10. Februar 2022
Impulse

„Technologisch ist Volkwagen der Scheinriese“

Unternehmer Christoph Keese spricht im Interview darüber, was die Automobilindustrie von der Filmbranche lernen kann, wie das Fleisch der Zukunft aussieht und warum Elon Musk in Wolfsburg nach Personal sucht.

Christoph Keese beim Interviewtermin vor der Wolfsburger Markthalle. Foto: Holger Isermann

Mit Titeln wie Silicon Valley und Silicon Germany wurde Christoph Keese zum gefragten Gesprächspartner für die sich im Wandel befindende deutsche Wirtschaft. Wir trafen den Unternehmer und Autor beim von der Automotive Agentur Niedersachsen und Startup Niedersachsen initiierten Mobility Startup Day in der Wolfsburger Markthalle und haben mit ihm über das offene Rennen zwischen VW und Tesla, vegane Burger sowie die private-equity-besessene Ableseindustrie gesprochen …

Herr Keese, wie steht es um die Digitalisierung unseres Landes?
In den vergangenen fünf Jahren ist tatsächlich mehr geschehen, als ich es damals erwartet habe. Es bleibt noch viel zu tun, aber wir haben einiges geschafft, deshalb gibt es Grund zu vorsichtiger Hoffnung.

Haben Sie ein Beispiel?
Auch zwei: Venture-Kapital hat sich stark entwickelt. Es gibt heute zahlreiche Unicorns in Deutschland, Funding in der Früh- aber mittlerweile auch in der Spätphase. Natürlich ist der Abstand zu den USA immer noch erklecklich – dort sind derzeit über 120 Milliarden Dollar Kapital verfügbar, aber die gute Nachricht lautet: Beim Wachstumsfaktor konnte Deutschland mitziehen.

Und das zweite Beispiel?
Weil wir hier in Wolfsburg sind: Vor fünf Jahren war es für viele nicht vorstellbar, dass Volkswagen so entschlossen auf die Elektromobilität setzt und Autos, wie den ID.3 oder ID.4 herausbringt.

Haben Sie die Innovationsfähigkeit des Old-Economy-Riesen unterschätzt?
Man muss diese Leistung anerkennen. Trotzdem: Diese Autos sind elektrifizierte Golfs und noch keine radikal gedachten Elektroautos, wie beispielsweise bei Tesla. An den Fahrzeugen erkennt man den Legacy Ballast und der nächste Schritt ist, diesen abzulegen. Aber: Meine Wahrnehmung von außen ist, Volkswagen hat das erkannt und arbeitet daran.

Das große Vorbild Tesla – von Vorstandschef Herbert Diess ist es in den Augen vieler zuletzt überstrapaziert worden. Hat er Recht mit dem Fokus auf Elon Musk?
Diess wird ja vor allem für seinen Stil kritisiert. Er nehme die Leute nicht genug mit, sei nicht empathisch genug. Ich kann das nicht beurteilen, da ich noch nie mit ihm zusammengearbeitet habe. Was aber klar ist: inhaltlich hat er Recht. Und wenn nicht der Vorstandsvorsitzende das eigene Unternehmen darauf hinweisen darf, dass Tesla in vielen Punkten vorne liegt, wer dann?

Wo ist Tesla Volkswagen überlegen?
Der Tesla ist ein Computer auf Rädern, ein völlig offenes System mit nur einem Steuergerät. Deshalb funktionieren Over-the-air-Updates bei Tesla, bei Volkswagen hingegen trotz vieler Versuche nicht. Ein Tesla ist zudem ein gutes Auto, die Kritik am Fahrgestell oder an den Sitzen kann ich nicht nachvollziehen. Neben dem Produkt muss man aber auch über die Produktion sprechen. Wenn die veröffentlichten Zahlen stimmen, produziert Tesla derzeit deutlich schneller und damit auch günstiger als Volkswagen.

Den Old-Economy-Riesen unterschätzt: Volkswagen-Chef Herbert Diess vor dem ID.Buzz. Foto: Volkswagen AG

Nun kommen die beiden aus vollkommen unterschiedlichen Richtungen: Volkswagen hat viel industrielles Produktions-Know-how sowie weltweite Kapazitäten und digitalisiert sich gegenwärtig. Tesla hat sich das Auto über die Software erschlossen und will als Massenhersteller wachsen …
Es ist ein Wettrennen. Denn das Territorium, das es zu erobern gilt, liegt genau in der Mitte.

Wer gewinnt?
Das ist nach wie vor offen. Eins ist mir aber wichtig: Das Narrativ, dass Tesla nichts von der Kohlenstoffwirtschaft verstünde, stimmt nicht. Ein Tesla ist auch als mechanischer Gegenstand sehr ernst zu nehmen.

Lange gab es auf dem Weltmarkt den Zweikampf zwischen Volkswagen und Toyota, gibt es jetzt einen Dreikampf? Oder werden wir zukünftig von Akteuren überrascht, die heute noch gar nicht als Autohersteller bekannt sind?
Genau deshalb kann ich die Kritik vieler Wolfsburger und Betriebsräte an der Kommunikation von Herbert Diess nicht verstehen. Wenn er ständig über Tesla redet, mag das vielleicht das Ego verletzen, aber es führt kommunikativ dazu, dass Volkswagen auf einer Ebene mit Tesla gesehen wird. Und genau da gehört man hin. Denn man möchte vielleicht gar nicht mehr unbedingt mit Nissan, Toyota, Honda oder GM konkurrieren. Der Respekt beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Ich habe Elon Musk schon dreimal getroffen und ausführlich mit ihm gesprochen: Er nimmt Volkswagen als wichtigsten Konkurrenten weltweit wahr. Klar, da lobt der Zwerg den Riesen …

Wer von den beiden ist der Scheinriese – Tesla oder Volkswagen?
Je nachdem. Technologisch ist Volkwagen der Scheinriese – von den wirtschaftlichen Zahlen her ist es Tesla. Bloß: Umsätze folgen Technologie. Deswegen muss man sehr vorsichtig sein, wenn man sich auf seine wirtschaftlichen Zahlen beruft, weil diese schnell Geschichte sein können.

Was hat Volkswagen auf der Haben-Seite?
Für Wolfsburg steht da unheimlich viel. Der Mittellandkanal ist wichtig, die Autobahn, die ICE-Verbindung, die Nähe zu Berlin, zu Hannover, das Netz der Zulieferer und vor allem der Talentpool, also die Menschen, die etwas von Autos und Software verstehen. Das alles muss Elon Musk gerade in Brandenburg aufbauen. Sie finden keine 40.000 Menschen, die erfolgreich eine Autofabrik betreiben, unter den Lebenskünstler:innen in Kreuzberg. Musk wird versuchen, in Wolfsburg abzuwerben …

… sollte das Volkswagen Angst machen?
Manche werden umziehen, aber die allermeisten eher nicht. Sie haben hier Haus und Familie, sind verwurzelt.

Lösen wir uns von der Mobilität. Es gibt Optimisten, die sagen, Deutschland habe die erste industrielle Revolution verschlafen, aber dann in der Folge die Briten überholt. Und das könnte jetzt bei der Digitalisierung wieder passieren. Geht diese Erzählung auf?
Für mich steckt dahinter ein falsches Verständnis von Statistik. Wenn die Kugel im Kasino sechsmal auf Rot liegen bleibt, bedeutet das nicht, dass danach Schwarz kommt. Die Wahrscheinlichkeit für beide Farben ist bei jedem Versuch gleich hoch. Es sind in unserer Geschichte aufgrund von Technologien ganze Machtzentren verschwunden. Venedig beispielsweise war eine der mächtigsten Republiken der Welt, aber sie haben nicht auf die Hochseeschifffahrt gesetzt. Macht entsteht dort, wo Technologie ist. Und das wird in Zukunft nicht anders sein …

Das Maß aller Auto-Dinge: Elon Musk denkt deduktiv und unheimlich klar, sagt Christoph Keese. Foto: Wikimedia

Wenn wir über die Wirtschaft der USA sprechen, sind das vor allem die GAFAM-Unternehmen, Deutschland ist das Land des Mittelstandes. Kann sich die Weltmarktführerschaft in der Nische in die Zukunft retten?
Ich glaube nicht, dass das deutsche Geschäftsmodell außer Kraft gesetzt wird, weil in ihm eine unglaubliche unternehmerische Energie steckt. In Kontinentaleuropa, Polen vielleicht ausgenommen, sehe ich kein anderes Land, das mehr urwüchsige unternehmerische Energie auf seinem Territorium vereint als Deutschland. Die wichtigere Frage lautet für mich deshalb eher: bleiben die deutschen Großunternehmen wettbewerbsfähig oder verlieren sie zum Beispiel auch durch innerdeutschen Wettbewerb gegen kleinere Unternehmen?

Und die Antwort?
Die Großen werden verstehen und lernen. Nehmen wir zum Beispiel wieder Volkswagen. Früher hat der Schraubenlieferant Schrauben am Werkstor abgeliefert und die eigene Logistik auf dem Werksgelände hat sie ausgepackt und ans Band gebracht. Mittlerweile liefern Dienstleister die Teile sogar vormontiert direkt bis ans Band durch. Und das ist längst noch nicht das Ende der Entwicklung.

Sie setzen auf Outsourcing?
Es ist nicht einzusehen, warum nicht Conti die Montage der Reifen selbst übernimmt. Und wenn man diesen Trend weiterdenkt, muss man auch fragen, warum Volkswagen eigentlich nur eigene Autos produziert und nicht beispielsweise auch den Sion von Sono Motors. Oder noch anders gefragt: warum sollte Volkswagen denn überhaupt noch die Fabrik betreiben? Das klingt vielleicht wie Häresie, aber andere Unternehmen machen es längst vor.

Haben Sie ein Beispiel?
Mich hat mein Besuch bei Paramount Pictures in Hollywood vor einigen Jahren stark beeindruckt. Zu Zeiten von Charly Chaplin haben die alle Mitarbeiter:innen auf dem Campus beschäftigt, vom Beleuchter bis zur Schauspielerin. Und heute? Arbeiten bei Paramount nur noch 500 Menschen. Denen gehören die Studios nicht mehr. Sie sind nicht einmal mehr Produzent der Filme.

Was ist die neue Rolle der Filmstudios?
Sie sind Orchestratoren eines Ökosystems. Das ist eine sehr dankbare und hochprofitable Rolle. So ist es auch im Musikgeschäft. Nehmen Sie Universal …

Das große Selbstbewusstsein dieser Stadt und Arbeiterschaft, auch der Wohlstand sind eine Folge der gegenteiligen Strategie …
Das stimmt, aber in dieser Argumentation steckt die Annahme, dass Outsourcing immer mit Lohnverlust einhergeht. Das war in der Vergangenheit so, könnte zukünftig aber ganz anders sein. Vielleicht bekommen externe Mitarbeiter:innen dann sogar mehr Geld.

In einem Interview haben Sie kürzlich die Situation der Zulieferer beklagt …
Im Laufe der letzten Jahre wurde viel Risiko in ihre Richtung verlagert. Was bedeutet das? Wenn Sie die Innenverkleidung hinten links hergestellt haben, dann gab es vor 20 Jahren von Volkswagen eine Abnahmegarantie für eine bestimmte Menge sowie einen Entwicklungskostenzuschuss. Teilweise hat Volkswagen die Entwicklung sogar selbst bezahlt …

… das klingt nach Vergangenheit!
Ja, die Entwicklungskosten müssen Sie als Lieferant heute selbst bezahlen. Und Sie bekommen keine Garantien. Das heißt, das wirtschaftliche Risiko liegt anders als früher nicht mehr ausschließlich bei Volkswagen, sondern zu einem wachsenden Anteil bei den Tier-One-Lieferanten. Und die geben es weiter an Tier-Zwei, Tier-Drei und so weiter. Und wozu führt das?

Zu weniger Innovation …
Absolut. Die Tier-One Lieferanten haben in der Vergangenheit versucht, möglichst komplette Lösungen zu verkaufen, beispielsweise die vollständige Beleuchtungs- oder Bremsanlage. In die Gegenwart übertragen wäre es eigentlich logisch, wenn beispielsweise Bosch das komplette Modul Autonomes Fahren übernehmen würde, aber das passiert nicht und die gesamte deutsche Industrie steckt hier in einer Klemme.

Wenn Deutschland tendenziell das Land der Reformer und nicht der Revolutionäre ist, möchte man vielleicht auch lieber weiterentwickeln, anstatt zu zerstören und disruptiv zu innovieren …
Einige der erfolgreichsten Disruptoren sind Deutsche, Peter Thiel und Alex Karp beispielsweise. Aber sie haben Recht, die Kultur spielt eine Rolle – als Summe der Regeln, die in einem jeweiligen Referenzrahmen gelten. Kann man alles ändern, ist aber schwierig, weil das heutige System Gratifikationen verteilt und sehr auskömmlich ist.

Können Sie das konkreter machen?
Natürlich verdient die S-Klasse allein mit ihrem Schiebedach und Entertainmentsystem mehr, als der Sion mit der kompletten Baureihe jemals verdienen wird. Warum sollte ich jetzt also anfangen, solche Mini-Autos zu bauen, die A-Klasse immer kleiner machen oder sogar Car-Sharing anbieten? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: die Strategie von Ola Källenius, Mercedes zu einer Art Gucci der Autoindustrie zu entwickeln, ist wirtschaftlich absolut schlüssig – aber das macht sie nicht automatisch zur innovativsten in Sachen Geschäftsmodell.

Im Hinblick auf die Politik haben Sie gefordert: „Wir sollten besser auf die Schlaglöcher als auf die Funklöcher schauen.“ Wie bewerten Sie den aktuellen Fokus der Ampel-Koalition?
Das Ministerium für Digitales und Verkehr liegt jetzt bei Volker Wissing. Was vor ihm liegt, ist eine Herkulesaufgabe. Ob er dafür persönlich geeignet ist? Ja. Wahrscheinlich ist er der klügste Verkehrsminister, den wir seit langer Zeit haben. Daneben haben wir noch die Digitalisierung des öffentlichen Sektors, das ist eine Querschnittsaufgabe und das dickste Brett.

Ist es erklärbar, warum man im Jahr 2022 immer noch persönlich zur Zulassungsstelle fahren muss, um ein Auto anzumelden?
Ich vermute, es liegt daran, dass die Ämter Flächen an die Schildermacher vermieten. Auf diesen Einnahmestrom möchte der Stadtkämmerer nicht verzichten und deswegen mutet er uns allen zu, was wir tagtäglich in den Zulassungsstellen erleben.

Noch mehr genervt sind Sie persönlich von Gas- und Stromablesern …
Noch immer hat der Bund die Durchführungsverordnung zur Zulassung digitaler Ablesegeräte nicht zugelassen. Die private-equity-besessene Ableseindustrie lacht sich derweil ins Fäustchen. Sie gilt als besonders attraktiv, weil sie so innovationsfern ist. Stellen Sie sich das vor: Man hat einen Zettel an der Haustür: „Seien Sie Montag von 8 bis 18 Uhr da, der Ableser kommt.“ Und wenn Sie nicht da sind, wird geschätzt – meistens zu Ihrem Nachteil. Das ist doch absurd!

Sie gehen sogar einen Schritt weiter und sagen, dass die meisten Unternehmen zwar behaupten, der Kunde würde im Mittelpunkt stehen. In Wirklichkeit nerven die Unternehmen uns aber, anstatt uns ernst zu nehmen …
Ja, genau. Man könnte jetzt zynisch sagen, dass die Vorstandsverträge und -gehälter im Mittelpunkt stehen, aber bestimmt nicht der Kunde.

Das müssen Sie erklären!
Die beeindruckendsten Unternehmer:innen sind Menschen, die überhaupt nicht in solchen Kategorien, wie „mein persönliches Einkommen“ denken. Die wollen ein konkretes Problem lösen, oft sind es Tekkies. Und wenn das geschafft ist, werden sie unermesslich reich und man unterstellt ihnen dann häufig, sie hätten es nur des Geldes wegen gemacht. Dabei war das lediglich ein kollateraler Effekt. Dazu müssen wir nicht in die USA schauen. Nehmen Sie Biontech, die Gründer:innen haben zehn Jahre lang an der mRNA-Technologie geforscht, aber sicher nicht in erster Linie, um reich zu werden.

Ein großer Innovationstreiber dürfte die Nachhaltigkeit werden. Zumindest in der öffentlichen Debatte gibt es hier zwei Lager – das Team Technologie, das überzeugt ist, dass wir uns nicht einschränken müssen und der Fortschritt die Lösung bringt, und das Team Verzicht, das eher auf politische Rahmenbedingungen setzt und Fortschritt nur als einen Baustein sieht …
Ein Teil dieses Lagerdenkens ist der Perspektivwechsel von der Mikro- zur Makroebene. Historisch gesehen wird die Technik es lösen. Das kommt aber nicht von allein, sondern es muss auf der Mikroebene Menschen geben, die Innovationen angehen.

Welche Rolle sehen Sie beim Gesetzgeber?
Er sollte Rahmen setzen, in denen wirtschaftliche Tätigkeit attraktiv wird. Das beste Beispiel hierfür ist der Glasfaserausbau in den ländlichen Regionen. Was hat es dazu für Gipfel im Kanzleramt gegeben. Und was passiert seit kurzem? Privatinvestoren überschlagen sich und kämpfen darum, die Dörfer erschließen zu dürfen. Denn Glasfaser ist genauso gut, wie das Geschäft mit Autobahnen oder Gasleitungen, Wasserleitungen, Müllverbrennungsanlagen und jetzt passen auch die Rahmenbedingungen. Vorher hatte die Politik einige Dogmen aufgestellt, die in sich logisch waren, aber es gab keine gemeinsame Lösungsmenge mehr.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ich bin in der Flüchtlingshilfe engagiert: Wir haben einer siebenköpfigen Familie aus Syrien geholfen. Das eine Amt sagte, vollkommen zurecht, dass eine Wohnung für sieben Personen eine Mindestgröße haben muss. Und das andere Amt sagte, dass pro Kopf nur eine bestimmte Mietsumme ausgegeben werden darf. Auch logisch. Nur heißt das im Ergebnis, dass Sie die Menschen um Berlin herum nicht unterbringen können. So etwas passiert, wenn der Politik die holistische Perspektive fehlt.

Sehen Sie in der aktuellen Regierung Holistiker?
Ja, Habeck und Baerbock beispielsweise, Lindner, auch Wissing, Scholz. Das stimmt mich zuversichtlich. Wenn die Regierung den richtigen Lösungsrahmen bereitstellt, zieht der Markt von allein nach. Denn Geld ist im Überfluss vorhanden.

Kommen wir noch einmal zurück zur Nachhaltigkeit …
Sie ist der Grund, warum Elon Musk ein Elektroauto entwickelt hat. Wenn Sie ihn fragen, wie er denkt, sagt er zwei Worte: „First Principle!“ Das ist das englische Wort für deduktives Denken. Wer analogisch denkt, sagt, der Diesel hat sich immer gut verkauft, also wird er das auch zukünftig tun. Aber wir alle wissen, dass der Verbrennungsmotor aus zwei Gründen nicht zukunftsfähig ist: Der Brennstoff geht zur Neige und die Atmosphäre erwärmt sich. Hier wird Musk übrigens oft missverstanden. Er hat nie gesagt,
dass das Elektroauto sich in den 2020er-Jahren durchsetzen wird, sondern lediglich, dass es passiert. Und zwar aus dem ganz simplen Grund, dass das andere nicht geht. Das ist deduktives Denken.

Führt das auch zum autonomen Fahren?
Die Autoindustrie lebt von dem Glauben, dass Fahren Spaß macht und unterscheidet nicht zwischen Fahren und Lenken. Lenken macht Spaß, sonntagmorgens allein auf einem Berggipfel oder auf einer Küstenstraße ohne Verkehr. Das ist es auch, was wir in der Autowerbung sehen. Aber die Wirklichkeit? Sie stehen bei Schneeregen im Dauerstau vor Ratingen, Ihr Handy brummt und Sie dürfen die wichtige Nachricht nicht beantworten, weil das verboten ist. Das ist Fahren und niemand braucht es!

In 15 Jahren gibt es die Schlachthöfe von heute nicht mehr: Auf dem Foto sind vegane Burger des Herstellers Beyond Meat zu sehen. Foto: Jonathan Young

In einem Video im Netz kritisieren Sie, wie wir gegenwärtig tierische Nahrungsmittel erzeugen. Deduktiv gedacht – wie vegetarisch wird unsere Zukunft?
Wir sind Viel- oder Allesfresser. Und First-Principle-Denker predigen selten Verzicht, sondern suchen nach Lösungen, die menschliche Bedürfnisse akzeptieren. Während wir uns in Deutschland mit Tönnies rumschlagen, wurde andernorts Beyond Meat entwickelt. Das ist für mich sehr nah an Fleisch dran und natürlich gibt es mittlerweile auch ein paar deutsche Unternehmen, die vegane Alternativen anbieten. Zusätzlich werden wir künstlich erzeugte Muskelzellen bekommen, hier ist das deutsche Unternehmen Merck relativ stark unterwegs. Meine Prognose: In 15 Jahren gibt es die Schlachtfabriken von heute nicht mehr.

Der große Diesel, ein ordentliches Steak – sind das nicht Errungenschaften, die gerade die Unternehmerschaft liebgewonnen hat? Oder anders gefragt: Kann man eigentlich persönlich konservativ und zugleich unternehmerisch Innovator sein?
Natürlich, das geht. Aber ich teile Ihre Beobachtung und mein persönlicher Stil ist ein anderer. Ich lebe nach Athur Rimbauds „Il faut être absolument moderne“.

Financial Times, Welt am Sonntag, immer noch Springer – zumindest von außen betrachtet sind das durchaus konservative Umfelder …

Ich habe das selbst nie so und mich eher als progressiv empfunden.

Die Taz hat einmal geschrieben, dass Sie in einem Fragebogen angegeben hätten, statt Journalist wären Sie auch gern Reformer geworden. War das, bevor Sie Revolutionär geworden sind?
(lacht) Damals war ich wohl so naiv zu glauben, dass es Reformer gibt. Es gibt ja auch keinen politischen Beobachter, das sind Journalist:innen. Und beim Reformer ist es ähnlich – das sind entweder Unternehmer:innen oder Politiker:innen. Ich habe mich für die Wirtschaft entschieden.

Letzte Frage: Wen außer Christoph Keese sollten Unternehmer:innen lesen, wenn sie sich näher mit Innovation und Digitalisierung beschäftigen wollen?
Gute Frage. Dazu gehört sicher Frank Thelen mit der „10xDNA“, hier geht es um großes Wachstum. Dann finde ich „Follow The Pain“ von Josef Brunner sehr stark, er ist einer der bekanntesten deutschen Investoren. Am meisten lese ist aber Bücher über Wissenschaft, zum Beispiel ein Buch des Steve Jobs-Biographen Walter Isaacson über Jennifer Doudna, die 2020 den Nobelpreis für Chemie für die Genschere erhalten hat. Ich würde immer Bücher über Technologie empfehlen, denn unsere Zukunft ist eine technologische Zukunft!

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