Homeoffice, Mobile Work und Remote arbeiten – nicht selten wird die nach anfänglichem Ruckeln in den Pandemie-Jahren neu gewonnene Ortflexibilität von den Unternehmen selbst als bewusste New Work-Maßnahme bejubelt. Dieses Schulterklopfen nimmt auch Prof. Dr. Carsten Schermuly wahr. Im New Work-Barometer gibt der Vizepräsident für Forschung und Transfer der SRH Berlin University of Applied Sciences und geschäftsführende Direktor des Instituts for New Work and Coaching einmal im Jahr einen Überblick über die Verbreitung, Veränderung und das Verständnis des New Work-Begriffs in unserer Wirtschaft. Für seine Arbeit wurde der Wirtschaftspsychologe vergangenes Jahr vom Personalmagazin als einer der führenden 40 HR-Köpfe Deutschlands gewürdigt. „Der Seismograph“ titelte das Fachmagazin, denn Schermuly verzeichne jede noch so kleine Erschütterung unserer Wirtschaftswelt.
Die vergangenen Jahre nahm sich Carsten Schermuly zum Anlass und schrieb kurzerhand eine New Work Utopie. „Nach den dystopischen Erfahrungen der vergangenen Jahre war es mir ein Bedürfnis, einen hoffnungsvollen Ausblick zu geben“, erzählte er uns im Vorfeld des Interviews. Wir sprachen mit dem Wirtschaftspsychologen über Alpha-Männer in Führungspositionen, mangelnde Verantwortungskompetenz und eine Frage der Selbstreflexion …
Herr Schermuly, New Work hat sich zu einem Trendbegriff der heutigen Wirtschaftswelt entwickelt. Stört Sie das?
Grundsätzlich eigentlich nicht. Teilweise verkommt New Work aber zu einer Art Container-Begriff. Viele Betriebe nutzen ihn zudem mikropolitisch: Wenn ich in meinem Unternehmen Open Space-Büros einführen möchte, dann nenne ich das New Work. Der nächste sagt, wir brauchen digitale Strukturen und nennt das wiederum New Work – das tut dem ursprünglichen Begriff
nicht gut.
In Ihrem neuen Buch schreiben Sie einleitend: „Die Corona-Pandemie hat in der Arbeitswelt vieles angestoßen. Aber von einem strukturellen Wandel kann noch keine Rede sein.“ Inwieweit haben sich die Pandemie-Jahre auf die Umsetzung des New Work-Ansatzes in Unternehmen ausgewirkt?
In dieser Krise gibt es viele Verlierer – und einen großen Gewinner, das ist das Homeoffice. Maßnahmen, wie etwa Agilität, wurden während der Pandemie zurückgefahren. Das Organisationssystem zu verändern ist in einer Krisensituation natürlich schwierig. Einer meiner Hauptkritikpunkte ist, dass im Zuge der Corona-Pandemie die Gleichsetzung von New Work und Homeoffice zugenommen hat. Das ist viel zu kurz gegriffen.

Inwiefern?
Damit werden wir die Komplexität, Unsicherheit, Ambiguität und die volatilen Zustände nicht bewältigen. New Work muss und kann mehr. Wir müssen die äußere Komplexität der Welt auch von innen heraus komplex bewältigen.
Ist das in den Köpfen der Entscheider:innen bereits angekommen?
Sie nehmen die Komplexität zumindest wahr. Aber komplexe Situationen können nicht mit Organisationssystemen bewältigt werden, die aus dem 19. Jahrhundert stammen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Arbeit nach dem Vorbild der Armee organisiert, es gab einen General, Offiziere, Unteroffiziere und die Mannschaft, die nicht denken musste. Mit diesem alten Vorgehen bekommen wir unsere modernen Herausforderungen nicht in den Griff.
Stellen Sie dabei Unterschiede zwischen Mittelstand und Konzernen fest?
Im Verständnis von New Work nicht, dafür aber in der Praxis.
Das müssen Sie erklären!
Kleine und mittelständische Unternehmen praktizieren häufiger eine demokratische Organisationsverfassung oder flache Hierarchien. Große Unternehmen setzen eher auf kosmetische Maßnahmen. Frithjof Bergmann, Begründer des New Work-Ansatzes, hat dieses Verhalten einmal als „New Work im Minirock“ bezeichnet. Da wird Design Thinking eingesetzt oder es werden Achtsamkeits-Workshops veranstaltet. Das sind alles nette Maßnahmen, aber sie gehen nicht an den Kern der Machtstrukturen. Die KMU sind deutlich innovativer und zielen verstärkt darauf ab, dass ihre Mitarbeiter:innen kompetenter werden.
Frithjof Bergmanns Verständnis von New Work zielte ursprünglich weniger auf die Fragen des wie und wo der Arbeit ab, sondern stellte das System Arbeit gesellschaftskritisch in Frage. Jeder Mensch sollte seiner Ansicht nach einer Arbeit nachgehen, die ihn wirklich begeistert …
Bergmann suchte gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Er wollte, dass die Menschen Tätigkeiten finden, die sie wirklich ausüben möchten, und dass sie nicht mehr fünf Tage die Woche ihrer Lohnarbeit nachgehen, sondern vielleicht nur noch zwei Tage. In der restlichen Zeit sollten die Menschen selbstbestimmter Arbeit nachgehen. Durch die technischen Möglichkeiten, die wir heutzutage haben, sollte das inzwischen leicht umsetzbar sein. Ob es aber realistisch und die Gesellschaft bereit ist, diesen Weg zu gehen, bezweifle ich …
Warum? Welche Bedeutung hat Arbeit denn heutzutage?
In unserem aktuellen Verständnis ist Arbeit etwas sehr Relevantes, weil wir damit – neben Schlafen – die meiste Zeit verbringen. Viele Menschen haben mehr Kontakt zu ihren Kolleg:innen als zu Familienmitgliedern. Arbeit strukturiert den Alltag, schenkt Identität und ist eine Möglichkeit, persönliche Kompetenzen zu entwickeln. Mit Arbeit kann man sich Dinge leisten, Arbeit hat soziale Dimensionen und befriedigt auch in dieser Hinsicht. Arbeit war vor 100 Jahren schon wichtig und wird es auch in 30 Jahren noch sein. Momentan habe ich aber das Gefühl, dass die Pandemie dazu führt, dass Menschen häufiger über die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit nachdenken.
In Ihrer New Work Utopie zeichnen Sie das Bild des Unternehmens Stärkande. Was charakterisiert dieses?
Stärkande ist ein Tech-Unternehmen, das von zwei Frauen gegründet wurde und Software produziert. Die Stärkanderinnen – die ausschließlich das generische Femininum benutzen – setzen dort verschiedene New Work-Maßnahmen ganzheitlich um.
Lassen Sie uns diese Maßnahmen einmal näher beleuchten. Gearbeitet wird bei Stärkande in einer holokratischen Hierarchie. Was verstehen Sie darunter?
In der herkömmlichen Managementliteratur ist das ganz klar voneinander getrennt: Auf der einen Seite gibt es die Hierarchie mit dem CEO und verschiedenen Leitungsfunktionen. Auf der anderen Seite steht die Holokratie ohne Führungskräfte. Dort müssen sich die Mitarbeiter:innen in Kreisen selbst organisieren. Beide Organisationssysteme haben allerdings erhebliche Schwächen.
Haben Sie ein Beispiel für uns?
In starren Hierarchien ist die Kreativität beispielsweise nur schwach ausgeprägt. In holokratischen Organisationen wiederum müssen sich die Leute stark untereinander abstimmen, was Unsicherheit erzeugt. Holokratische Hierarchie bedeutet, aus beiden Welten das Beste herauszuziehen. Die Stärkanderinnen definieren ihre Rollen und werden danach in Kreisen organisiert, zum Beispiel auf Grundlage ähnlicher Aufgaben, Themen oder Kund:innen.
Das klingt nach Freiheit und Verantwortung …
Ich glaube, beides haben viele Menschen bereits in der Schule abtrainiert bekommen. Das müssen wir dringend ändern. Dass Menschen mit Freiheit zurechtkommen, sehen wir beispielsweise in der Politik. Warum schaffen wir es dann nicht im Betrieb? Genaugenommen leben wir nur in einer halben Demokratie. Wir unterwerfen uns Führungskräften, die über unser Leben bestimmen und die wir nur „loswerden“ können, wenn wir das Unternehmen verlassen.
Wenn man Ihren Ansatz konsequent verfolgt, müsste man damit bereits in der Schule ansetzen …
Man müsste die zukünftigen Lehrkräfte an den Hochschulen entsprechend ausbilden. Agile Projektarbeit ist auch schon in der Grundschule möglich. Über die Schulen und Hochschulen könnte man diese Kultur schließlich in die Unternehmen tragen. Dafür müssen wir allerdings bessere Führungskräfte ausbilden. Und wir brauchen vor allem mehr Frauen. Vieles würde deutlich besser funktionieren, wenn nicht nur Alpha-Männer entscheiden würden.
Die Stärkanderinnen Ihrer Utopie nutzen Führung „on demand“. Welche Idee steckt dahinter?
Die Kreise als Organisationseinheiten entscheiden selbst, wann sie Führung brauchen. Das ist ein absoluter Bruch mit gängigen Modellen. Entweder gibt es in einem Betrieb von vorneherein Führung oder den Ansatz der Selbstorganisation.
Kein Raum für Kompromisse?
Leute, die in einer gängigen Unternehmenshierarchie aufsteigen, haben in der Regel viel Zeit in Netzwerkarbeit investiert. Das Resultat ist, dass in diesen Positionen häufig Menschen sitzen, die gut mikropolitisch arbeiten können, aber nicht unbedingt die besten Führungskräfte sind. Eine Alternative wäre, die Führungskräfte demokratisch zu wählen. Es gibt Unternehmen, die diesen Ansatz bereits ausprobiert haben. Der Nachteil ist, dass so diejenigen als Führungskräfte überzeugen, die guten Wahlkampf machen. Die Stärkanderinnen nutzen deshalb ein Vorschlagsystem.
Wie funktioniert dieses Konzept?
Sie beobachten, wer die benötigten Fähigkeiten vorweisen kann und schlagen diese Personen vor. Mehrfach nominierte Personen werden anschließend in einem Assessmentcenter von Expert:innen hinsichtlich ihrer Eignung geprüft. Was bei Stärkande außerdem anders ist: Es gibt keine externen Führungskräfte. Die Stärkanderinnen bekommen also niemanden vorgesetzt, sondern es entsteht eine Form von Followership.

Sowohl die von Ihnen beschriebenen Kreise als auch die Führungskräfte sowie zusätzliche Supporter organisieren sich in sogenannten Phylen. Was können wir uns darunter vorstellen?
Das Unternehmen Stärkande möchte wachsen, gleichzeitig aber die Kultur und die Strukturen eines Start-ups beibehalten. Die Lösung dafür sind sogenannte Phylen, Bereiche in denen 100 bis 150 Personen arbeiten.
Angelehnt an die Dunbar-Zahl, die beschreibt, wie viele Namen und Beziehungen eine einzelne Person kennen und pflegen kann …
Genau. Wenn die sozialen Einheiten größer werden, entstehen Subgruppen und die Organisation von Arbeit wird schwieriger. Sobald bei den Stärkanderinnen eine Phyle zu groß wird, gründen sie eine neue. Sie sind ausgebrochen aus diesem mechanischen, maschinellen Verständnis von Organisation. Vielmehr ist das Unternehmen ein lebendiger Organismus, ähnlich einer Bienenwabe.
Am 20. März dieses Jahres endete die Homeoffice-Pflicht. In vielen Unternehmen wird deshalb über die Arbeitsplatzautonomie diskutiert. Es steht wieder die Frage im Raum, wo und wie wir künftig arbeiten werden. Wie sieht die Lösung der Stärkanderinnen aus?
Bei den Stärkanderinnen wird grundsätzlich nicht viel über Homeoffice gesprochen, sondern vor allem über Begegnungstage für Austausch. Sie haben gemeinsam definiert, welche Aufgaben zuhause erledigt werden können und warum man sich vor Ort trifft, und erprobt, wie viele Tage sie dafür benötigen. Dieser Ansatz würde auch realen Unternehmen helfen, wenn sie sich nicht nur auf die Anzahl der Homeoffice-Tage fixieren.
Ein weiterer Aspekt, der die Zusammenarbeit in Stärkande maßgeblich prägt, ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Warum ist dieser wichtig?
Dieses Thema liegt in Deutschland wirklich brach und wird mit viel Angst angegangen. Aus der HR-Perspektive sehe ich nur wenige Unternehmen, die Künstliche Intelligenz proaktiv nutzen. Die Stärkanderinnen arbeiten eng mit der von ihnen entwickelten KI „Thufir“ zusammen. Thufir nimmt ihnen kognitiven Ballast und Bürokratie ab, damit sie mehr Zeit für ihren eigentlichen Job haben.
Mehr Zeit für das Wesentliche …
Und das macht ein Unternehmen – natürlich nur hypothetisch – unglaublich erfolgreich. Die Künstliche Intelligenz nimmt mir keine Arbeit weg, sondern ist mein Assistent im Arbeitsalltag – von dieser Haltung und Unternehmenskultur sind wir noch ganz weit entfernt.
Was also können wir von Stärkande lernen und in die reale Wirtschaftswelt übertragen?
Ich glaube, von Stärkande kann man als Organisation lernen zu lernen. Beim Thema hybride Zusammenarbeit muss man die Betroffenen fragen und gemeinsam nach Regeln suchen. Das betrifft nicht nur den Arbeitsort, sondern auch die Arbeitszeit und Digitalisierung. Außerdem muss ich als Unternehmen zu einem guten Gastgeber werden, damit meine Mitarbeiter:innen gerne zu mir kommen und alles vorfinden, was sie für ihre Tätigkeiten benötigen. Die Stärkanderinnen treffen sich vor allem, um sich auszutauschen und gemeinsam kreativ zu sein. Deshalb gibt es auch entsprechend große Wir-Räume.
Ihre New Work Utopie ist ein Gedankenexperiment. Gibt es dennoch Unternehmen, die bereits heute Züge Ihres Ansatzes erkennen lassen?
Durchaus. Die Unternehmensberatung HRpepper zum Beispiel, mit der ich zusammenarbeite, hat ganz im Sinne des New Pay ein demokratischeres Entlohnungssystem eingeführt. Auch der Haufe-Verlag wendet viele der beschriebenen Axiome an. Das Unternehmen Gore arbeitet mit kleinen sozialen Entitäten, rund 250 pro Niederlassung. Es gibt viele Unternehmen, die Teile der Utopie umgesetzt haben. Aber alle 22 Arbeitsprinzipien auf einmal habe ich noch nicht gesehen. Das ist auch nicht die Idee einer Utopie.
Wie sehr wünschen Sie sich, dass aus dieser Utopie Realität wird?
Es wäre höchst gefährlich, eine Utopie so zu schreiben, dass sie realistisch ist – sonst wird daraus auch schnell eine Diktatur. Es ist eine Vision, über die man diskutieren kann. Einzelne Teile kann man testen und miteinander verbinden, aber es ist keine Schablone.
Was würden Sie Unternehmer:innen also ganz praktisch raten?
Jedes Unternehmen hat eine Kultur und Axiome, nach denen es funktioniert. Manchmal wissentlich, manchmal unwissentlich. Was ich bei Stärkande toll finde, ist, dass sie sich Mühe geben zu verstehen, wie das Unternehmen funktioniert. Wie organisieren wir uns eigentlich und sollten wir daran etwas ändern? Sie setzen sich damit aktiv auseinander. Das ist etwas, was unsere Wirtschaftswelt auch tun sollte: Sich fragen, wer und was sie ist und ob es auch das ist, was sie sein sollte.
Die 22 Axiome der Stärkanderinnen
- New Work dient Stärkande – nicht Stärkande New Work
- Stärkande ist ein lebendiges System und keine Maschine
- Psychologisches Empowerment als Ziel von New Work
- Statt guter Arbeit ein gutes Leben
- Stärkande als gute Gemeinschaft
- New Time – sinnhafte Aufteilung von Arbeitszeit
- Konsequente digitale Arbeitsorganisation mit Rolemap, Skillmap, Teamorg und der künstlichen Intelligenz Thufir
- Die magischen 150 – Kommunikation und Kooperation in Phylen
- Die Organe des lebendigen Systems: eine holokratische Hierachie oder eine hierachische Holokratie? Stärkande arbeitet mit einer Holohier
- Der Betriebsrat als agiler Kreis, der die Stärkanderinnen vor sich selbst schützt
- Das Wachsen in Positionen bei Stärkande: Vorschlag statt Wahl sowie Struktur statt Bauchgefühl
- Leadership on Demand – zweckmäßiger statt zwanghafter Einsatz von Führung
- Empowering Leadership als Qualitätsversprechen der Führung bei Stärkande
- Ein empowerndes Mitarbeitendenleitbild
- New Pay – Bezahlung auf Augenhöhe
- Eine New-Work-Kultur ist wichtiger als jede Struktur
- Meilensteine haben die Römer aufgestellt – Stärkande arbeitet in Schleifen
- Open Book Empowerment – radikale Öffnung der „Bücher“
- Stärkanderinnen gehen auf Jagd – regelmäßige Durchführung von Bureaucracy Bustern
- Geregelte Freiheit – Homeoffice plus, das für alle bei Stärkande gut ist
- Räumliche Gestaltung – Stärkande ist ein guter Gastgeber für seine Mitarbeitenden
- Kein Teammeeting ohne Sinn