Wasserstoff-Personenzug Coradia iLint bis an die deutsch-österreichische Grenze und in den Bahnhof von München – ohne Tanken zu müssen. Foto: Salzgitter AG

Einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Co2-Neutralität hat die Salzgitter Flachstahl GmbH vor ein paar Wochen mit der Beauftragung der Primetals Technologies zur Errichtung des ersten Elektrolichtbogenofens, auch Electric Arc Furnace (EAF) genannt, in Salzgitter getan. Bei dem EAF handelt es sich um ein Wechselstromaggregat mit drei Elektroden, der eine Jahreskapazität von rund 1,9 Millionen Tonnen Rohstahl hat. Die Montage ist für 2024 geplant, Ende 2025 soll der Ofen in die Produktion integriert werden. Die alten Hochöfen und ihr Leuchten verschwinden sukzessive. „Dieser Schritt unterstreicht unsere Ambition, mit Salcos weiterführend bei der Dekarbonisierung der Stahlindustrie zu bleiben und den Standort Salzgitter dauerhaft für die Zukunft auszurichten. Mit Primetals haben wir einen starken Partner an der Seite – getreu unserer Strategie Salzgitter AG 2030 und dem Grundsatz Partnering for Circular Solutions“, äußerte sich Ulrich Grethe, Leiter des Geschäftsbereichs Stahlerzeugung.

Die Vorreiterrolle, die das heimische Stahlwerk bei der Erforschung von Wasserstoff im industriellen Kontext hat – die Salzgitter AG ist Praxispartner im Forschungsverbund Wasserstoffcampus Salzgitter – hat auch die niedersächsische Landesregierung erkannt: Mitte September unterzeichneten Ministerpräsident Stephan Weil und Staatssekretär Stefan Wenzel auf dem Gelände der Salzgitter AG eine sogenannte Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Land Niedersachsen und der Bundesrepublik Deutschland zur Bereitstellung von Fördermitteln.

Alstom fährt zum Weltrekord

Auf seiner Weltrekordfahrt durchquerte der Wasserstoffzug Coradia iLint Deutschland von Bremervörde bis an die deutsch-österreichische Grenze. Foto: Alstom

Apropos Wasserstoff: Ein weiterer Praxispartner des Wasserstoffcampus ist der Zughersteller Alstom, der in Salzgitter an der Weiterentwicklung und Produktion des Coradia iLint arbeitet. Dieser gilt als erster Personenzug, der mit der in Wasserstoff gespeicherten Energie betrieben wird – und mit einer einzigen Tankladung ziemlich weit kommt. Bei einer Testfahrt Anfang September fuhr ein Zug aus der Flotte der Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG) von Bremervörde quer durch Niedersachsen, Hessen und Bayern. 1.175 Kilometer, ohne den Tank aufzufüllen, laut Alstom ist das ein neuer Weltrekord. „Wir sind stolz darauf, als erster Eisenbahnhersteller der Welt einen auf Wasserstofftechnologie basierenden Personenzug anbieten zu können. Mit dieser Fahrt haben wir einen weiteren Beweis dafür geliefert, dass unsere Wasserstoffzüge über alle Voraussetzungen verfügen, um Dieselfahrzeuge zu ersetzen“, so Henri Poupart-Lafarge, CEO und Chairman von Alstom. „Wir sind sehr stolz auf die Pionierarbeit, die wir mit der Einführung von Wasserstoff in den Schienenverkehr geleistet haben.“ Der Zug ist sonst im Landkreis Rotenburg im normalen Pendelbetrieb des öffentlichen Personennahverkehrs eingesetzt. Im August haben die LNVG, die Eisenbahnen und Verkehrsbetriebe Elbe-Weser (evb) sowie das Gase- und Engineering-Unternehmen Linde das erste Streckennetz mit Wasserstoffzügen in Betrieb genommen. Ein Projekt mit 93 Millionen Euro Volumen.

Neues Großprojekt in Watenstedt

Der Zughersteller ist immer wieder Veränderungen unterworfen. Nachdem bereits 2014 ein Grundstück an die Garbe Industrial Real Estate GmbH verkauft wurde, haben die beiden Unternehmen sich gerade wieder auf einen Verkauf geeinigt: Der Hamburger Projektentwickler will eine 51.000 Quadratmeter große Industriebrache in Salzgitter-Watenstedt neu beleben. „Mit der Revitalisierung dieser seit Jahren brachliegenden Fläche werten wir den Boden enorm auf, heben bislang ungenutzte Grundstücksreserven ohne Flächenversieglung wertvoller Grünflächen und schaffen so bedeutende Ansiedlungspotenziale“, betont Adrian Zellner, Mitglied der Geschäftsleitung von Garbe Industrial Real Estate, in einer Pressemitteilung. Rund um das 32.000 Quadratmeter große Gebäude sollen 140 Pkw-Stellplätze und mehrere Grünflächen entstehen, zudem soll bei der Energieversorgung auf fossile Brennstoffe verzichtet werden – auf der gesamten Dachfläche ist eine Photovoltaikanlage geplant.

Vorher geht es aber um die Sanierung des Grundstücks: Neben den Fundamenten von früheren Gebäuden und Schächten erwartet das Unternehmen auch eventuelle Rückstände von Kampfmitteln. Ob Garbe die geplante Logistikimmobilie für einen bestimmten Kunden baut oder noch vermarkten muss, ist noch nicht bekannt – zum bisherigen Portfolio gehören Namen wie DPD, Amazon, Hermes und Bertrandt. Auch das VW Logistikzentrum in Flechtorf ist eine Garbe-Immobilie.

Auf einer Brachfläche in Watenstedt, die der Projektentwickler Garbe Industrial Real Estaste von Alstom gekauft hat, soll eine Logistikimmobilie entstehen. Foto: Garbe Industrial Real Estate

Ein Haken macht das Leben schöner

Und worin Salzgitter nun die Nummer eins ist? In der Freundlichkeit. Der Freundlichkeit gegenüber Haustieren. Obwohl die Haltung von Katzen und Hunden in Mietwohnungen ohnehin nicht pauschal verboten werden kann, haben Salzgitters Vermieter ihre Offenheit für Haustierhaltung zwischen 2021 und 2022 überdurchschnittlich oft deutlich gemacht. Das Portal Immowelt hat Wohnungsinserate analysiert und festgestellt, dass bei 36 Prozent der Anzeigen aus Salzgitter der Haken bei „Haustiere erlaubt“ gemacht wurde. Damit führt die Stahlstadt das Ranking von 80 deutschen Großstädte an. Manchmal sind es Kleinigkeiten wie ein virtueller Haken, um die Wahrnehmung als lebenswert zu steigern.

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